Unseliger Wandertrieb

Zu Joshua Ferris’ Roman „Ins Freie“

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Weg ist das Ziel“ – was bei vielen anderen Menschen durchaus als Lebensmotto taugt, klingt in den Ohren des Protagonisten in Joshua Ferris’ neuem Roman „Ins Freie“ wie blanker Hohn. Denn der Protagonist ist von einem fürchterlichen unbekannten Leiden befallen: Plötzlich überkommt ihn eines Tages der unwiderstehliche Drang ins Freie zu treten. Und dort an der frischen Luft machen sich seine Beine quasi „selbständig“. Wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, läuft er ziellos meilenweit umher, ohne sein Tempo drosseln oder gar stoppen zu können. Am Ende bricht er schließlich vor Erschöpfung schlafend zusammen.

Ein namenloser Schrecken erfasst Tim, dessen Leben bisher von allem geprägt war, was einen typisch nordamerikanischen Mittelständler ausmacht: Ein gut bezahlter Job als Anwalt in Manhattan, Frau und Tochter im schmucken Haus in der Vorstadt. Nun verändert sich ihrer aller Leben auf drastische Weise, denn das unkontrollierte Laufen bleibt keineswegs ein Einzelfall. Vielmehr übernehmen Tims Beine mehr und mehr das Kommando über ihn. Immer häufiger rennt Tim wie besessen aus dem Büro oder verlässt das nächtliche Schlafzimmer, um endlose Meilen zu marschieren, bis er am Ende vor Müdigkeit einfach irgendwo liegenbleibt.

Seine verzweifelte Ehefrau Jane sieht sich jedes Mal mit der vertrackten Aufgabe konfrontiert, ihren verirrten Mann aufzuspüren und wieder heil nach Hause zu bringen. Alle Versuche jedoch, die sie gemeinsam mit Tochter Becka unternimmt, um ihn im Haus zu halten, sind zu Scheitern verurteilt. Und auch im Büro kann das seltsame Verhalten natürlich nicht auf Dauer verborgen bleiben.

So beginnt für Tim eine Odyssee des Schreckens, die ihn von einem Arzt zum anderen treibt. Nichts lässt er unversucht, doch weder Spezialisten noch Scharlatane können die Ursache für seinen unseligen Wandertrieb finden. Nach und nach zerstört Tims zermürbendes Leiden auf diese Weise fast alles, was seine Existenz ausmacht – um dann für einige Jahre einfach zu verschwinden.

Mit neuem Mut fasst Tim gemeinsam mit Jane wieder Fuß und glaubt zu einem ruhigen, geregelten Leben zurückkehren zu können, bis er schließlich merkt, dass der Alptraum erneut beginnt. Dieses Mal beschließt er, sich den Dämonen, die ihn umtreiben, allein zu stellen – um sie endgültig zu besiegen oder daran zugrunde zu gehen.

Ohne Zweifel gehört Ferris zu den größten Talenten der nordamerikanischen Literaturszene, wie er auch mit seinem gefeierten Erstlingswerk „Wir waren unsterblich“ bewiesen hatte. Auch sein neuester Roman „Ins Freie“ beeindruckt durch ein hohes Maß an Sensibilität für menschliche Abgründe und sein enormes sprachliches Feingefühl.

Dennoch fühlt man sich als Leser bei der Lektüre mitunter fast ebenso verloren wie der Protagonist. Auf ein Happy End oder zumindest eine Diagnose hoffend, wandern wir mit ihm durch die nordamerikanische Provinz und durch die Abgründe seiner Seele. Mit ihm gemeinsam erleben wir dabei Momente beeindruckender Schönheit, emotionaler Tiefe und scharfsinniger Gedankengänge. Doch leider reicht die Umsetzung der durchaus faszinierenden Grundidee des Romans nicht aus, um den Leser tatsächlich über 350 Seiten hinweg an das Buch zu fesseln – weniger wäre hier sicherlich mehr gewesen.

Titelbild

Joshua Ferris: Ins Freie. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay.
Luchterhand Literaturverlag, München 2010.
352 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783630872971

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