Vom Sterben als Geborenwerden
In seinem „Büchlein vom Leben nach dem Tode“ setzt sich Gustav Theodor Fechner mit der Idee der Unsterblichkeit auseinander
Von Behrang Samsami
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Der Mensch lebt auf der Erde nicht einmal, sondern dreimal. Seine erste Lebensstufe ist ein steter Schlaf, die zweite eine Abwechselung zwischen Schlaf und Wachen, die dritte ein ewiges Wachen. Auf der ersten Stufe lebt der Mensch einsam im Dunkel; auf der zweiten lebt er gesellig aber gesondert neben und zwischen andern in einem Lichte, das ihm die Oberfläche abspiegelt, auf der dritten verflicht sich sein Leben mit dem von andern Geistern zu einem höhern Leben in dem höchsten Geiste, und schaut er in das Wesen der endlichen Dinge.“
Diese Worte zu Beginn von Gustav Theodor Fechners „Büchlein vom Leben nach dem Tode“ sind These und Zusammenfassung dessen, womit sich der Universalgelehrte in seiner zu Lebzeiten erfolgreichsten Veröffentlichung beschäftigt: Dass nämlich der Mensch unsterblich sei und sich zudem stets weiterentwickle – freilich nur, wenn er das Gute anstrebe. Dieser Prozess falle dann nicht nur mit seiner schrittweisen sittlichen Vervollkommnung zusammen. Auch und vor allem gehe er mit der Befreiung des Menschen aus seiner körperlichen Hülle einher. Der 1801 in der Niederlausitz geborene Mediziner, Physiker und Schriftsteller deutet den Tod damit ins Positive um, ist dieser seines Erachtens doch lediglich ein Übergang aus dem Dunklen ins Lichte, aus dem Schlaf- in den Wachzustand, aus der Vereinzelung zum Zusammenhängen und -wachsen mit anderen Geistern und schließlich mit der Ganzheit, das heißt mit Gott: „Der Tod setzt keine andere Scheide zwischen beiden Leben, als daß er den engen Schauplatz der Wanderung mit dem weiteren vertauschen läßt.“
In seinem „Büchlein vom Leben nach dem Tode“, das erstmals 1836 erscheint und überarbeitet und ergänzt 1866 neu aufgelegt wird, spendet Fechner seinem Leser mit seiner Behauptung nicht nur Trost und Zuversicht, sondern bietet ihm, wie es Thomas Macho in seinem Nachwort schreibt, mit der „Umwertung der Metaphorik vom Tod als ewigem Schlaf“ auch eine neue und ungewohnte Sichtweise an. Der 1952 in Wien geborene Kulturwissenschaftler spricht nämlich davon, dass Fechners Deutung des Todes als Übergang nicht zum ewigen Schlaf, sondern zum ewigen Wachen sich „in bewussten Gegensatz zur longue durée europäischer Kulturgeschichte seit Heraklit [setze]“. Aus der „Analogie von Tod und Geburt (als Übergänge)“ ergibt sich für Macho ein „plausibles Argument gegen die Todesfurcht“. Und er kommt zu dem Schluss, dass sich das „Büchlein“ als Projekt interpretieren lasse, „die antike und die christliche Unsterblichkeitsvorstellung zu verschmelzen“ beziehungsweise „die christliche Idee eines persönlichen, leiblichen Lebens nach dem Tode – den Jubel über die Auferstehung des Fleisches – mit der antiken, griechisch-jüdischen Vorstellung vom Weiterleben im Geiste kommender Geschlechter zu versöhnen“.
Einem Geistlichen darin ähnlich, bietet Fechner aber nicht nur Trost, sondern warnt auch seinen Leser, den er mehrere Male direkt anspricht. Denn mehrmals betont er, dass das Handeln und Schaffen des Menschen nicht nur in anderen weiterwirke, sondern auch Auswirkung auf sein eigenes, dem jetzigen folgenden Leben haben werde. Man solle sich daher nicht von Schlechtem, sondern stets vom Willem zum Guten, von Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit lenken lassen: „Wohl dem, der einen Schatz von Liebe, Achtung, Verehrung, Bewunderung im Andenken der Menschen hinter sich gelassen. Was er fürs diesseitige Leben hinter sich gelassen, gewinnt er mit dem Tode, indem er das zusammenfassende Bewußtsein für alles gewinnt, was die Nachgelassenen von ihm denken; hebt damit den Scheffel, von dem er im Leben bloß einzelne Körner zählte. Das gehört zu den Schätzen, die wir für den Himmel sammeln sollen.“
In diesem Zusammenhang spricht Fechner, der auch Begründer der Psychophysik und zudem Naturphilosoph und Psychologe gewesen ist, auch von der Existenz von Geistern, die einen großen Einfluss auf den Menschen hätten: „Der Mensch denkt, er sei bloß für sich da, sich zu vergnügen, zu wirken und zu schaffen für sein leibliches und geistiges Wachstum; – er ist auch für sich da, aber zugleich ist sein Leib und Geist nur eine Wohnung, worein höhere fremde Geister eintreten, sich verwickeln und entwickeln und allerlei Prozesse untereinander treiben, die zugleich das Fühlen und Denken des Menschen sind und ihre höhere Bedeutung für die dritte Lebensstufe haben.“ Je nachdem, wie das einzelne Individuum geschaffen sei, lasse es sich unterschiedlich stark von den Geistern beeinflussen, wirke zugleich aber auch selbst auf sie. Eine Möglichkeit, das Letztere in einem positiven Sinne nutzen, sei die Erinnerung an Verstorbene, die einem nahe gestanden hätten.
Fechner verknüpft schließlich das Andenken an die Toten mit dem menschlichen Handeln im Leben, indem er davon spricht, dass derjenige auf der höheren Stufe Erlösung finden werde und von den „Zurückgebliebenen“ geehrt werden würde, der in Einklang mit sich selbst und den anderen gegenüber gerecht gewesen sei: „Da werden alle sündigen Gedanken, die hier im Dunkel des Geistes schlichen, und alles, was der Mensch in sich bedecken möchte vor seinesgleichen mit tausend Händen, offenkundig werden allen Geistern. Und nur der Geist, der hier ganz rein und wahr gewesen, wird ohne Scham in jener Welt den andern entgegentreten können; und wer verkennt gewesen hier auf Erden, der wird dort seine Anerkennung finden.“
Streng und tröstlich zugleich klingen diese Worte Fechners, die an dieser Stelle stark an die „Bergpredigt“ erinnern. Sie lassen sich dahingehend deuten, dass der Autor seinen Leser sensibilisieren und zugleich zu einem bewusste(re)n Leben und Handeln anspornen möchte: „Umsonst wirst du von einem Leben nach dir träumen, wenn du das Leben um dich nicht zu erkennen weißt.“ Schließlich empfiehlt der Wissenschaftler dem „Zweifler“, als den er seinen Rezipienten mitunter bezeichnet, sich an die Religion zu wenden, wenn er wirklich den Wunsch in sich verspüren sollte, sich selbst im Verhältnis zur „Ganzheit“ zu erkennen: „Ja, wie leicht wäre alles für den Glauben, könnte der Mensch sich nur gewöhnen, in dem Wort, womit er seit mehr als tausend Jahren spielt, daß er in Gott lebt und webt und ist, mehr als ein Wort zu sehen. Dann ist der Glaube an Gottes und sein eigenes ewiges Leben nur einer, er sieht sein eigenes ewiges Leben zum ewigen Leben Gottes selbst gehörig, und in der Höhe seines künftigen über seinem jetzigen Leben nur einen höhern Aufbau über einem niedern in Gott, wie er selbst schon solchen in sich hat; er faßt am kleinen Beispiel das Höhere und im Zusammenhange beider das Ganze, wovon er nur der Teil.“
Fechners „Büchlein vom Leben nach dem Tode“ ist, um ein Resümee zu ziehen, in seiner Gesamtheit ein Werk, das mehrere bedeutsame Fragen miteinander verschränkt. Wie Thomas Macho in seinem Nachwort formuliert, ist Fechners Geist bei ihrer Beantwortung jedoch „noch nicht verschüttet […] in den Gräben zwischen den Kulturen des Erklärens und Verstehens, zwischen Natur- und Geisteswissenschaften“. Im Gegenteil ziele er darauf, „sogenannte Glaubensfragen als Wissensfragen [zu] erfassen, [zu] analysieren und auf[zu]klären“. Darum wirkt auch das „Büchlein“ auf den heutigen Leser gleichzeitig wie eine philosophische Trostschrift, ein religiöses Traktat mit Hinweisen und Warnungen, aber auch wie eine wissenschaftliche Untersuchung, in der Thesen aufgestellt und zu belegen versucht werden.
Die unterschiedlichen Themen des „Büchleins“ betreffend, unterbreitet der Verfasser in seiner „Nachschrift zur ersten Auflage“ dem Leser, dass er die „Idee, daß die Geister der Gestorbenen als Individuen in den Lebenden fortexistieren“ zur „Idee eines höhern Lebens der Geister in Gott erweitert [habe]“. Mit anderen Worten wird die Idee der Unsterblichkeit von Fechner auf zweifache Weise behandelt: Einerseits lebt seiner Meinung nach der Mensch nach seinem Tod in allen Verwandten, Freunden und Bekannten sowie in ihm Fremden, die seiner dennoch gedachten, fort. Andererseits sei der Mensch nach seinem Tod nicht auf sich allein gestellt, sondern rücke gewissermaßen als (körperloser) Geist noch mehr mit denjenigen zusammen, mit denen ihn bereits im früheren Leben eine gemeinsame Vorstellung vereint habe. Überdauern wird laut Fechner schließlich das, was „die ewige Harmonie“ in sich trage: „Welche Geister aber einmal sich einer Form oder Idee des Wahren, Schönen oder Guten in ihrer ewigen Reinheit gemeinschaftlich bemächtigt haben, die bleiben auch durch sie verbunden in alle Ewigkeit und besitzen sie auf dieselbe Weise als Teil ihrer selbst in ewiger Einigkeit.“
Was die Themen angeht, die im „Büchlein“ des 1887 in Leipzig verstorbenen Universalgelehrten miteinander verwoben werden, erläutert diese Thomas Macho in seinem für die Neuauflage des „Büchlein“ verfassten Nachwort. Darin geht er zunächst auf Fechners Lebensweg ein und erwähnt dabei auch dessen „Vorschule zur Ästhetik“ (1876), die der Kulturwissenschaftler als ein „frühes Dokument einer empirisch-experimentellen Theorie der Wahrnehmung“ bezeichnet. Anschließend wird die Entstehungsgeschichte von Fechners zu Lebzeiten erfolgreichster Monografie thematisiert, deren Neuausgabe von 1866 auch die Textgrundlage für die vorliegende Neuveröffentlichung bildet. Zuletzt kontextualisiert Macho dessen Buch, indem er es ausführlich in Beziehung zu anderen, älteren wie neueren Texten setzt, die ebenfalls die Frage vom „Leben nach dem Tode“ behandeln.
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