„Ich kenne alles. Alles, nur nicht mich“

Der Hamburger Literaturwissenschaftler Hans-Harald Müller hat eine Biografie über Leo Perutz vorgelegt und den Roman „St. Petri-Schnee“ neu herausgegeben

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gegen Ende seines Lebens konnte Leo Perutz über sich in der Zeitung lesen, dass er einer von Europas „forgotten writers“ sei. Bevor ihn die Nazis nach Palästina vertrieben, hatte er mit raffiniert konstruierten Psychothrillern wie „Zwischen neun und neun“, „Wohin rollst du, Äpfelchen?“ oder „Der Meister des Jüngsten Tages“ ein Millionenpublikum erreicht; Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht zählten zu seinen Bewunderern, Alfred Hitchcock ließ sich von ihm inspirieren, und vom jungen Ian Fleming, der später James Bond erfand, erhielt er 1931 in Wien Fanpost.

Nach dem Krieg hatte der österreichische Autor die Hoffnung auf eine schnelle Rückkehr des Erfolgs bald aufgegeben. „Um so sicherer“, schrieb er 1949, „ist meine Auferstehung in 40 Jahren, wenn mich irgendein Literaturhistoriker wiederentdeckt und ein großes Geschrei darüber erhebt, dass meine Romane zu Unrecht vergessen sind.“

Wenn sich diese Prophezeiung 50 Jahre nach seinem Tod leidlich erfüllt hat, so ist dies vor allem dem unermüdlichen Engagement Hans-Harald Müllers zu verdanken. Nach zahlreichen von ihm herausgegebenen Neuausgaben Perutz’scher Romane und einem Autorenbüchlein bei C. H. Beck 1992 hat der Hamburger Germanist nun eine 400 Seiten starke Perutz-Biografie vorgelegt. Müller gelingt mit ihr ein überaus lebendiges, plastisches Porträt dieses Erben E. T. A. Hoffmanns und E. A. Poes – kein geringes Kunststück, wenn man die desolate Quellenlage bedenkt.

Denn in Perutz’ Nachlass fanden sich, für einen Meister der literarischen Erinnerung erstaunlich, weder Tagebücher noch autobiografische Aufzeichnungen. Auch gehörte er nicht zu jenen Autoren, die in ihren Werken persönliche Erlebnisse verarbeiten; als Verehrer von Karl Kraus plädierte Perutz für die strikte Trennung von Leben und Werk. „Ich kenne alles. Alles, nur nicht mich“, heißt es in einem seiner Romane. Perutz gab nur wenige Interviews und musste selbst zu Porträtaufnahmen von seinem Verlag erst genötigt werden. Neben den Erinnerungen von Freunden sind Perutz’ Taschenkalender aus den Jahren 1909 bis 1957 die wichtigste Informationsquelle für sein äußeres Leben: protokollartige Notizen über Tätigkeiten, literarische Einfälle, Reisen, Einkünfte und Treffen mit Geliebten.

Nur lückenhaft lassen sich dagegen die ersten beiden Lebensjahrzehnte Perutz’ rekonstruieren. Es ist eine „Kindheit ohne Spuren“: bis 1901 in Prag, danach in Wien. Geboren wurde Perutz am 2. November 1882 als Sohn des Textilfabrikanten Benedikt Perutz, die Eltern waren assimilierte Juden. Die Schulzeit verlief offenbar wenig rühmlich, 1902 verließ Perutz das Gymnasium ohne Matura. Dennoch studierte er ab 1905 in Wien Versicherungsmathematik und machte nach 1908 bei der Wiener Anker-Versicherung mit Abhandlungen über die Prognosegenauigkeit von Sterblichkeitsverläufen Karriere. Seine „Perutzsche Ausgleichsformel“, die die mathematische Glättung zufälliger Ereignisse erlaubte, war lange Zeit ein Begriff.

Bei Perutz guckte stets, nach einem Wort seines Freundes Richard A. Bermann, der Mathematiker dem Dichter des Fantastischen über die Schultern. Viele seiner raffinierten Erzählkonstruktionen, beim Spazierengehen oder im Gespräch ausgetüftelt, gleichen beunruhigenden Vexierbildern: Sie bieten verschiedene Erklärungen für denselben Sachverhalt, zwischen denen sich der Leser entscheiden muss. Unzuverlässige, in Schuld verstrickte Ich-Erzähler ringen um ihre Vergangenheit und damit Identität. Bestes Beispiel dafür ist der jetzt neu herausgegebene Roman „St. Petri-Schnee“ von 1933, der den Autor auf dem Höhepunkt seines Könnens zeigt. Fünf Jahre vor der Entdeckung des LSD führte darin Perutz, der selbst mit Haschisch experimentierte, die Entstehung von Religion und Massenhysterie auf einen Getreidepilz zurück. Liegt aber der Erzähler Georg Amberg wirklich schon seit fünf Wochen, wie die Ärzte sagen, im Krankenhaus oder, wie er selbst behauptet, erst seit einer? Sind seine haarsträubenden Erinnerungen wahr und soll jetzt alles vertuscht werden, oder sind sie nur das Resultat eines Fieberwahns?

Wie alle Perutz-Romane ist auch dieser mit knapp 200 Seiten eher kurz. So ökonomisch wie sein an Schnitzler geschulter Stil, so trocken sind seine sich aufs Faktische beschränkenden Notizen. Statt Emotionen werden nur Namen oder Initialen von Liebschaften festgehalten, von denen Perutz, auch hierin Schnitzler verwandt, oft mehrere gleichzeitig unterhielt. Perutz war auch eine Spielernatur, die das Risiko suchte. „Duell mit Dr. Fuchs“ heißt es am 12. Februar 1909, und zwei Wochen später: „T. W. schaute lange und verwundert auf meinen Narben. Ich grüßte nicht.“

Sinn für makabren Humor besaß Perutz nicht nur in der Literatur: Als sich in seiner Militärzeit ein Feldwebel erschoss, hob er sich als Andenken ein Stück des Schädelknochens auf. Den Kriegsausbruch 1914 kommentierte er mit kafkaeskem Desinteresse: „Ultimatum an Serbien. – Tarock gespielt und viel verloren.“ Dem Hurrapatriotismus seiner Freunde begegnete er mit Skepsis. An der russischen Front suchte er den rettenden „Salonschuss“ und fand ihn endlich: Ein Schuss in die Brust 1916 kostete ihm die halbe Lunge und bescherte ihm die Rückfahrkarte. In der Revolutionszeit provozierte er die revoltierenden Soldaten, indem er mit kaiserlicher Konkarde auf die Straße ging – und mit zerfetzter Uniform, aber triumphierend wieder heimkehrte. Auch später blieb Perutz Legitimist, weil er in der übernationalen Donaumonarchie einen Garanten für den Frieden sah.

Das hinderte ihn nicht daran, nach dem Krieg die Willkür der Militärjustiz anzuprangern und mit Autoren wie Franz Werfel oder Egon Erwin Kisch befreundet zu sein. Perutz führte ein geselliges Leben; im Kaffeehaus war der passionierte Tarockspieler der unumschränkte Kopf einer von ihm streng ausgewählten Runde, die er bei missfälligem Betragen mit „Boykott!“ bestrafte. An seinem Lebensstil konnte auch seine Heirat mit Ida Weil, genannt „Bär“, 1917 nichts ändern, die er, so der Biograf, sehr liebte: „Auf seine Weise.“ Nach Idas Tod 1928 suchte er sogar mittels Séancen Kontakt zur Verstorbenen aufzunehmen. Ob er sie um Erziehungsratschläge bat, ist unbekannt, doch lassen die ab da in seinen Notizen zu findenden Aussprüche seiner Kinder darauf schließen, dass er sich mit ihnen nun offenbar erstmals intensiver beschäftigen musste.

Sein Erfolg als Autor verführte ihn dazu, seine Stellung bei der Versicherung 1923 aufzugeben, was ihm dauerhaft finanzielle Probleme bescheren sollte. Die Bedrohung durch die Nazis nahm er zunächst nicht ernst, um sich dann umso rascher für die Flucht zu entscheiden. In Jerusalem fand er ein neues Stammcafé und also eine zweite Heimat; er arbeitete wieder als Versicherungsmathematiker und nur noch gelegentlich an seinen Manuskripten. Was ihm fehlte, waren Leser und die europäische Landschaft. „Eigentlich wäre mein Lebensproblem gelöst“, schrieb er 1946, „wenn ich ein kleines Haus bauen könnte, von dessen vorderen Fenstern man die Omarmoschee sieht und von den hinteren den Kahlenberg.“ Als er am 25. August 1957 während eines Besuchs in Österreich starb, fand er sein Grab nicht, wie er es einst gewünscht hatte, im Kaffeehaus, sondern auf dem Friedhof von Bad Ischl.

Titelbild

Hans-Harald Müller: Leo Perutz. Biographie.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2007.
403 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783552054165

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Leo Perutz: St. Petri-Schnee. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2007.
206 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783552054202

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch