Von Säbeln und Utopien

Zum Literaturnobelpreis an Mario Vargas Llosa

Von Katja Carrillo ZeiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Carrillo Zeiter

Im 19. Jahrhundert trifft man in der lateinamerikanischen Literatur auf die Figur des „Letrado“ – ein Begriff, der nur unzureichend mit „Gelehrter“ zu übersetzen ist. Bezeichnet er doch jene Klasse von Intellektuellen, die sich aktiv in die Politik ihres jeweiligen Landes einmischten. Sieht man sich die jüngere lateinamerikanische Literatur an, so ist unschwer festzustellen, dass es diesen Typ Schriftsteller nur noch ganz vereinzelt gibt. Häufiger begegnet er einem allerdings noch in der so genannten Boom-Generation – jener Gruppe lateinamerikanischer Autoren, die Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahren einen Siegeszug in der internationalen Literaturszene antraten und so unterschiedliche Schriftsteller wie José Donoso, Gabriel García Márquez, Juan Carlos Onetti oder Mario Vargas Llosa, den diesjährigen Literaturnobelpreisträger aus Peru vereinte, um nur einige wenige zu nennen.

Vargas Llosa, 1936 in Arequipa im peruanischen Hochland geboren, wuchs in Cochabamba (Bolivien), Piura und Lima auf. Bereits früh verließ er seine peruanische Heimat Richtung Europa zum Studieren und Schreiben, und 1959 erschien sein erster Erzählband „Los jefes“ in Spanien. Nur wenige Jahre später, 1963, gelang ihm der internationale Durchbruch mit dem Roman „La ciudad y los perros“ (deutsch „Die Stadt und die Hunde“, 1966). Erzählt werden die Ereignisse in der peruanischen Kadettenschule Leoncio Prado, deren totalitäres System sich langsam aus den verschiedenen Fragmenten zusammensetzt, die eine lineare Lektüre unmöglich machen.

Diese diskontinuierliche, die Perspektiven und Zeiten stets wechselnde Schreibweise, die vom Leser eine ständige Neuorientierung verlangt, bestimmt auch seinen zweiten Roman „La casa verde“ (1965) (deutsch „Das grüne Haus“, 1968) dergestalt, dass der Leser jegliche Orientierung verliert. Vargas Llosa selbst betrachtet diesen Text als seinen Versuch, den „totalen Roman“ zu schreiben, also im Text die Gesamtheit der Wirklichkeit wiederzugeben. Das grüne Haus, ein Bordell in einer Stadt im peruanischen Amazonasgebiet, symbolisiert den Einbruch des Irrationalen in eine vorgeblich zivilisierte Ordnung wie die der Stadt. Gleichzeitig jedoch dringt die Zivilisation durch ihre Repräsentanten wie Nonnen und Soldaten immer tiefer in den Dschungel ein. Und schließlich wären da die Anden, die dritte Peru prägende Landschaft, im Roman „Lituma en los Andes“ von 1993 (deutsch „Tod in den Anden“, 1997), auf den ersten Blick ein Kriminalroman. Auch in diesem Buch stoßen Gegensätze aufeinander: auf der einen Seite der Spanisch sprechende Polizist Lituma, und auf der anderen die Quechua sprechenden Bewohner des Hochlandes. Doch nicht nur die unterschiedlichen Sprachen verhindern eine Kommunikation, vielmehr sind es, wie auch schon in „Das grüne Haus“, die unterschiedlichen, nebeneinander existierenden Realitäten Perus, die sich teilweise unversöhnlich begegnen. „Tod in den Anden“ ist zudem ein Beispiel dafür, dass Vargas Llosa bereits kurz nach der Veröffentlichung von „Das grüne Haus“ von seinem Vorhaben, den „totalen Roman“ zu schreiben, Abstand nimmt und sich dem konventionellen Erzählen zuwendet.

Vargas Llosas Texte drehen sich aber nicht nur um Peru. Mit „La fiesta del chivo“ (2000) (deutsch „Das Fest des Ziegenbocks“, 2001) beispielsweise schreibt er sich in die Tradition des lateinamerikanischen Diktatorenromans ein, indem er von dem Regime Rafael Leónidas Trujillo Molinas in der Dominikanischen Republik erzählt. Überhaupt gibt es keine Gattung – mit Ausnahme der Lyrik – die im Werk von Vargas Llosa fehlt: neben Romanen finden sich darin Essays, Erzählungen und Zeitungskolumnen. Auch seine Themen weisen eine große Bandbreite auf, so versammelt die Anthologie „Sables y utopías“ von 2009 Essays, in denen Vargas Llosa sich unter anderem mit dem Thema des Autoritarismus, der Revolutionen und dem Nationalismus auseinandersetzt – aber auch solche, deren Gegenstand die Literatur als Möglichkeit der Konstruktion einer anderen Realität ist.

Gerade die Texte aus „Sables y utopías“, die sich mit Ereignissen aus der jüngeren lateinamerikanischen Geschichte auseinandersetzen, zeigen, dass Vargas Llosa eben genau das verkörpert, was im 19. Jahrhundert ein „Letrado“ war: ein Schriftsteller, der nicht zurückgezogen am Schreibtisch lebt, sondern mit seinen Texten und durch seine Texte der politischen Realität begegnet. Wie weit er dabei gehen würde, machte Vargas Llosa 1990 deutlich, als er für das Amt des peruanischen Staatspräsidenten kandidierte und unterlag.

Seitdem hat er sich wieder ganz dem Geschichtenerzählen gewidmet, wie er selbst im Vorwort der spanischen Ausgabe seiner gesammelten Werke schreibt. Alles in allem ist der diesjährige Literaturnobelpreisträger also ein Autor, der – wie er selbst im genannten Vorwort schreibt – „Geschichten erzählen möchte, die, ohne es zu sein, wie eine Abbildung der Realität erscheinen und die Leser sehnsüchtig, begierig nach der Fortsetzung verlangen lassen“.