Spurlos verschwinden

William Boyds verstörender Roman „Einfache Gewitter“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

William Boyd nutzt in der Vorbemerkung zum Roman die Metapher eines „einfachen Gewitters“, um auf die Unmittelbarkeit und die Gewalt zu verweisen, mit der die nachfolgenden Ereignisse auf Adam Kindred, den Protagonisten des Romans, hereinbrechen werden. Dabei wird der Leser zusammen mit Adam ganz unspektakulär an die nahende Katastrophe herangeführt. Adam ist als Klimaforscher auf der Suche nach einem neuen Job. In London hat er ein Vorstellungsgespräch. Anschließend begegnet er in einem Restaurant zufällig einem Mann, der dort Unterlagen vergisst, die Adam ihm nach Hause bringen möchte. Dort angekommen, findet er den Mann sterbend in seiner Wohnung vor, versucht ihm noch zu helfen und verbreitet dabei seine Fingerabdrücke, Spuren und DNA am Tatort. In Panik verlässt er die Wohnung, sieht keinen Ausweg, den Verdächtigungen, der Mörder zu sein, zu entkommen und taucht mitten in London in die Anonymität der Obdachlosen ein. Kein Geld, keine Kreditkarten, kein Name: Adam Kindred wird in einer Großstadt unsichtbar.

Boyd verbindet das Experiment „Wie werde ich unsichtbar in einer Stadt“ mit einer spannenden Kriminalgeschichte. Kindred wird verfolgt von einem Auftragskiller, von der Polizei und einem Pharmakonzern. An einer interessanten Story entlang verfolgt der Leser, wie man aus einem geordneten Leben fällt und plötzlich, um das eigene Leben zu schützen, anonym überleben kann in einer Gesellschaft, die die Anonymität eigentlich nicht zulassen möchte. Fast am Ende des Buches rekapituliert der Protagonist seine Situation: „Adam schlenderte zurück zu den Oystergate Buildings, so ruhig und gefasst wie noch nie, seit dieser ganze Irrsinn angefangen hatte. Jetzt hatte er einen Namen, eine Wohnung, einen Job, er besaß einen Pass, hatte Geld, eine Kreditkarte – bald konnte er sich ein Handy besorgen… Jetzt durfte man mit Fug und Recht behaupten, dass Adam Kindred nicht mehr existierte, wurde ihm schlagartig klar – Adam Kindred war überflüssig geworden, wurde nicht mehr gebraucht, konnte verschwinden. Und er war wirklich aus der Welt verschwunden, war tief, tief in den Untergrund abgetaucht. Vor im lag eine neues Leben mit neuen Möglichkeiten – die Zukunft gehörte Primo Belem.“

Boyd macht zusammen mit dem Leser und dem Protagonisten einen Ausflug in eine Welt, die als Paralleluniversum zu unserem „normalen Alltag“ existiert. Und es sind nicht nur Illegale und Kriminelle, die einen Kosmos bevölkern, der ohne Ausweispapiere, Identitätskarten und Bankkonten funktioniert und unbemerkt in jeder Stadt existiert. Adam Kindred ist ein Beispiel dafür, wie man sich in einer gesellschaftlichen Grenzsituation zurechtfinden kann, wenn die filigrane Welt der Normalität des Lebens zusammengebrochen ist. Boyds sensible Sprache, eine gute Übersetzung und eine spannende und verstörende Geschichte sorgen trotzdem für eine unterhaltsame Lektüre.

Titelbild

William Boyd: Einfache Gewitter. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2009.
442 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783827008787

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