Das Unterste zuoberst gekehrt

David Osborns fesselnder Thriller „Jagdzeit“ deckt die „dunklen Seiten der Menschen“ anhand dreier erfolgreicher US-Amerikaner auf, die sich einmal pro Jahr in die Wälder zurückziehen, um ihren „Spaß“ zu haben

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ken drehte den Hahn zu und trocknete sich ab. Für Helen war er bloß ein Hilfsmittel, um ihr eigenes Image aufzupolieren und ihr einen Platz vor den anderen Ehefrauen zu sichern. Dann dachte er, scheiß drauf, Schluss mit der Nölerei. Er war besser dran als die meisten. Er konnte jedes Jahr da raus. Raus und so richtig die Sau rauslassen, ohne dass irgendein Schwanz davon erfuhr. Er konnte den liebenden Vater und geduldigen Ehemann spielen und geschäftlich davon profitieren, und dann jedes Jahr für mindestens drei Wochen verschwinden und alles Erdenkliche tun, was sich andre Männer nur in ihren wildesten und flüchtigsten Träumen vorstellen konnten. Einmal im Jahr durfte er ein wirklicher Mann sein, genetisch, instinktiv und, genötigt durch die trostlosen Ketten der Gesellschaft im Verein mit dem hysterischen Gekeife emanzipierter Weiber, auch psychisch. Er durfte ein wildes, reißendes Tier sein, ein rohes sexuelles Tier und gleichzeitig ein verschwiegener, verdrehter, komplexer, moderner Mann, der sich schamlos jeder noch so krankhaften Perversion hingeben kann, die ihm in den Sinn kommen mag.“

Die Charakterisierung eines der Protagonisten in David Osborns Thriller „Jagdzeit“ ist eine der Stellen, die den Inhalt des erstmals 1974 erschienenen Thrillers am Besten zusammenfasst: dass nämlich die „Decke der Zivilisation“ dünn sei, dass die bürgerliche Existenz der Individuen lediglich eine Fassade darstelle, unter der enorme negative Kräfte schlummerten und die nur darauf warteten, auszubrechen. Osborn zeichnet in seinem im vergangenen Februar auf Deutsch neu aufgelegten Roman ein düsteres Bild der menschlichen Gesellschaft, für die Kultur letztlich keine befriedigende Ausdrucksmöglichkeit für Aggressivität und Frustration ist. Der Mensch wird als „wildes, reißendes Tier“ gezeichnet, das sich austoben will. Belassen es laut dem Roman die allermeisten Menschen aus Angst vor Konsequenzen bei „wildesten und flüchtigsten Träumen“, so setzen sich in „Open Season“, so der Originaltitel von Osborns Roman, die drei Freunde Ken Frazer, Greg Anderson und Art Wallace darüber hinweg und geben sich „jeder noch so krankhaften Perversion“ hin.

Die Protagonisten, die sich seit der High School kennen, stammen aus der weißen, gutbürgerlichen Mittelschicht Amerikas und machen in ihrer Branche schnell Karriere. Sie heiraten, gründen Familien und sind beliebt bei ihren Freunden und Arbeitskollegen. Nach außen wirkt alles perfekt. Doch der Schein trügt. Und das von Anfang an. Der Prolog, der in den prüden 1950er-Jahren spielt, macht das deutlich. Zugleich charakterisiert das Anfangskapitel den gesamten Roman: Er ist ein Psychogramm der US-Gesellschaft in der Zeit des McKinsey-Reports und des Vietnamkrieges; einer, der die Tabus bricht und das „Unterste zuoberst“ kehrt: Die Schülerin Alicia Rennick und ihre Eltern sitzen beim Bezirksstaatsanwalt. Alicia wirft den drei jungen Männern vor, sie nachts nach einer Party entführt und vergewaltigt zu haben. Doch auf die Hilfe des Beamten kann sie nicht zählen. Denn anstatt ihr Gehör und Vertrauen zu schenken, wiegelt er ab und spricht davon, dass die „College-Helden“ Ken, Greg und Art die „Elite der amerikanischen Jugend“ darstellten und die Wahrscheinlichkeit, den Prozess gegen sie zu gewinnen, außerordentlich gering wäre.

Die Einleitung veranschaulicht, warum Ken, Greg und Art nicht bestraft werden: Opfer und Täter werden in ihrem Sinne umgekehrt. Die drei Studenten werden von den Behörden aufgrund ihrer sozialen Herkunft und ihrer Popularität gedeckt. Die angeblich heile Welt, in der sie sich bewegen, soll bestehen bleiben. Die Entscheidung des Bezirksstaatsanwalts, sie vor dem Zugriff der Justiz zu schützen, muss ihnen so wie ein Freifahrtsschein vorkommen. Zugleich zeigt sie, dass eine offene Auseinandersetzung mit Verbrechen, die von begüterten weißen Amerikanern verübt werden, kein Thema ist. Körperliche Gewalt und sexueller Missbrauch werden nicht sanktioniert, sondern durch ihr Verschweigen hingenommen. Während die Weste der drei keinen Fleck bekommt, wird Alicia zunehmend auch von ihren Eltern als Schuldige wahrgenommen. Schließlich soll sie, als eine Schwangerschaft bei ihr festgestellt wird, einen Jungen aus der Nachbarschaft heiraten, um einen Skandal zu verhindern.

Nach dem Prolog gibt es einen Sprung in die 1970er-Jahre: Ken, Greg und Art, inzwischen Ende 30, haben es sich zur Regel gemacht, einmal im Jahr, im November, in die Wälder Neuenglands zu fahren und „guten, sauberen, typisch amerikanischen Große-Jungs-Spaß“ zu haben. Dabei lassen sie ihren Alltag hinter sich und gehen zu dritt auf Jagd. Dieses Jahr treffen sie unterwegs mit einem Paar zusammen, das vor allem Ken neugierig beobachtet: Nancy und Martin, beide um die 30, wollen ebenfalls fernab von ihren Ehepartnern und Familien ein gemeinsames Wochenende verbringen – und geraten in die Klauen der drei Jäger. Diese nehmen das Paar gefangen und bringen es in ihre abgelegene Hütte. Dann, nach einiger Zeit, lassen sie den beiden einen Vorsprung, um zu entkommen. Ihre alljährliche Lust ist es nämlich, ihre gefangenen Opfer anschließend zu verfolgen. Diesmal allerdings entwickelt sich alles ganz anders als geplant – und zwar, weil die Jäger und Gejagte nicht allein sind, sondern allesamt aus sicherer Entfernung beobachtet werden.

Die Sicherheit und Präzision, mit der Osborn das Verhalten der verschiedenen Romanfiguren, von Tätern und Opfern, im Verlauf der Handlung beschreibt und dabei ihre „dunklen Seiten“, ihre geheimen, unterdrückten Wünsche schrittweise offen legt, zieht den Leser seines erfolgreichsten Thrillers von Anfang an in seinen Bann. Die Charaktere der Jäger, die nicht anders als pervers und psychisch krank bezeichnet werden können, werden in ihren verschiedenen Facetten thematisiert. Ken ist der kultivierte, Greg der grobschlächtige und Art der verklemmte, der seine homosexuellen Fantasien nur im Rahmen der Jagdausflüge ausleben kann. Die Gefühlswelt von Nancy und Martin wird aber ebenfalls aufgedeckt: Der Wunsch, aus dem monotonen Alltag auszubrechen, und die Einsamkeit, die sie in ihrer Ehe und ihrem „durchschnittlichen“ Leben erfahren, hat sie zueinander geführt.

Osborn setzt sie durch ihre Gefangennahme einer Extremsituation aus, in der auch ihre Schattenseiten, Vorurteile und Bigotterie ans Tageslicht treten. Diese Passagen ähneln beinahe Studien aus der Verhaltensforschung, wird in ihnen doch genauestens beschrieben, welche unterschiedlichen Strategien die Geiseln verwenden, um ihre Lage zu ändern. Martin auf der einen Seite lehnt sich gegen die drei Jäger auf: „,Ich hab’s schon gesagt. Ihr seid verrückt. Alle. Geisteskrank. Hört mal, wir sind hier nicht in Vietnam oder sonst wo. Wir sind keine Gooks oder Nigger. Wir sind Weiße. Wie ihr. Ich arbeite in einer Bank. Ich bin ein anständiger Bürger. Ich bin verheiratet. Ich habe Kinder.’“ Seine Partnerin dagegen sucht die Nähe der Entführer: „Nancy zwang sich zu einem Lächeln. Sie fand, so war es leichter für sie. Wenn sie sich mit aller Kraft bemühte, nicht daran zu denken, dass die drei sie nicht laufen lassen würden, dass Martin angekettet war, dass sie sie vielleicht sogar erschießen würden, falls sie versuchte abzuhauen, dann konnte sie die drei als Männer betrachten, die zu bekommen sich jede Frau glücklich schätzen würde.“

„Jagdzeit“ sei allen empfohlen, die einen intelligenten, politischen und zugleich spannend erzählten Thriller lesen wollen, der unter die Haut geht. Sein Autor präsentiert sich als genauer Beobachter der Menschen. Diese können ihre (un-)heimlichen Vorstellungen indes bezeichnenderweise nicht in der Stadt, die den Raum der modernen Kultur repräsentiert, sondern nur im Wald als der Region des Animalischen ausleben. Diese Konstruktion im Roman betont einmal mehr die „Ich-Spaltung“ beziehungsweise das „Doppelleben“, das die Menschen laut dem Schriftsteller als „Zivilisierte“ und „Wilde“ führen. Zum anderen erklärt dieser Aufbau nochmals die Absicht, die Osborn mit „Open Season“ verfolgt: Tabuthemen wie einen offenen Umgang mit Sexualität und Gewalt, mit Chauvinismus und Rassismus, die in der prüden US-amerikanischen Gesellschaft der Nachkriegszeit verdrängt werden, zu versprachlichen und damit sichtbar zu machen.

Titelbild

David Osborn: Jagdzeit.
Übersetzt aus dem Englischen von Marcel Keller.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2011.
276 Seiten, 10,95 EUR.
ISBN-13: 9783865322098

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