Schillers schöner Staat
Zum „Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus“
Von Josef Bordat
Friedrich Schiller war nicht nur Dichter, sondern auch Denker. Zwar ist er in erster Linie bekannt durch Dramen und Poesie, doch schrieb Schiller auch zahlreiche theoretische Texte und lieferte damit einen wertvollen Beitrag zur Philosophiegeschichte. Seine Schriften „Über das Erhabene“ und „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ gehören zum Kanon der bedeutendsten Texte des deutschen Denkens um 1800, in der Zeit zwischen Aufklärung und Romantik, die „Deutscher Idealismus“ genannt wird.
Der Deutsche Idealismus tritt für einen ästhetischen Freiheitsbegriff ein, bei der jede überzogene Staatlichkeit nur störend wirkt. Dies wird deutlich im sogenannten „Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus“, ein kurzer Text aus dem Jahr 1796, der lange verschollen war und erst 1913 bei einer Auktion der Firma Leo Liepmannssohn in Berlin wieder aufgetaucht ist. Zur Frage der Verfasserschaft entstand von Beginn der Entdeckung des Manuskripts an eine Kontroverse. Von dem unstreitigen Fakt ausgehend, dass es sich um Georg Wilhelm Friedrich Hegels Handschrift handelt, wurde zum einen behauptet, es handele sich um eine Abschrift Hegels, der Text stamme ursprünglich von Friedrich Wilhelm Josef Schelling oder Friedrich Hölderlin, zum anderen, es handele sich um einen Text, der auch inhaltlich ganz Hegel zuzuschreiben ist. Schillers (Mit-)Autorenschaft ist umstritten, vertreten wird sie etwa von Michele Cometa, gleichwohl passen die Ausführungen zur Freiheit und zum Staat sehr gut zu Schillers Denkweise. Ein (zumindest mittelbarer) Einfluss Schillers, für den die politische Freiheit „das vollkommendste aller Kunstwerke“ darstellte und der mit den mutmaßlichen Autoren Hegel, Hölderlin und Schelling persönlich bestens bekannt war, ist demnach sehr wahrscheinlich.
Der Staat – so der „Ich-Erzähler“ des „Systemprogramms“ – ist ein „elendes Menschenwerk“, das es zu überwinden gilt: „Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk. Die Idee der Menschheit voran – will ich zeigen, dass es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also auch über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muss freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören. Ihr seht von selbst, daß hier alle Ideen vom ewigen Frieden usw. nur untergeordnete Ideen einer höhern Idee sind. Zugleich will ich hier die Prinzipien für eine Geschichte der Menschheit niederlegen und das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfaßung, Regierung, Gesetzgebung – bis auf die Haut entblößen.“
Immanuel Kant liefert die Basis für die Staatskritik des Systemprogramms. Mit Kant gemein hat es jedoch nur den Ansatz einer Gegenüberstellung von Menschheitsideal und der Wirklichkeit des Maschinenstaats, von der Freiheit des Menschen und der Versklavung im staatlichen Räderwerk. Denn Kant will mit seiner Kritik „nur“ auf die Republik als bessere Staatsform hinaus. Die radikale Forderung des Systemprogramms geht indes weiter: Der Staat in seiner Rechtsverfassung solle aufhören und durch einen ästhetischen Staat ersetzt werden, welcher der ursprünglichen Natur des Menschen näher ist. Das Systemprogramm geht also mit Kant über Kant hinaus.
Es misstraut dem Ansatz Kants, altes Elend durch neues Elend zu überwinden und fordert daher die Überwindung des Staats, damit Freiheit unmittelbar und ohne Vermittlung über einen Rechtszustand verwirklicht wird. Um zu verstehen, warum das Recht als Fundament des Staates und die Freiheit des Menschen als Gegensätze gedacht werden, sowohl von Schiller, als auch im Systemprogramm, muss man sich die maßgebliche Definitionen des Rechts bei Kant in Erinnerung rufen. Dieser meint, das Gesetz „fußt auf dem Princip der Möglichkeit eines äußeren Zwanges“, das heißt: „Recht und Befugnis zu zwingen bedeutet einerlei.“ Wenn hinter dem Recht nicht mehr als Zwang gedacht wird, ist offenbar, dass Freiheit zum Widerpart des Rechts werden muss und Schillers Idee der Freiheit, verstanden im Sinne der Rezeption im Systemprogramm, mit der Sphäre des Rechts inkommensurabel ist. Das Systemprogramm setzt gegen den Rechtsgrund des Staates die Ästhetik, die staatsphilosophisch vereinnahmt und gedeutet wird, verbunden mit dem Wunsch nach Rückkehr in die Ursprünglichkeit, die durch Recht und Reflexion zerrissen wurde. Dies geschieht in deutlicher Anlehnung an Schiller, der die Kultur des verrechtlichten Staates geißelt: „Sobald auf der einen Seite die erweiterte Erfahrung und das bestimmtere Denken auf eine schärfere Scheidung der Wissenschaften, auf der andern das verwickeltere Uhrwerk der Staaten eine strengere Absonderung der Stände und Geschäfte notwendig machte, so zerriß auch der innere Bund der menschlichen Natur, und ein verderblicher Streit entzweite die harmonischen Kräfte.“
Mit der Aufnahme der Konzepte „neue Religion“ und „neue Mythologie“ folgt insbesondere Hölderlin der Staatsphilosophie Schillers, der seinerseits im zentralen Begriff des „Spiels“, das auch Dichtung sein kann, jene „neue Kunst“ etabliert sieht. Der „homo ludens“, wie ihn später Johan Huizinga nennen sollte, scheint in der frühen Phase des Idealismus die Folie gewesen zu sein, vor der das Spannungsverhältnis von individueller politischer Freiheit und verrechtlichter, geschäftiger Staatlichkeit verhandelt wurden. Nur so werden die Skepsis gegenüber Recht und Ordnung und der starke Bezug zur Ästhetik erklärbar.
Bei Schiller ist der „Geschmack“ die Grundlage des ästhetischen Staates, der mit der Gesellschaft zusammenfällt: „Kein Vorzug, keine Alleinherrschaft wird geduldet, soweit der Geschmack regiert und das Reich des schönen Scheins sich verbreitet.“ Die soziale Integration im ästhetischen Staat ist eine der vollkommenen Freiheit, abzugrenzen vom kontraktualistischen Bindungsduktus des einschränkenden und mit Zwangsgesetzen zur Form gebrachten Rechtstaats und ebenso vom „ethischen Staat der Pflichten“: „Wenn in dem dynamischen Staat der Rechte der Mensch dem Menschen als Kraft begegnet und sein Wirken beschränkt – wenn er sich ihm in dem ethischen Staate der Pflichten mit der Majestät des Gesetzes entgegenstellt und sein Wollen fesselt, so darf er im Kreis des schönen Umgangs, in dem ästhetischen Staat, nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freien Spiels gegenüberstehen. Freiheit zu geben durch Freiheit ist das Grundgesetz dieses Reiches.“
Jeder „Mitspieler“ in diesem Gesellschaftsspiel ist darauf angewiesen, nicht als Mittel in irgendwelche Zwecke des Anderen eingebunden zu werden, wie dies im Rechtsstaat zwangsläufig regelmäßig der Fall ist. Diese Bindungslosigkeit, die an Kants humanitas-Formel des Kategorischen Imperativ erinnert, lässt sich dabei im ästhetischen Staat deshalb realisieren, weil die Selbstdarstellung des Menschen im gesellschaftlichen Umgang die Freiheit von eigennützigen Interessen voraussetzt.
Doch was bedeutet „schön“ in diesem ästhetischen Staat? Eine romantische Verklärung der Notwendigkeiten? Eine irrationale Orientierung am Gefühl? Meint Schiller, dass dem Schönen das Wahre und Gute korrespondiert? Nicht so unbedingt wie Platon und seine Epigonen – es braucht eine Vermittlung. Das verbindende Element von Vernunft und Sinnlichkeit ist die ästhetische Volkserziehung, die an Lessings Erziehungsideal anknüpft: Gott als Erzieher, die Offenbarung als Erziehungsmittel, Aufklärung als Erziehungsziel. Die Menschen treten demnach nicht über Rechtsfiguren in Beziehung zueinander, sondern durch eine ästhetisch erfahrbare, Freiheit und Gleichheit verwirklichende Volksreligion.
Der Deutungsansatz zwischen Poesie und Schönheit, Religionsstiftung und Mythologie der Vernunft lässt zwar das kantische Konzept des autonomen Vernunftgebrauchs hinter sich und unterzieht es einer romantischen Erneuerung, doch auch dieser Entwurf erzeugt Widersprüche und lässt Fragen offen. Eine davon könnte lauten: Wenn die „ästhetische Erziehung zum Staat zu einer Erziehung zum ästhetischen Staat“ führte, wie sähe dieser Staat dann aus? Sind dann alle Probleme des mechanischen Staatsgebildes gelöst? Ist es überhaupt vorstellbar, einen Staat jenseits einer Rechtsordnung zu konzipieren, die für die Sicherheit und Ordnung zum Wohle aller einschränkend in das freie Handeln des Menschen eingreift?
Schiller jedenfalls sieht die Realisierungschancen des Ideals seines „schönen Staates“ mit Blick auf die Geschichte eher skeptisch: „In der Tat muß es Nachdenken erregen, daß man beinahe in jeder Epoche der Geschichte, wo die Künste blühen und der Geschmack regiert, die Menschheit gesunken findet und auch nicht ein einziges Beispiel aufweisen kann, daß ein hoher Grad und eine große Allgemeinheit ästhetischer Kultur bei einem Volke mit politischer Freiheit und bürgerlicher Tugend, daß schöne Sitten mit guten Sitten, und Politur des Betragens mit Wahrheit desselben Hand in Hand gegangen wäre.“ Das Wahre, Gute und Schöne zusammenzubringen, ist schon schwer genug, das Wahre und Gute vom Schönen her zu entwickeln wohl unmöglich. Trotzdem: Schillers schöner Staat ist mit seinem Freiheitspathos ein poetisch-utopisches Ideal, an das man sich ab und an erinnern sollte, auch, weil 230 Jahre nach Schillers Geburt die Berliner Mauer fiel und „das vollkommendste aller Kunstwerke“ das hässlichste aller Schandmale überwand.