Wie dunkle Kerzen: Zeugnisse aus einer vernichteten Welt

Verschiedene Publikationen beschäftigen sich mit Quellen und Bildern aus der Geschichte der Shoah in Wilna

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wilna galt wegen seiner reichen jüdischen Kultur als das „Jerusalem Litauens“. Im Zweiten Weltkrieg marschierte am 19. September 1939 die Rote Armee in Wilna ein und übergab das eroberte Gebiet wenige Wochen später den Litauern. Erste Pogrome begannen, deren Häufig- und Heftigkeit sich unter der Herrschaft der Deutschen ab dem 24. Juni 1941 steigerten. Von Juli 1941 an begannen die „Aktionen“ genannten systematischen Ermordungen der Juden im nahe gelegenen Wald Ponary. Hier wurden die Juden erschossen und in Massengräbern verscharrt. Im September 1941 wurden zwei Ghettos eingerichtet, von denen eines bereits einen Monat später wieder aufgelöst werden konnte. Anfang Juli 1941 wurde der sogenannte „Judenrat“ eingerichtet, das übliche Instrument der Deutschen für die Ausbeutung und Vernichtung der Juden. Anfang 1942 wurde die jüdische Wilnaer Widerstandsorganisation FPO („Fareinikte Partisaner Organisatzije“, also „Vereinigte Partisanen-Organisation“) gegründet, die zunächst in relativ gutem Kontakt mit dem Judenrat stand, ab dem Frühjahr 1943 aber zunehmend in Konflikt mit diesem geriet. Drei Monate nach Heinrich Himmlers Befehl zur Auflösung der Ghettos im Osten wurde das Ghetto Wilna aufgelöst, nur 80 Juden wurden zurückbehalten, um die Massengräber von Ponary wieder zu öffnen und die Leichenreste zu verbrennen. Als Wilna am 13. Juli 1944 von der Roten Armee befreit wurde, lebten noch circa 2.000 bis 3.000 der ursprünglich 75.000 Juden.

Die Quellenlage zum Ghetto Wilna ist ungewöhnlich gut und multiperspektivisch. Es gibt Berichte von überlebenden Juden, wie beispielsweise den von Mascha Rolnikaite, aber auch eine außergewöhnliche Außenperspektive, nämlich die geheimen Aufzeichnungen des polnischen Journalisten Kazimierz Sakowicz, der in Ponary wohnte und der seine Beobachtungen bei den Massenerschießungen schriftlich festhielt. Vorgestellt werden sollen hier eine Gesamtdarstellung von Gudrun Schroeter, die eine Vielzahl von nur schwer zugänglichen Zeugnissen aus dem Ghetto verarbeitet hat, sowie zwei autobiografische Neuerscheinungen. Die eine ist von einer ehemaligen jüdischen Wilnaer Partisanin, Rachel Margolis, die andere von dem Künstler Samuel Bak, der bereits als Kind im Ghetto zu zeichnen und zu malen anfing. Sein künstlerisches Werk wird von zwei Neuerscheinungen vorgestellt und interpretiert, die ebenfalls noch genauer betrachtet werden sollen.

Worte aus einer zerstörten Welt

Gudrun Schroeter erzählt die Geschichte des Ghettos von Wilna. Das Vorhaben ist löblich, da die einzige – und darüber hinaus sehr gute – Monografie hierzu, „Ghetto in Flames“ von Yitzhak Arad, nach wie vor nicht in deutscher Übersetzung vorliegt. Sie versucht, die Historie des Ghettos aus der Binnenperspektive zu schreiben, verwendet also Texte und Dokumente von Ghetto-Insassen als Quellen; so beispielsweise die Ghetto-Chronik von Hermann Kruk, die Tagebücher von Yitskhok Rudashevski, Zelig Hirsz Kalmanovitsh, Ruth Leymenzon-Engelshtern, Lieder von Rikle Glezer und Shmerke Kaczerginski und das im Ghetto entstandene dichterische Werk von Avrom Sutzkever. Im Ghetto publizierte Zeitungen und hier gehaltene Vorträge gehen ebenfalls mit in ihre Darstellung ein. Man sieht, dass ihre Quellen vorwiegend aus dem Bereich kultureller, vornehmlich literarischer, Produktion stammen. Frieda W. Aaron stellte bereits fest, dass unter dem Eindruck der Bedrohung der Output der literarischen Produktion angestiegen sei. Dichtung sei am beliebtesten gewesen, weil diese Bewusstseinszustände besonders gut wiedergeben könne und weil eine Form der Darstellung benötigt worden sei, die über die bloße Wiedergabe von Fakten hinausgeht. Aus der Tatsache umfangreicher kultureller Produktion meint Schroeter einen ,kulturellen Widerstand‘ machen zu können. Sie geht von der Prämisse aus, „dass das Schreiben im Ghetto an sich eine Form widerständigen Verhaltens war“. Sie bemüht sich um eine „Erweiterung des semantischen Begriffsfelds von Widerstand“ und möchte deswegen verschiedene Praktiken miteinbeziehen, so beispielsweise die „religiösen Prinzipien Kiddush haShem [Heiligung des göttlichen Namens] und Kiddush haChayim [Heiligung des Lebens]“, denen es – erfolgreich – um den „Erhalt menschlicher Würde“ gegangen sei.

Man kann dies tun – wenn man Begriffe eindeutig definiert und wenn alle Beteiligten bereit sind, den ausdifferenzierten Begriffsgebrauch zu reflektieren. Aber gerade hier zehren auch exakt gefasste Neudefinitionen vom ursprünglich enger gefassten Begriff „Widerstand“. Auch wenn Überlebende ihre Beschäftigtung mit Literatur als Widerstand erlebten, – das Wort „Widerstand“, so gibt Lawrence L. Langer zu bedenken, ist mit einer bestimmten Wertung aufgeladen und suggeriert Resultate im Kampf gegen die Vernichtung. Die Rede vom „kulturellen Widerstand“ beruhigt vor allem und tröstet. Dass es gelang, die menschliche Würde im Ghetto zu erhalten, ist zweifelhaft. Vielleicht sollte man eher von „kultureller Zeugenschaft“ sprechen. Kunst ist nicht per se Widerstand und war im Ghetto auch nicht als solcher angelegt. Sie ist aber auf jeden Fall ein legitimes Ergebnis des normalen menschlichen Bedürfnisses, die Bedeutung der eigenen Erfahrung zu interpretieren. Die Bedingungen im Ghetto, so Schroeter, stellten neue Herausforderungen an die Vorstellungskraft. Der alltäglich erfahrene Wahnsinn musste erst einer neuen Formgestaltung unterworfen werden, um Verstehen zu ermöglichen. Ein neues Verhältnis von Realität und Fiktion musste erst gefunden werden. Denn Repression und Gewalt „zerrissen die Kontinuitätsketten des Alltags und die alltägliche Erfahrung von Zeit und Kausalität“. „Die Nationalsozialisten lösten normativ gültige zivilisatorische Gesetzlichkeiten auf und verkehrten sie in ihr Gegenteil“, sie beschleunigten und verwirrten das Leben ihrer Opfer durch eine Flut ständig neuer Verordnungen. Es wäre schön, wenn Schroeter zu der gar nicht so sehr versteckten These, dass manche literarische Produktion besser geeignet sei, die Shoah adäquat zu fassen, mehr Material zusammengetragen und dann besser zugespitzt hätte.

Schroeters Studie scheint geeignet zu sein, die abfälligen Äußerungen mancher Kulturkritiker über die kulturelle Betätigung in Ghettos und Lagern zu widerlegen. Bei allem schon erwähnten Vorbehalt gegen Formeln wie „geistiger Widerstand“ belegen ihre Ausführungen im fünften Kapitel den Nutzen kultureller Betätigung fürs Überleben. Historiografisch bietet sie nichts Neues, kann sie Arads „Ghetto in Flames“ auch nicht ersetzen, aber ihr kommt das Verdienst zu, eine Masse von nur schwer zugänglichen und obendrein nicht übersetzten Quellen und künstlerischen Sammlungen dem deutschen Publikum zugänglich zu machen.

Als Partisanin in Wilna

Die Bedeutung von kultureller Aktivität bestätigt auch der autobiografische Bericht von Rachel Margolis, der unter anderem von Gudrun Schroeter kommentiert und herausgegeben wurde. Margolis engagierte sich schon früh in linken und zionistischen Kreisen, die gleich nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen klandestin wurden, und konnte sich bis Ende 1941 außerhalb des Ghettos verstecken. Die Möglichkeit, aufs Land zu fliehen, schlug sie im Dezember 1941 mit einer bewussten Entscheidung zum Widerstand im Inneren des Ghettos aus. Sie war Mitglied der FPO und arbeitete im Ghetto-Krankenhaus sowie in der Ghetto-Bibliothek. Im September 1943 verließ sie unter Schuldgefühlen ihrer Familie gegenüber das Ghetto und wurde Partisanin in den Wäldern von Rudninkai. Nach dem Krieg studierte und promovierte sie und gründete als Rentnerin das Jüdische Museum von Wilna. 1990 veröffentlichte sie die schon erwähnten „geheimen Notizen“ von Kazimierz Sakowicz.

Wie viele Überlebenden flüchtete sie nach dem Krieg zunächst vor ihren Erinnerungen, und wie die meisten schrieb sie sie dann doch nieder, um mit ihrer Vergangenheit fertig zu werden, und „weil ich glaube, dass es meine Aufgabe ist, an die Ermordeten zu erinnern. Sie werden leben, solange die Erinnerung an sie lebendig ist.“

Ihren Bericht durchzieht – wenig überraschend – ein heftig depressiver Grundton. Ihre immer wieder geäußerte Gewissheit, dass sie sowieso bald sterben oder ermordet würde, ihre Haltung, nur von einem Tag zum nächsten zu leben und nicht mehr an die Zukunft zu denken, wird aber auch immer wieder überraschend kontrastiert: Der Gedanke an einen nahen Tod wurde verdrängt; nicht über die Zukunft nachzudenken könnte dafür nützlich sein, sich an dem zu erfreuen, was man jetzt hat. Sterben wollte sie aber „auf keinen Fall“ und ging davon aus, dass sie „irgendwie schon zurechtkommen“ würde. Bei den Partisanen ließ sie zum ersten Mal den Gedanken zu, dass sie (über-)leben würde und eine Zukunft haben könnte.

Weil ihre Todesgewissheit überwog, hatte sie zunächst kein Verständnis für Hermann Kruks Bemühungen, eine Ghetto-Chronik zu verfassen. „Erst nach der Befreiung verstand ich die Bedeutung dieser Dokumente.“ Der Direktor der stark frequentierten Ghetto-Bibliothek sprach sich gegen kulturelle Veranstaltungen im Ghetto aus: Ein Friedhof sei kein Ort fürs Theater. Aber Margolis kann bestätigen, dass kulturelle Betätigung zwar der Ablenkung und der Zerstreuung dient, aber damit eben auch hilft, die Situation besser zu verkraften, sie zu deuten und Kraft für ,richtigen‘ Widerstand zu schöpfen.

Zu sagen, dass solch ein Bericht einen über weite Strecken langweilen kann, mag einen mit Scham erfüllen, doch ist dies bei Margolis leider der Fall. Man kann versuchen, dem auszuweichen, indem man sich hinter den Worten eines anderen Überlebenden versteckt, und zwar hinter denen von Jorge Semprun, der in „Schreiben oder Leben“ moniert, dass „bloße Informationen, mögen sie für die Transparenz eines Berichts noch so notwendig sein, mich nie begeistert“ haben. Der Bericht eines anderen Überlebenden, den Semprun nach dem Krieg traf, war für ihn „verworren, konfus, weitschweifig, blieb in Einzelheiten stecken, es gab keine Gesamtübersicht, alles stand in derselben Beleuchtung“. Margolis’ Bericht ist chronologisch wohlgeordnet, doch häufig eine Wiederholung: das Leben war hart, man fror, hungerte, weinte und hatte Angst; ein Waldlager folgt dem nächsten.

In Worte gemalt

Ähnlich wie Semprun äußerte sich auch der Maler Samuel Bak. In einem Brief an den New Yorker Galeristen Joachim Jean Aberbach vom Mai 1974 erklärte er, dass ihm Dokumente, Filme und Erinnerungen beredsamer scheinen als die Werke eines Malers. „Und doch erreichen sie selten mehr als nur ein schwaches Echo der Realität, die sie beschreiben.“ Was Baks Bilder vermögen und ob sie mehr vermögen als geschriebene Erinnerungen, dazu später mehr; zunächst zu seiner Autobiografie.

Bak wurde am 12. August 1933 in Wilna geboren. Unter der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944 lebte er teilweise im Ghetto. Das Wort mag unangebracht sein, aber seine Kindheit hat etwas Sagenhaftes an sich. Die damals schon berühmten Dichter Avrom Sutzkever und Schmerke Kaczerginski gaben ihm, dem Achtjährigen, 1942 den Pinkas, ein altes dickes Buch, in dem seit langer Zeit die Chronik der Juden Wilnas aufgezeichnet wurde. Sutzkever hatte ihn aus den Trümmern der großen Synagoge gerettet. Bak sollte Papier zum Zeichnen und zum Malen haben. Nach der Liquidierung des Gettos im September 1943 wurde Bak mit seinen Eltern im HKP (Heereskraftfahrpark) Arbeitslager interniert. Weil seine Eltern ihn versteckten, konnte er der so genannten „Kinder-Aktion“ vom 27. März 1944 entgehen. Aber der Pinkas ging dabei verloren, und es sollte fast 60 Jahre dauern, ehe Bak ihn wiedersah. Wenige Tage vor der Befreiung durch die Rote Armee im Juli 1944 wurde sein Vater ermordet. Sein „süßes Rachegefühl“ beim Anblick toter deutscher Soldaten wenige Wochen später verhehlt Bak nicht. Mit seiner Mutter verließ er Osteuropa und lebte von 1945 bis 1948 in einem Lager für Displaced Persons im bayerischen Landsberg am Lech. 1948 emigrierte er nach Israel. Von Mitte der 1950er- bis Mitte der 1990er-Jahre führte er ein unstetes Leben, wohnte in Paris, Rom, New York, der Schweiz und immer wieder in Israel. Ironisch bezeichnet er sich selber als „ewig wandernden Juden“. Erst 1993 ließ er sich in der Nähe von Boston nieder.

„In Worte gemalt“ vereint und ergänzt viele bislang veröffentlichte Fragmente seiner Autobiografie, doch ist das Buch trotz seines Umfangs weit entfernt davon, einen kompletten Lebensbericht zu enthalten. Auch hat Bak sich nicht um eine systematische Vita bemüht; – oder vielleicht hat er sich eher darum bemüht, eine Systematik zu vermeiden. Anstelle einer strikten Chronologie springt er immer wieder zwischen verschiedenen Phasen und Themen seines Lebens. Dies deshalb, weil nicht er sich seiner Erinnerung bemächtigt, sondern weil diese zu ihm kommt. Man kann ihm beim Prozess der Erinnerung und ihrer Verfertigung zuschauen. Er führt dem Leser ganz bewusst das vor, was laut Lawrence L. Langer gefilmte erzählte Erinnerungen von Überlebenden geschriebenen voraushaben: Bak zeigt, wie eine Erinnerung aufsteigt, wie er sie aufnimmt und weiter verfolgt oder vor ihr zurückweicht. Damit wird das Problem einer Rahmung der Erinnerung umgangen, die Kontinuität und Folgerichtigkeit gibt, die ein Leben zu einem ganzen fügen könnte – und das heißt eben auch zu einem heilen und sinnvollen Leben. Auch wird der Erzählung der Schein der Unmittelbarkeit genommen. Es wird sichtbar, dass das Erinnerte nicht an sich quasi hinter dem Erzählten besteht, sondern vom Erzähler produziert wird. Zwischendurch reflektiert Bak immer wieder darauf, welche Probleme die Erinnerung ihm bereitet. Er teilt mit, was er erzählt und was nicht, und wo er sich vor seiner eigenen Erinnerung schützt.

Ein Buch, der Pinkas, bildet, wenn auch keinen Rahmen, so doch eine Klammer um Baks Autobiografie. 1966 bereits meldete sich der Direktor des Historischen Museums der Sozialistischen Republik Litauen über die sowjetische Botschaft bei Bak, um ihm zu erzählen, dass der Pinkas gefunden worden sei. Im Jahre 2000 korrespondierte Rimantas Stankevicius, der Rechtsberater des Parlaments von Litauen und ehrenamtlich mit der Erforschung der Juden-Helfer befasst, mit ihm über die legendäre Chronik und schickte ihm eine Kopie.

Der Pinkas muss, so imaginiert Bak, unter den Leichen ermordeter Juden gelegen haben, überströmt von ihrem Blut. Die Nähe dieses Bildes zur christlichen Mythologie, zur organisch vermittelten Magie von Reliquien, gar zur Grals-Sage, ist nicht zu übersehen. Ganz anders als in Chaim Potoks Roman „Mein Name ist Ascher Lev“ ist der Bezug auf christliche Symbolik für Bak kein Problem. Begeht der orthodox jüdisch erzogene Maler Lev in Potoks Roman einen fürchterlichen Sakrileg an seinen Eltern, als er „die brutale Realität eines Kruzifixes“ für eines seiner besten Bilder verwendet, „weil es in seiner eigenen religiösen Tradition keine ästhetische Form gibt, in die er ein Gemälde von höchster Qual und Pein kleiden könnte“, so erinnert Bak sich freimütig, „welche Faszination die Kirchen und Jesus auf mich ausübten“. In seiner Autobiografie gibt Bak auch ausgiebig Auskunft über seine Malerei. Auch wenn er selber sagt, dass es ihm häufig widerstrebe, sich „zu diesen Dingen zu äußern“, weil seiner „persönlichen Erfahrung [nach] die Erklärungen von Künstlern zu ihrem Werk oftmals einengend und irreführend“ seien. Künstler mögen häufig nicht wissen, was sie tun, und öffentliche Äußerungen guter Künstler bleiben häufig hinter der Qualität ihrer Werke zurück, – Bak hingegen weiß, was er sagt und was er tut.

Sein Werk kann man in verschiedene Phasen einteilen. Die Bilder, die in der ersten Phase, im Lager Landsberg (1945-48), entstanden, können in der Tat, wie Eva Atlan schreibt, als „wichtige Augenzeugenberichte“ betrachtet werden von dem, was Bak im Ghetto Wilna widerfuhr. „Gerüchte“ könnte eine verängstigte Menschenmenge im Ghetto zeigen, die Neuigkeiten erörtert und zu deuten versucht. „Kinderakzie“, also „Kinderaktion“, zeigt eine von Schreck gebannte Kindergruppe, die von halb sichtbaren deutschen Soldaten bewacht wird. In „Mutter & Sohn“ ist die Bedrohung auf ein ins Bild ragendes Gewehr reduziert, doch strahlt das Werk höchste Gefährdung aus. „Kinder im Feuer“ zeigt nackte abgemagerte menschliche Gestalten, die in einer flirrenden rot-schwarzen Umgebung stehen und unmittelbar vor der Vernichtung zu stehen scheinen. Dieses Bild war bereits in Israel entstanden und war für eine lange Zeit das letzte, mit dem Bak explizit Bezug auf die Shoah nahm.

In der zweiten Phase (1948-56) malte Bak in Israel vornehmlich Landschaftsbilder und Häuseransichten, die zu einem großen Teil düster sind. In Paris experimentierte er in seiner dritten Phase (1956-59) mit den Stilen des Informel, des Action Painting und des formalen Kubismus. Bak selber sieht diese künstlerische Betätigung inzwischen als Flucht vor der Vergangenheit. Die abstrakte Malerei „erlaubte mir, die schmerzhaften Einzelheiten in erträglicher Distanz zu halten.“ In seiner vierten Phase, in Italien (1959-66), war seine Malerei vom Tachismus und vom Informel geprägt und an den Abstratto Concreto angelehnt. Gegenstand war die Natur. Ab 1964 wurden seine Bilder organischer, gegenständlicher und dreidimensional; ab 1965/66 kehrte er langsam von abstrakten Stilen ab und 1966 kam es zum endgültigen Bruch.

In den folgenden Jahren bildete er seinen persönlichen Stil aus. Er malte zunächst Stillleben von Früchten und häuslichen Gegenständen, die in zeitlose und atopische Landschaften platziert sind. Erste Häuserruinen sind zu finden. Nach und nach tauchen verschiedene ikonografische Elemente auf, denen Bak sich phasenweise obsessiv widmete: der Vogel, Schlüssel und Schloss oder der Junge mit den erhobenen Händen aus dem Warschauer Ghetto. Einige von ihnen, wie die Birne und die Schachfiguren, bilden eigene Zyklen, wie auch die Beschäftigung mit dem Buch Genesis.

Return to Vilna

Die Gemälde, die sich mit Wilna auseinandersetzen, entstanden, nachdem Bak seine ehemalige Heimatstadt besucht hatte. Der schon erwähnte Rimantas Stankevicius machte Bak nicht nur eine Kopie des Pinkas zugänglich, sondern konnte ihn auch zu einer Ausstellung in Wilna bewegen. Die Rückkehr fiel Bak nicht leicht, doch reiste er zwischen Mai 2001 und April 2002 drei Mal nach Litauen. Durch Wilna zu laufen, fühle sich wie ein „surrealer Tagtraum“ an. Die fröhlichen Farben der Stadt bereiteten ihm Schwierigkeiten; Bak fühlte sich, als sei er „unter Außerirdischen gelandet“.

Eine große Anzahl der Wilna-Bilder kann man in „Return to Vilna“ betrachten. Der wie stets gut gearbeite Band erschien dort, wo Baks Kunst seit vielen Jahren verlegt wird, bei „Pucker Art Publications“, dem Verlag der „Pucker Gallery“ in Boston, die auch Baks Kunst selbst präsentiert und vertreibt. Wie bei vorherigen Publikationen, so enthält auch dieser Band einen instruktiven Aufsatz von Lawrence L. Langer und persönliche Erklärungen von Bak.

Mit Langers Aufsatz erhält man einen hervorragenden Einblick in Baks Werk. Hier wird wieder exemplifiziert, warum Baks Werk dasjenige ist, das Langers Anforderungen an Kunst, die den Holocaust thematisiert, am besten entspricht. Auch wenn Bak im Gegensatz zu Langer hin und wieder zu einem universalisierenden Blick auf den Holocaust neigt. Bak widersetze sich allen tröstenden und versöhnenden Tendenzen. Seine Wilna-Bilder seien zwar eine Hommage an eine Vergangenheit – aber an eine verschwundene Vergangenheit. Und die Tatsache, dass sie verschwunden ist, dies werde in Baks Bildern nicht überspielt, sondern thematisiert. Die Bilder seien eher eine „Ausgrabung“ der Vergangenheit, denn eine „Wiedervereinigung“ mit ihr. Bak habe sich auf eine „Heimreise begeben, die kein Haus mehr intakt vorfindet.“ Die Vergangenheit werde nicht wiedergeboren, es werde auch keine kulturelle Kontinuität, keine Verbindung eines Zustandes jüdischen Lebens vor und nach der Shoah suggeriert. Das vernichtete Leben könne man nicht wiederherstellen, aber wenigstens den Tod, respektive dessen Ikonen darstellen und mit einer traditionellen Bildersprache verknüpfen. Die Kerze in „Dark Light“ beispielsweise bringt kein Licht und somit auch weder Wärme noch Hoffnung. Ihr Schaft ist zu einer fragmentierten Säule versteinert, so dass sie eigentlich nicht brennen kann. Ihre Flamme ist schwarz, sofern sie überhaupt eine ist und nicht sofort in eine dichte dunkle Rauchsäule übergeht, die man als eine von Baks wiederkehrenden Bildelementen als Rauchsäule über den Krematorien von Auschwitz kennt.

Treffend bezeichnet Langer Baks Werk als „art of informed mourning“. Die Bilder trainierten das „unschuldige Auge“ und erzögen das kollektive Gedächtnis. Genau dies ist notwendig für die Erinnerung eines Geschehens, das nur schwer dar- und vorgestellt werden kann. Die Gemälde, die sich mit Ponary auseinandersetzen, machen die Probleme erfahrbar, eine Tat sichtbar zu machen, die die Täter und dann folgend Natur, Zeit und Geschichte unsichtbar gemacht haben. In „Under the Trees“ schweben die Bäume, die heute in Ponary stehen, in der Luft und unter ihnen wird der für Baks Bilder typische karge, verworfene Boden sichtbar, in dem Steine stecken, die sich teilweise zu Grabsteinen auszuformen scheinen.

Representing the Irreparable

Die Frage der Darstellbarkeit respektive Nichtdarstellbarkeit der Shoah wird in Baks Werk nicht thematisiert. Nirgends wird das Verbrechen gezeigt. Es geht nicht um das Nicht-Darstellbare, sondern um das Nicht-Wiederbringbare; der Titel des letzten hier besprochenen Bandes, „Representing the Irreparable“, ist also klug gewählt. Wie „Return to Vilna“ so ist auch „Representing the Irreparable“ ein großformatiges Buch, in dem der grafische Teil ungefähr die Hälfte ausmacht. In elf Beiträgen untersuchen Literaturwissenschaftler, Philosophen und Judaisten Baks Werk der oben genannten letzten Phase.

Langer beweist wieder wie beeindruckend fähig er ist, seine Überlegungen den zu deutenden Werken anzuschmiegen. In diesem Band prägt er in seinen unermüdlichen Versuchen, die Tat sowie ihre Darstellung gedanklich abzuschreiten, wieder passende Begriffe: Baks Bildern liege ein „principle of collateral perception“ und ein „collateral mode of thought“ zugrunde. Seinem Werk komme das Verdienst zu, eine Grundlage zu schaffen, um die Katastrophe neu zu sehen. Es inspiriere zu einem Denken von komplexerer Art.

Zu den biblischen Motiven in Baks Bildern hatte Langer sich bereits an anderer Stelle ausführlich geäußert. In „Representing“ übernehmen die anderen Autoren diese Aufgabe. Aber um die Interpretationen zu verstehen, ist es nötig, dass man mit Baks Stil zumindest in den Grundzügen vertraut ist. Erstens erinnert sein Stil teilweise an den Surrealismus, insbesondere an die Gemälde René Magrittes: man sieht irreale Orte und Begebenheiten sowie schwebende Gegenstände. Ebenso erinnern Baks Bilder vom Stil her an Klassiker wie Michelangelo, Rembrandt und Dürer. Bak malt nicht nur wie sie, so dass man meinen könnte, er wolle sie kopieren; er verwendet auch einige ihrer bekannten Motive. Aber es geht ihm nicht, so Bak, um eine „Übung zur Wiederbelebung alter Manierismen“. Gleichzeitig verändert er die Klassiker und verwandelt sie seinem eigenen Sinn an. Bak hat sich zu dieser Eigenart verschiedentlich geäußert. Neben dem „Verlangen […], vom ,Modischen‘ in der Kunst wegzukommen“, und eine unpersönliche Malerei zu schaffen, scheint ihm der altväterlich wirkende Stil die „geeignetste Sprache“, die Erfahrung von Zerstörung, Vernichtung und Wiederanfang als jüdische Geschichte auszudrücken. Der Stil ist aber nicht nur die adäquate Form für Baks Erfahrungen, sondern ist auch an den Betrachter gerichtet. „Unmittelbarkeit und Befremden“ sind das Ziel. Im Kontext der modernen Kunst soll seine altväterlich wirkende Technik Befremden auslösen, das als Mittel eingesetzt wird, „die Leiden frisch zu sehen“.

Zweitens werden diese Klassiker (wie andere Bilder auch) immer wieder neu bearbeitet und variiert. So wird Dürers „Melencolia I“ von 1514 ganz oder teilweise in „Reflecting“, „Seascape with Melancholia“, „Nuremberg Elegy“, „The Traveller“, „Boarding the St. Louis“ und „Angel of Travellers“ verwendet. „Creation“, „Joseph’s Dream“, „Creation of War Time II“, „Adam mit seinem Abbild“, „Adam and Eve“, „In good hands“ und „Open Door“ variieren – ganz oder teilweise – Michelangelos Schöpfung Adams aus den Fresken der Sixtinischen Kapelle. Baks Bilder finden so keinen Abschluss: er produziert immer wieder neue Variationen eines Themas, was, so Langer, auf die Gefahr hinweise und ihr vorbeuge, eine abgeschlossene Bildersprache für einen so schwierigen Gegenstand wie die Shoah zu finden. Sie konnotieren eher, als dass sie ein eindeutiges Statement abgeben, ergänzt Yvonne Sherwood.

Drittens ist in Baks Bildern vieles erstarrt, festgefahren, in Stein gebannt oder gar versteinert. Formationen, die Inhalte bergen, sind ausgehöhlt worden oder sind gerade dabei dabei, zerstörerisch ausgehöhlt zu werden („Pardes“). Oder sie sind zur papierenen Kulisse geworden wie die zahlreichen Häuserwände in Baks Bildern. Vieles befindet sich in Auflösung und ist verwittert. Was von sich aus keinen Halt mehr hat, das wird gestützt oder wurde festgenagelt.

Von hier aus können die Interpretationen in „Representing“ hoffentlich besser verstanden werden. Mehrere der Interpreten stellen eine Beziehung zwischen Baks Bildern und dem Midrash her. Midrash kann zum einen einen bestimmten Bibelvers und dessen Interpretation meinen. Zum zweiten bezeichnet Midrash eine bestimmte Art, einen Bibeltext zu lesen und zu interpretieren. Zum dritten versteht man darunter eine Zusammenstellung von Midrash-Lehren. Bei der Betrachtung von Baks Bildern, so Michael Fishbane, müsse man selber Midrash-artig vorgehen. Außerdem interpretiert Bak in seinen Bildern die biblische, geistesgeschichtliche und künstlerische Tradition immer wieder neu. Bak störe und kritisiere mit seinen Bildern das traditionelle Verstehen von einzelnen Bibelstellen und von theologischen Konstruktionen, so Danna Nolan Fewell & Gary A. Phillips. Er dekonstruiere ehrwürdige Ikonen nicht nur der Bibel, sondern auch der Geistes- und Kunstgeschichte, wie vor allem Dürers und Michelangelos. Er kommentiere ironisch die Tradition von Schöpfung, Katastrophe, Bund und Erlösung. Alicia Ostriker bezeichnet diese Kritik der Geschichte und der gebrochenen Versprechen Gottes als „hermeneutics of suspicion“.

Der Adam in den Michelangelo-Variationen ist versteinert, zur verfallenden Statue geworden. Von ihm bröckelt der Putz ab, die einzelnen Bausteine, aus denen er besteht, werden sichtbar. Arme und Beine sind wie antike Tempel-Säulen von Rissen und Furchen durchzogen. Teile des steinernen Adam fehlen, sind abgefallen. In „Joseph’s Dream“, „Creation of War Time II“ und „Adam mit seinem Abbild“ ist der alte Adam gar nicht mehr da, in „Open Door“ sieht man ihn nur im Hintergrund. Da er hinter einer Wand versteckt ist, ist er nur teilweise sichtbar. An dem Ort, wo er normalerweise sitzt, befindet sich manchmal jemand anders: ein Soldat („Creation“), eine unbestimmbare menschliche Gestalt in langer Unterwäsche („Joseph’s Dream“) oder ein Reisender, der sein weniges Gepäck neben sich stehen hat („Creation of War Time II“).

Von dem dazugehörigen Gott ist nur noch die Hand geblieben, die wie eine Holzsägearbeit aussieht, und an eine Wand („Adam and Eve“) oder an einen toten Baum („Creation“) genagelt wurde. Der Nagelkopf ist rostig und von ihm herab läuft eine Spur Rostwasser, die wie Blut aussieht. Nicht immer treffen sich Adams und Gottes ausgestreckte Hand. In „Adam and Eve“ weisen sie auf unterschiedlichen Ebenen aneinander vorbei. Hier gibt es zwei parallel montierte Hände Gottes: Welches ist die richtige, von der der göttliche Funken überspringt? In „Open Door“ ist die Hand überdimensional groß, ist teilweise aus Stein, geht teilweise aber auch in einen bloßen Umriss über. Der Rest von Gottes Gestalt ist entweder ganz verschwunden („Open Door“) oder nur noch als Umriss vorhanden. Aber dieser Umriss ergibt sich nur negativ: er wird von anderen Dingen gebildet, sei’s von einem Loch in der Wand („Creation of War Time II“), sei’s von abgebröckeltem Putz auf einer Wand („Adam and Eve“). In „Adam mit seinem Abbild“ ist Gott schließlich ganz verschwunden. An seiner Stelle findet sich ein weiterer Adam, aber auf den Kopf gespiegelt.

Ähnlich wie einige von Aharon Appelfelds Romanen zeigen auch Baks Bilder die Folgen von Zerstörung und Verheerung. Aber man sieht keinen Krieg, nicht den Holocaust und auch keine Leichen. Es gibt Bilder von entsetzlicher Zerstörung wie „Terminus“ und „Childhood Memories“, aber die Motivik wird nicht spezifiziert. Jedoch sind seine Bilder so voller Traurigkeit, so vollgesogen von Entsetzen, dass die Tat immer anwesend scheint. Doch sieht man wiederkehrende Elemente: beispielsweise die doppelte Rauchsäule der Krematorien von Auschwitz oder den Davidstern. Weder wollte er „Illustrationen von tatsächlichen Ereignissen malen“, sagt Bak, noch „einfache Botschaften hervorbringen“.

Auch wenn Bak mehrmals betont, dass seine künstlerische Produktion ein unbewusster, intuitiver Akt sei, so ist das Resultat dennoch wie hochgradig intellektuell konzeptioniert. Seine Bilder sind voll von Informationen, von Bedeutungen, Symbolik, Andeutungen, Anspielungen, Verweisen und Zitaten – und voller Verbindungen der einzelnen Elemente. Seine „enzyklopädischen Leinwände“ scheinen, wie Yvonne Sherwood es formuliert, „wortreich zu brabbeln“. Die komplexe Form seiner Bilder, „die eine genügende Menge von metaphorischem Material unterschiedlicher Schichten“ fasst, und „einige innere Widersprüche enthält“, ergibt eine „nie zu eindeutige Bildsprache“, so Bak, die nicht nur eine autorisierte Interpretation verhindert. Seine Bilder sind mit der semantischen Verwirrung, die sie stiften, „Metaphern einer Welt ohne Erklärungen. Meine Malereien tragen keine Antworten in sich, nur Fragen.“ Sherwood sieht hier – und sie scheint es nicht negativ zu meinen – eine „komplexe Wortlosigkeit, die daher kommt, dass zuviel gesagt wird“.

Sie sind, so Bak selbst, wie ein Text: voller Zeichen und Geschichten erzählend. Bei ihnen, ergänzt S. Brent Rodriguez Plate, könnten Sehen und Lesen nicht getrennt werden. Baks Bilder seien solche, die man lesen müsse. In ihnen werde die Welt zum Text. Die verbalisierte, ausformulierte Beschreibung seiner Bilder ist gleichzeitig eine metaphorische Beschreibung eines Zustandes eines bestimmten Sujets, sei’s Gotts, sei’s der Aufklärung, des Menschen oder der Juden respektive Israels. Artikuliert man seine Bilder, so braucht man diese Artikulation nicht mehr auf die Realität zu übertragen, zu der die Bilder ein stummer wenngleich wortgewaltiger Kommentar zu sein scheinen. Beschreibung und Interpretation sind hier nur schwer trennbar. Jede Beschreibung wird automatisch zur Interpretation, ganz ohne dass man sich an die mitunter elende Aufschlüsselung macht, was in einem Bild ,wofür‘ steht.

Die doppelte Rauchsäule zeigt an, dass diese Landschaft eine nach dem Holocaust ist. Nach ihm ist der alte Adam nur noch ein Relikt, eine Ruine. Er liegt in Trümmern oder ist ganz oder zumindest teilweise verschwunden. Auch Gott ist nicht mehr zu sehen. Was von Ihm blieb, das ist nur noch eine Hand. Aber durch sie geht nicht mehr der göttliche Funken auf den Menschen über. Nun könnte sie auf etwas zeigen, und ihr Vorhandensein gibt einen Hinweis darauf, dass mal etwas war, zu dem sie gehört. Gott ist noch weniger zu sehen als Sein Adam. Gibt es Adam noch als Statue, so Gott nur noch als Umriss. Was man von Ihm noch sieht, das ist Seine Abwesenheit. Die Verbindung zwischen Gott und Mensch über die sich berührenden Finger ist abgerissen. Entweder gibt Gott kein Leben mehr oder es gibt keinen Gott mehr, der Leben gibt.

In „Reflecting“ sieht man einen matt gewordenen Regenbogen. Seine einzelnen Farben sind zu getrennten farbigen gebogenen Latten geworden, von denen die Farbe teilweise abblättert, und die einander unordentlich überlappen. In der Mitte ist der Bogen unterbrochen. Auch steht der Regenbogen nicht mehr am Himmel, sondern ist an einen verkümmerten Baum und an diverse stützende Latten genagelt. Unter ihm sitzen zwei Exemplare von Dürers Engel. Ihre Flügel sind blecherne, auf den Rücken montierte Konstruktionen. Man kann sehen, wie sie aus verschiedenen Teilen zusammengenietet sind. Die Flügel werden von Stangen in ihrer majestätischen Positur gehalten.

Offen bleibt, ob Bak damit meint, dass der Mensch nicht mehr der alte Adam ist – oder ob er es nie gewesen ist. Ist Gott verschwunden – oder war er nie da? Trat an die Stelle Seiner Hand eine von Menschen gemachte Konstruktion, die jetzt reichlich schäbig und abgerissen aussieht – oder war Er nie mehr als dies: ein unbestimmtes Etwas, dem die Menschen den Umriss einer menschlichen Gestalt gaben? War der biblische Regenbogen einstmals ein göttliches Zeichen – oder schon immer von den Menschen an den Himmel genagelt? Waren die Engel einst Engel – oder schon immer nur Menschen, die sich ein merkwürdiges Gerät auf den Rücken schnallten, dessen Anblick einem nur eines offenbart: dass man damit keinesfalls fliegen kann?

Der Unterschied der Deutung wäre einer ums Ganze: Entweder zeigt sich die Welt nach dem Holocaust endlich als das, was sie immer schon war: bar jeder Göttlichkeit. Alles, was als göttlich galt, wird durchschaubar als von Menschen gemachte Konstruktion. Der Holocaust wäre demnach die besonders drastische Fortführung einer bereits Jahrhunderte währenden Säkularisierung und Entzauberung. Oder es gab das Göttliche einst tatsächlich, ist jetzt aber verschwunden. Von ihm bleibt das Menschenwerk, das es nachahmt und materialisiert. Es gibt zweierlei, was gegen die erste Perspektive spricht.

Erstens ist vieles von dem, was in Baks Bildern zerstört ist, immer noch da, so wie beispielsweise die Gesetzestafeln in „Shema Israel“, „Othyoth“, „All of a Sudden“ und „Lo, Against Blue Space“. Nicht nur sind Fragmente von der Tradition geblieben, sondern die Fragmente sind auch nach wie vor in der Lage, ein Ganzes zu bilden; wenngleich die Zerstörung an ihnen nicht rückgängig zu machen ist. Sie sind ,immer noch da‘, wie der wortspielerische Titel eines Bildes übersetzt lautet, das eine von Sperrmüll zugestellte Tür mit dem Schild „Still“ zeigt. Dadurch, dass die Versehrung sichtbar ist, ist klar geworden, dass das, was einst als unzerstörbar galt (Gott, der Mensch, sein Geist, seine Würde), sehr wohl zerstört werden kann. Philosophisch gesprochen haben die Gewissheiten ihren ontologischen Status verloren; es ist sichtbar geworden, dass sie von Menschen gemacht sind. Aber im Augenblick ihrer Zerstörung kann man sie nicht einfach nur erleichtert von den Schultern fallen lassen: Man sieht auch, dass sie verloren gehen können, und die Möglichkeit des Verlustes lässt erschrecken und initiiert den Impuls zur „Rettung“ (Adorno). Hieraus speisen sich die Trauer und die Melancholie, aus denen Baks Bilder zu bestehen scheinen.

Die in den Bildern dargestellte Zerstörung ist nicht Baks Zerstörung. Nicht er fügt sie den Klassikern zu, sondern er verbildlicht die Zerstörung von Ideen wie Gott, Göttlichkeit des Menschen, Aufklärung, menschliche Würde und menschlicher Geist. Er zelebriert die Zerstörung in seinen Bildern nicht; ihnen sind Trauer und Verlust eingeschrieben.

Dies bestimmt sein Verhältnis zur Tradition und seine Differenz zur Postmoderne. Letzterer ist der Holocaust nur ein willkommener Anlass, das zu tun, was sie sowieso vorhat, nämlich die Aufklärung hinzurichten. Sonst hat sie kein Interesse an ihm, geschweige denn an Philosophie. Den Postmodernen ist alles immer nur Anlass, sowohl ihre eigene Verwirrung wie auch ihr Ressentiment auszubreiten.

Baks Verhältnis zur Traditon wird besonders pointiert von Yvonne Sherwood, die nicht zuletzt dadurch überrascht, weil man es nicht für möglich halten mag, dass jemand, der an anderer Stelle mit Jacques Derrida die Bibel dekonstruktivistisch liest, eine solch luzide Kritik am postmodernen Kunstverständnis leistet. Sie vergleicht Baks Bilder mit den Kunstwerken des „Iconoclash“. Diese ketzerisch und radikal posierende Kunstmarktsparte begrenze das Potential eines tatsächlichen Iconoclashs, also eines Zusammenpralls der Ikonen. Jenseits des „reinen und ehrfürchtigen Un-Traditionalismus“ findet sie bei Bak wesentlich komplexere Beispiele hierfür. Denn Bak kombiniere bekannte Figuren aus der Kunstgeschichte kompromisslos mit dem allzu deutlichen qualvollen Schaden an ihnen. Sie seien zerstört, im Zerbrechen begriffen oder ruiniert – und gleichzeitig seien sie „anachronistisch hinreißend und bezaubernd“. Dies mache seine Arbeiten paradoxerweise weniger dafür geeignet, im Wohnzimmer aufgehängt zu werden als die Posen des „Iconoclashs“. In Baks restaurativer Geste sieht sie etwas Streitlustiges, als ob er sagen wollte, dass nicht alles verloren sein muss.

Zweitens lebt das Zerstörte weiter, wenn auch quasi mit Prothese. Dies veranschaulichen einige Bilder, die das Motiv eines abgerissenen Baumes variieren. „Family Tree“ wird von einem vertrockneten Baum bestimmt. Der im Stamm abgetrennte Baum schwebt über seinem Stumpf. Er hat nicht seine Wurzeln verloren, auch sind seine Wurzeln nicht ohne Erdreich, sondern er ist in seiner Mitte, in seinem kräftigsten, tragenden Strang, durchtrennt. Aber er befindet sich immer noch an seiner alten Stelle, er ist nicht umgefallen. Seine Äste, Zweige und Blätter bilden einen sechszackigen Stern. Auch die Blätter sind mattgelbe Davidsterne. Sie sehen vertrocknet aus, teilweise sind sie zusammengerollt, so dass ihre ursprüngliche Form nicht mehr zu erkennen ist. Aber insgesamt sieht der Baum nicht tot aus.

Auf „The Wanderer II“ hält ein alter Jude in reichem traditionellem Gewand einen solchen abgesplitterten Baum neben dessen Stumpf. Obwohl der Baum keine Verbindung mehr zu seinen Wurzeln im Erdreich hat, sind seine Blätter weiterhin grün, und seine Krone wird von Vögeln frequentiert. In „The Tree of Life“ gibt es zwei Bäume, einen großen und einen kleinen. Der große ist in einem Haus gewachsen. Der Baum ist fast tot und das Haus offensichtlich unbewohnt. Der Baumstamm steht im Zentrum des Hauses und versperrt den Eingang. Seine Wurzeln vor der Tür sind teilweise freigelegt. Seine Äste sind aus den fensterlosen Öffnungen herausgewachsen. Nach oben hin haben sie kein Dach mehr gefunden, an das sie hätten stoßen können. Der Baum hat nur noch wenige Zweige und nur an wenigen von diesen sind noch grüne Blätter. Die Mauern des Hauses sind verwittert, teilweise ohne Putz, rissig und teilweise schon eingefallen. Der kleine Baum steht im Halbdunkel eines dunklen Durchgangs zwischen dem beschriebenen Haus und einem weiteren. Seine Wurzeln stecken nicht im Erdreich, sondern in einem großen Topf, der auf einem Wägelchen steht.

Dieser kleine Baum kehrt in „Destinies“ wieder. Vor einer öden Mittelgebirgslandschaft steht ein Baumstumpf mit Erde, Gras und Wurzeln in einer Kiste. Diese ist alt und geht aus dem Leim. Sie steht leicht erhöht zum einen auf flachen Steinen und zum anderen auf einer Steinrolle, als könnte sie zumindest grundsätzlich und wenn auch nur zur Hälfte fortbewegt werden. Der Rest des Baumes besteht aus Stamm, Ästen, Zweigen und Blättern. Auf der linken Hälfte der Baumkrone sind die Blätter grau-blaue blecherne Davidsterne, die zum Teil verbogen und schartig sind. Die rechte Hälfte besteht aus mattgelben Davidsternen, manche von ihnen sind wie vertrocknete Blätter zusammengerollt. Der Baum ohne Stumpf wird von drei Stangen an seiner Position, in der Luft schwebend, gehalten.

Bei „The Wanderer III“ schließlich ist der Baum auf Reisen: Ein Reisender trägt ihn. Er trägt außerdem abgewetzte Kleidung und hat ein müdes, angestrengtes und abgekämpftes Gesicht. An einem Arm sieht man unter seinem Umhang einen weiß-hellblau gestreiften Ärmel hervorschauen, der zu dem Anzug eines KZ-Häftlings gehören könnte. Der Baum ist abgesplittert. Alle Bäume der hier genannten Bilder sind nicht mit einem glatten Schnitt abgetrennt. Die Rinde dieses Baumes ist teilweise abgeschält. Aber er trägt überwiegend grüne Zweige, nur wenige sind vertrocknet. Auch wird er von Vögeln angeflogen. Auf dem Rücken hat er einen Rucksack, aus dem grüne Schößlinge ragen. Hinter sich her zieht er ein Wägelchen, auf dem ein Baumstumpf mit Erdreich und Wurzeln steht. Aus dem Stumpf sprießt aber noch ein junger, grüner Trieb.

Weder die Zerstörbarkeit noch die Künstlichkeit ist ein Makel. In Baks Bildern steckt eine geistesgeschichtliche Haltung und eine philosophische Verhaltensweise, die mit der von Theodor W. Adorno, Emil L. Fackenheim und – mit Einschränkung – Bruno Liebrucks zu vergleichen ist. Dass die Aufklärung und der Humanismus scheiterten und in Auschwitz zerstört wurden, dies wird eingestanden, aber eben mit Entsetzen bedauert. Nicht geht es darum, das Fallende auch noch zu stoßen. Dieser typische Zug des autoritären Charakters, den die Schwäche zum Angriff reizt, und der den modernen Antimetaphysikern gemeinsam ist, ist Bak fremd. Bei den Überlebenden um ihn herum beobachtete er die Bemühungen, „das Zerstörte zu reparieren, zu rekonstruieren, was verloren war, dem auf immer Verlorenen ähnlich scheinendes Neues zu schaffen“. Hierzu gehört auch seine Kunst. Er möchte „über ein menschliches Bedürfnis nach Wiederherstellung in einer Sprache […] sprechen, die eine altmodische, illusionäre Vorstellung, eine Vorstellung gemacht von Licht, Schatten und Wirklichkeitsnähe, wiederherstellte“.

Titelbild

Samuel Bak: In Worte gemalt. Bildnis einer verlorenen Zeit.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Andreas Nohl.
Beltz Verlagsgruppe, Weinheim 2007.
381 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783407857668

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Lawrence L. Langer / Samuel Bak: Return to Vilna. In the Art of Samuel Bak.
Syracuse University Press, New York 2007.
118 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9781879985179

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Rachel Margolis: Als Partisanin in Wilna. Erinnerungen an den jüdischen Widerstand in Litauen.
Kommentiert und mit einer Einführung versehen von Franziska Bruder und Gudrun Schroeter.
Übersetzt aus dem Polnischen von Franziska Bruder.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
240 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783596173433

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Titelbild

Danna Nolan Fewell / Gary A. Philips / Yvonne Sherwood (Hg.): Representing the Irreparable, the Shoah, the Bible and the Art of Samuel Bak.
Syracuse University Press, New York 2008.
208 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9781879985186

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Kein Bild

Gudrun Schroeter: Worte aus einer zerstörten Welt. Das Ghetto in Wilna.
Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2008.
450 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783861104483

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