Die langen Schatten der Sklaverei

Ein neues Amerika-Buch von Manfred Henningsen

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zuerst eine Anmerkung: dieses Buch ist ein zweiter Teil. Bereits 1974 veröffentlichte der Politologe Manfred Henningsen „Der Fall Amerika“, eine auch heute noch lesenswerte Studie, die das europäische USA-Bild mit dem psychoanalytischen Begriff der „Verdrängung“ beschrieb. Insbesondere seit der französischen Revolution, so Henningsen damals, nahm Europa sein Gegenüber nicht als eigenständiges Phänomen wahr. Stattdessen wurden den USA von europäischer Seite immer wieder neue Projektionen übergestülpt. Das Spektrum reichte von der scheinbar unberührten terra incognita über das verheißungsvolle Auswanderungsziel bis zum – positiv oder negativ konnotierten – Entwicklungsmodell für die Zukunft Europas.

Selbst die Revolution von 1776 änderte daran wenig, und was an ohnehin mäßigem Interesse vorhanden war, wurde gerade in Deutschland durch die viel nähere und viel unmittelbarer wirkende Revolution von 1789 überdeckt. Henningsens früheres Buch mag nicht so viel Aufsehen erregt haben wie etwa Dan Diners „Verkehrte Welten“ (1993) oder die vielen Studien, die nach dem 11. September bis etwa zu George W. Bushs (Wieder-)Wahl 2004 erschienen. „Der Fall Amerika“ war dennoch eine Pionierarbeit, auch für die Germanistik, die sich seit den 200-Jahr-Feiern des Jahres 1976 in Wellen immer wieder mit dem USA-Bild von Johann Wolfgang Goethe und Johann Gottfried Seume bis zur jeweiligen Gegenwart auseinandersetzt – nicht zuletzt, weil Henningsen auch literarische Quellen in seine Untersuchung einbezog.

Nach 35 Jahren folgt nun also der zweite Teil. „Mythos Amerika“ ist das – auch für sich zu lesende – Komplement zu jenem ersten Band. Diesmal geht es nämlich um den US-amerikanischen Blick auf die eigene Geschichte, für den das Urteil der „Verdrängung“ ebenso zutrifft. Statt die eigene Geschichte kritisch aufzuarbeiten, so Henningsen, nehme die Historiografie die wirklichen Abläufe nicht zur Kenntnis, sondern negiere systematisch die massive Gewalt, die bei der Kolonialisierung der Neuen Welt und innerhalb der Geschichte der USA angewendet wurde. Dabei konzentriert sich Henningsen, der aus Deutschland stammt und seit 1970 an der University of Hawaii lehrt, vor allem auf zwei Komplexe: Da wäre zum einen die schrittweise Enteignung der Ureinwohner. Diese seien, so Henningsen, vor allem anfangs den weißen Eroberern kulturell ebenbürtig oder gar überlegen gewesen. Ihre angebliche Primitivität wäre demnach ein bloßes Konstrukt der kolonialen Geschichtsschreibung; andere Quellen existieren kaum, und wenn es sie gab, wurden sie größtenteils vernichtet. Dies gilt natürlich für die Kolonialisierung des Kontinents insgesamt.

Noch wichtiger ist für Henningsen die Verdrängung der Sklaverei und der nachfolgenden De-facto-Apartheid, die sich erst nach 1945 zu lockern begann. Eine der größten Tragödien der amerikanischen Geschichte ist für Henningsen demnach die Ermordung Abraham Lincolns, für den die Gleichstellung der Schwarzen ein ernsthaftes Ziel gewesen sei. Alle Ansätze dazu hätten aber seine unmittelbaren Nachfolger Andrew Johnson und Ulysses S. Grant zunichte gemacht, und die soeben formal befreiten Schwarzen in eine Situation gestürzt, die ebenso schlimm war wie die Sklaverei, weil sie ihnen keine wirkliche Freiheit gab, sie aber der Diskriminierung hin bis zu brutalen Lynchmorden aussetzte. Auch später habe es kein wirkliches Bewusstsein für das Jahrhunderte währende Unrecht gegeben. Diesem düsteren Urteil folgt allerdings ein optimistischer Epilog: Erst mit dem Regierungsantritt Barack Obamas gibt sich die amerikanische Gesellschaft die Chance, sich mit der Vergangenheit wirklich auseinanderzusetzen und die dunklen Kapitel der eigenen Geschichte neu zu bewerten.

Das alles ist nicht neu, aber im Kern wahr. Lesenswert ist es vor allem für ein deutsches Publikum, das sich eine Meinung über die amerikanische Gesellschaft jenseits der vorherrschenden Klischees bilden will. Denn dass diese nach wie vor die öffentliche Diskussion dominieren, haben die letzten Jahre gründlich gezeigt. Kritik an den USA und ihrer Politik ist legitim und – je nach politischem Standpunkt – völlig richtig. Erstaunlich war aber, wie stark sich diese Kritik an Bush und seinen Mitstreitern in uralten Bahnen bewegte, ob es nun um „religiöse Heuchelei“ oder „Geldgier“, „Fanatismus“ oder „Ignoranz gegenüber anderen Kulturen“ ging. Erschreckend waren nicht einfach die Argumente selbst, sondern, dass sie fast wortgleich in einem Roman von 1829 oder einem Traktat von 1929 hätten stehen können; auf diese merkwürdige Konstanz geht Henningsen in seiner Einleitung zu Recht ein. Die „Entmythologisierung“ der USA, die er damals in „Der Fall Amerika“ heraufziehen sah, hat so leider nicht stattgefunden – weder im europäischen Blick noch, jedenfalls bis vor kurzem, in der inneramerikanischen Perspektive.

Nicht so recht in diesen Argumentationsgang passen zwei weitere Themen. Da wäre zuerst die Frage, warum es in den USA eigentlich nie eine erfolgreiche sozialistische Linke gegeben habe. Einem europäischen Leser würden als erstes die McCarthy-Ära und der Antikommunismus des Kalten Krieges einfallen, aber die Ursachen reichen sehr viel weiter zurück. Unter anderem bestand ein guter Teil der Arbeiter des „Gilded Age“ aus europäischen Einwanderern, für den selbst die harten Arbeitsbedingungen im „Raubtierkapitalismus“ um 1900 eine Verbesserung gegenüber denjenigen darstellten, die sie hinter sich gelassen hatten. Gerade unter ihnen waren die sozialistischen Agitatoren unbeliebt, die nicht selten selbst aus Deutschland eingewandert waren. Zum anderen geht es darum, dass sich die Realpolitik der Ära Bush stark am rechtsextremen Carl Schmitt orientiert habe, und zwar über die Rezeption der Schriften seines Schülers Leo Strauss. Auch dies sind wichtige Ausführungen, nach denen man das Handeln von Politikern wie Dick Cheney oder Paul Wolfowitz tatsächlich besser einordnen kann. Mit den massiven „Verdrängungen“ der anderen Kapitel haben sie jedoch nur bedingt zu tun. Vielleicht stehen sie vor allem deshalb im selben Buch, weil es teilweise aus überarbeiteten Zeitschriftenaufsätzen zusammengestellt ist.

So verdienstvoll und richtig vieles in Henningsens Buch ist – es sind einige Einwände angebracht. So führt er zum Beispiel mit dem mexikanischen Historiker Edmundo O’Gorman an, dass man von einer regelrechten „Erfindung“ Amerikas durch die Europäer sprechen könne. Das bestimmt aber nicht nur die Wahrnehmung der „Neuen Welt“ und ihrer Bewohner als „minderwertig“, so dass ihre Eroberung und „Zivilisierung“ gerechtfertigt wäre. In der Gründung der USA manifestieren sich nicht nur die unmittelbaren Bedürfnisse der Kolonisten, sondern auch der Versuch, den europäischen Monarchien ein „besseres Europa“ in der Tradition der Aufklärung an die Seite zu stellen. Insofern lassen sich amerikanische und europäische „Verdrängungen“ nicht so leicht trennen, wie es hier mitunter den Anschein hat. Außerdem sind die USA in den letzten Jahrzehnten sehr viel bunter geworden, vor allem durch Einwanderung aus Asien und Lateinamerika. Der Status dieser Minderheiten und ihre – teilweise ebenfalls entbehrungsreiche – Geschichte spielen in Henningsens Analyse leider keine Rolle. Zudem fragt sich, ob das Bewusstsein von der Rolle der Gewalt in der amerikanischen Geschichte zumindest im liberalen und akademischen Milieu nicht doch sehr viel verbreiteter ist, als der Autor meint. Gerade die so oft gescholtene Gegenkultur der 1960er- bis 1990er-Jahre hat viel dafür getan; dass sie damit leider nicht alle Gruppen der tief gespaltenen amerikanischen Gesellschaft erreicht hat, steht auf einem anderen Blatt.

Und schließlich unterlaufen Henningsen hier und dort Anglizismen, die das Verständnis des Textes erschweren. Dass die Gefangenen in Abu Ghraib Folter und nicht „Torturen“ ausgesetzt waren, mag man noch erschließen können. Aber dass Indianer auf künstlerischen Darstellungen nicht als „Extras“, sondern als „Statisten“ auftauchen müssten (das nämlich bezeichnet das Wort „extras“ im Amerikanischen), darauf muss man erst einmal kommen.

Trotz dieser Kritik ist „Mythos Amerika“ ein lesenswertes und elegant geschriebenes, vor allem aber ein bitter nötiges Buch. Eine echte Bereicherung für die „Andere Bibliothek“, die wieder einmal zeigt, wie sehr sie auf Texte setzt, die nicht nur wie immer schön aufgemacht sind, sondern den Horizont der Leserinnen und Leser beträchtlich erweitern können. Amerika besser zu verstehen – das wäre nicht das Schlechteste. Gerade heute.

Titelbild

Manfred Henningsen: Der Mythos Amerika.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
356 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783821845951

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