Akademische Lebenswelten

Ein Sammelband öffnet die Universitätsgeschichte für kulturhistorische Fragestellungen

Von Mathis LeibetsederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathis Leibetseder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die frühneuzeitliche Universitätskultur ist von sozialen Praktiken geprägt, die uns oft rätselhaft und unverständlich erscheinen. Zu den bekanntesten gehört die Deposition, ein Initiationsritual, durch welches die Erstsemester in die Gemeinschaft der Studenten aufgenommen wurden. Die Aufzunehmenden wurden dabei mit symbolischen Mitteln in den Zustand eines Tiers versetzt, verhöhnt und verspottet. Anschließend wurden sie mit Folterinstrumenten bedroht, wobei die Grenze zwischen Gewaltandrohung und -ausübung nicht selten überschritten wurde. Zuletzt erhielten sie dann die ,Absolution‘, indem ihnen Salz und Wasser dargereicht wurde.

Solche Praktiken, die die Lebenswelten von Studenten und Professoren während der Frühen Neuzeit stark prägten, wurden von der Universitätsgeschichte lange vernachlässigt. Während die Lebenswelten der Studenten in Mittelalter und Moderne schon vor Jahrzehnten das Interesse von Historikern auf sich zogen, blieb die frühneuzeitliche Universitätsgeschichte institutionen- und geistesgeschichtlichen Fragestellungen verhaftet. Erst in den letzten Jahren gewinnt auch die Kultur- und Alltagsgeschichte der frühneuzeitlichen Universität an Attraktivität, was nicht zuletzt einer allgemeinen Hinwendung zu kulturgeschichtlichen Themen und Fragestellungen zu verdanken ist.

Eine Schlüsselstellung kommt dabei bereits seit einigen Jahren dem Sonderforschungsbereich 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Spätmittelalter bis zur französischen Revolution“ an der Universität Münster zu. Namentlich Barbara Krug-Richter und Ruth-E. Mohrmann regten eine Reihe einschlägiger Studien an und traten selbst mit solchen hervor. Aus diesem Forschungszusammenhang geht auch der jüngst erschienene Band „Frühneuzeitliche Universitätskulturen“ hervor, der die Ergebnisse einer im Jahre 2004 abgehaltenen Tagung präsentiert.

Wie Krug-Richter betont, fiel es nicht leicht, für diese Tagung überhaupt Teilnehmer zu finden. Dementsprechend reicht die Spannweite der Vortragenden von Magistranden bis zu Experten, die bereits seit langen Jahren das Feld der Universitätsgeschichte bestellen. Entstanden ist sind insgesamt vierzehn Beiträge, die die Herausgeberinnen geschickt arrangiert haben. So unterschiedlich die einzelnen Aufsätze in ihrer thematischen und räumlichen Ausrichtung auch sein mögen, so wird der Faden doch nicht selten dort aufgenommen, wo er im vorausgegangenen Beitrag fallen gelassen wurde.

Die ersten Beiträge nähern sich der Rahmenthematik über den Körper der Studenten beziehungsweise körperbetonte Praktiken. Herman Roodenburg hebt in einem noch stark der Vortragsform verhafteten Aufsatz hervor, dass es bei der akademischen Erziehung in der fraglichen Epoche nicht so sehr um Wissenserwerb als um das Einüben bestimmter Verhaltensideale gegangen sei. Der Adel als dominierende Gesellschaftsschicht gab die Richtung vor. Eine dieser Praktiken, das studentische Fechten, untersucht im Anschluss daran Elke Liermann. Sie zeichnet nach, wie das allmähliche Aufkommen des gelehrten Fechtens nach italienischer Schule den Studenten eine Möglichkeit eröffnete, ihre Männlichkeit in der städtischen Öffentlichkeit in Szene zu setzen. Eine geschlechtergeschichtliche Perspektive verfolgt auch Alexandra Shepard in ihrer Untersuchung studentischer Lebenswelten in Cambridge, unterzieht namentlich das Spannungsverhältnis zwischen den patriarchalischen Strukturen der Universität und den Normenverstößen der Studenten einer näheren Betrachtung. Aufgrund einer „hegemonic masculinity nurtured within early modern English universities“ seien Regelverstöße letztlich aber nur vordergründig gegen diese Strukturen gerichtet gewesen, hätten tatsächlich aber dazu beigetragen „young men into modes of male exclusivity and the normative conduct claimed by the patriarchal elite“ einzuführen.

An geschlechtergeschichtliche Fragestellungen schließt sich die Frage nach der ,Vergesellschaftung‘ der Studenten an. Geselligkeit, Gemeinschaftsbildung und Genossenschaft könnten als Leitbegriffe für diesen Themenkomplex benannt werden. So zeigt etwa Tina Braun, wie Musik und Tanz von Freiburger Studenten im städtischen Raum eingesetzt wurden, um mit anderen Junggesellen zu konkurrieren, die eigenen Standesqualitäten hervorzuheben und Kontakte zu ledigen Frauen herzustellen. Hervorzuheben ist aber insbesondere Ulrich Rasches hier kaum zu würdigende siebzig Seiten umfassende Tour de Force. Darin wird die These entfaltet, dass Studenten in den deutschen protestantischen Universitätsstädten einem „doppelten miteinander konkurrierenden Disziplinierungsdruck ausgesetzt“ gewesen seien, nämlich „einem inneren genossenschaftlichen, der für die Konsistenz und die permanente Erneuerung seiner Gemeinschaft unverzichtbar war, und einem obrigkeitlichen, der zwar über die Universitäten vermittelt wurde, aber nicht allein von ihnen ausging.“ Rasche zeichnet nach, wie namentlich die genossenschaftlichen Rituale zunehmend ins Fahrwasser des disziplinierenden frühneuzeitlichen Staates gerieten, wodurch die studentische Autonomie nach und nach ausgehöhlt wurde. Im 18. Jahrhundert sei dann zunehmend „eine Art Selbstzivilisierung und Selbstdisziplinierung im Sinne des bürgerlich-aufgeklärten Wertesystems“ an die Stelle der genossenschaftlichen Disziplinierung getreten.

Die letzten vier Beiträge des Bandes wenden den Blick schließlich der Professoren- und Gelehrtenkultur zu. Marian Füssel zeigt auf, dass die Kleidung der Professoren ein Moment darstellte, das zur „Etablierung sozialer Ordnung“ genauso beitrug wie zu ihrer Geltung im öffentlichen Raum der Stadt. So führt er etwa mehrere Belege dafür an, dass Professoren im öffentlichen Raum nur dann Ehre erwiesen wurde, wenn sie standesgemäß gekleidet waren. Nach dem Verhältnis von Professoren- und Gelehrtenkultur fragt schließlich Gabriele Jancke anhand einer Fallstudie zu Abraham Scultetus. Sie stellt heraus, dass Scultetus weniger die Universitäten als die Haushalte anderer Gelehrte als Orte der Gelehrtenkultur darstellte. Ihre Überlegungen, das gelehrte Gespräch vor dem Hintergrund des Gabentauschs zu interpretieren, erweisen sich als besonders erhellend.

Die in der Einleitung von Krug-Richter geforderte „kulturhistorische Perspektive, die das Alltagsleben von Studenten und Professoren, die Konstitutions- und Konstruktionsprozesse eines akademischen Standes, die Selbst- und Fremdwahrnehmungen von Gelehrten und Studenten oder aber die Rolle symbolischer Handlungen für die akademische Identitätsstiftung in den Blick nimmt,“ wird von den Beiträgen überwiegend eingelöst. Insgesamt bietet der Sammelband daher zahlreiche Anknüpfungspunkte für weiterführende Untersuchungen zur frühneuzeitlichen Universitätskultur. Mit der Rolle der Männlichkeit im universitären Umfeld, der Vergesellschaftung der Studenten sowie der Konstituierung und Konstruktion der Professoren- und Gelehrtenkultur kristallisieren sich erkenntnisleitende Fragestellungen heraus. All jenen, die sich wissenschaftlich mit universitätsgeschichtlichen Fragestellungen auseinandersetzen, sei der Band daher nachdrücklich empfohlen.

Titelbild

Barbara Krug-Richter / Ruth-E. Mohrmann (Hg.): Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa.
Böhlau Verlag, Köln 2007.
315 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-13: 9783412229061

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