Was bedeutet Armut

In seinem Buch „Armes Deutschland“ versucht Ulrich Schneider eine Analyse des Armutsbegriffes

Von Esther MenhardRSS-Newsfeed neuer Artikel von Esther Menhard

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Peter Sloterdijks Artikel „Die Revolution der gebenden Hand“ vom 13. Juni 2009 im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erweckt neben anderen mehr oder weniger klaren Statements öffentlicher Personen wie beispielsweise Thilo Sarrazin oder Norbert Bolz den Eindruck, das Konzept des Sozialstaates – wie er in Deutschland herrsche – sei unzeitgemäß, benachteilige maßgeblich Gruppen in der Bevölkerung durch höhere Besteuerung und gefährde zunehmend das für eine demokratische Ordnung wesentliche Gut der Freiheit in nicht zumutbarer Weise. In der Diskussion um eine Neudefinition des Sozialstaates wird diese Position allerdings von den Menschen vertreten, die ihre Rechte als Begüterte gewahrt wissen wollen. Mit der Wahl des Begriffspaares „Unproduktive“ gegen „Produktive“ wird deutlich, gegen wen Sloterdijk argumentiert. Die Perspektive derjenigen, die existentiell direkt oder indirekt von bestimmten Steuern abhängig sind, bleibt in den Erörterungen Sloterdijks auf ein zunehmend sich etablierendes Klischee beschränkt, dass Arbeitslose – beziehungsweise „Unproduktive“ – auf Kosten derjenigen leben, die als „Produktive“ die Gesellschaft aufrecht erhalten.

Ulrich Schneider geht in seinen Untersuchungen von der Perspektive der Menschen aus, die täglich mit der Frage konfrontiert sind, wie sie mit dem wenigen Geld, das sie haben, so haushalten sollen, dass es bis zum Ende des Monats reicht. Er wählt die Perspektive der Menschen, die darauf angewiesen sind, dass es Einrichtungen gibt, die ihnen günstige Kleidung vermitteln und Lebensmittel. Hinter der Frage, was einen Sozialstaat ausmachen soll, steht zunächst die grundlegende Frage nach dem, was ein Mensch zum Leben braucht, wenn er Bürger einer Gesellschaft in einem Staat wie Deutschland ist. Und von dieser Frage geht Schneider in seinen Untersuchungen aus, wobei der Schwerpunkt seiner Überlegungen bei der Frage liegt, worin Armut besteht, inwiefern ein Mensch in Deutschland arm ist. Welchen Mangel muss er erleiden, um als arm wahrgenommen zu werden? Klar ist für Schneider, dass sich Armut in Deutschland nicht eindeutig ausmachen lässt wie beispielsweise in Ländern der Dritten Welt, wo das Elend alarmierend sichtbar wird. Es muss keiner verhungern. Auch die Möglichkeit, an Kleidung zu kommen, ist größtenteils gegeben. Was er als „versteckte Armut“ bezeichnet, betrifft allerdings einen Großteil der deutschen Bevölkerung. Als „versteckt“ bezeichnet er sie, weil viele Menschen sich darum bemühen, sie nach außen hin nicht zu zeigen. Mit Ratengeschäften und Verschuldung versuchen viele, eine Fassade aufrecht zu erhalten, die allerdings früher oder später zusammenfallen muss. Arm zu sein, bedeutet für viele, gescheitert zu sein.

Ursprünglich als Maßnahme eingeführt, mit der es Arbeitslosen ermöglicht werden sollte, nach kurzer Zeit ohne Beschäftigung wieder Eingang in den Arbeitsmarkt zu finden, bedeutet Hartz IV nach Schneider gegenwärtig den Eingang in die Langzeiterwerbslosigkeit und Verschuldung. Hartz IV ist anders als gedacht ein Weg, Menschen arm zu machen und sie auch arm bleiben zu lassen. Diese Armut bedeutet für viele nicht weniger als Isolation. Was an sozialem Umfeld durch eine feste Arbeitsstelle gegeben ist, fällt mit der Erwerbslosigkeit weg. Der Austritt aus dem Sportverein, weil das Geld dazu nicht reicht, ist ein einfaches Beispiel dafür, wie schnell weitere soziale Kontakte lahm gelegt werden. Armut besteht nach Schneider dabei vor allem in den geringen Möglichkeiten der Einzelnen, aus eigener Kraft aus dem Hartz IV-Status wieder herauszukommen. Hartz IV ist daher für viele keine Übergangslösung, sondern wird zum dauerhaft Leben bestimmenden Gerüst. Wenn man beispielsweise keine Ausbildung vorweisen kann, bedeutet Hartz IV definitiv Perspektivlosigkeit. Aber auch Ausbildung und absolvierte Praktika garantieren nicht die Chance auf einen festen Arbeitsplatz.

Schneider stellt heraus, mit welchen Mitteln das Phänomen der Armut in der Politik geleugnet, wegdefiniert beziehungsweise kaschiert wird. „Ob die Sozialhilfe wirklich vor Armut schützen kann, was eigentlich Armut in Deutschland bedeutet und wie eine Sozialhilfe beschaffen sein müsste, die tatsächlich in der Lage ist, Armut zu verhindern – das alles wird mit Kalkül (aus der politischen Debatte) ausgeklammert.“

Stattdessen wird stets nur darauf verwiesen, wie vielschichtig der Armutsbegriff sei, wie schwierig eine klare Definition und wie sinnlos die Beschäftigung mit dem Thema „Armut“ erscheinen müsse, bevor nicht eine einigermaßen brauchbare Definition gefunden sei. So verfuhr beispielsweise der Staatsekretär Werner Chory (CDU). Unter anderem war die Berechnung einer Armutsstatistik des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung nach Schneider nachweislich von Interessen geleitet, was ein grundsätzliches Problem in der Armutsberechnung und -berichterstattung ausmache. Denn wer vertritt die Interessen derjenigen, die keine eigene Lobby haben?

Schneider baut seine Untersuchung nachvollziehbar auf. Er erarbeitet die Hintergründe und Kontexte der Diskussion um Armut in Deutschland und Hartz IV, um zu zeigen, wie es zu der gegenwärtigen Form unseres Sozialstaates gekommen ist. Sehr hilfreich ist die genaue Analyse derjenigen Faktoren, die die einzelnen Statistiken ausmachen. Auch erläutert Schneider, wie sich der Hartz IV-Regelsatz zusammensetzt und absurd und realitätsfern die Berechnungen beziehungsweise Schätzungen für die Sätze der einzelnen Ressorts wie zum Beispiel „Freizeit, Unterhaltung und Kultur“ oder „Körperpflege“ sind.

Schneiders Versuch eine alternative Analyse des Armutsbegriffes ist von der Vorstellung geleitet, dass es bei der Frage nach der Reform der Sozialhilfe und des Sozialstaats um Menschen mit konkreten Bedürfnissen geht. Schneider verteidigt die Interessen bedürftiger Menschen nach gesellschaftlicher Anerkennung, ergreift für sie Partei und fordert Verständnis für diejenigen ein, die in Sloterdijks Wunsch nach einer „Revolution der gebenden Hand“ als unproduktive ,Schmarotzer‘ diffamiert werden. In „Armes Deutschland“ deckt Schneider auf, wie wenig die Politik sich dem Thema „Armut“ widmet, dass Armut eine Tatsache ist, erkannt und angegangen werden muss.

Titelbild

Ulrich Schneider: Armes Deutschland. Neue Perspektiven für einen anderen Wohlstand.
Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
254 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783938060575

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