Die Unmöglichkeit einer Insel

Silvia Avallone erzählt in ihrem Roman „Ein Sommer aus Stahl“ eine mitreißende Geschichte über Freundschaft, die Schicksale im Schatten einer Stahlfabrik und beschwört die Schönheit und Kraft der Jugend

Von Sabine Lüdtke-PilgerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Lüdtke-Pilger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2001, Italien, Piombino: Hier wütet ein Monster. Seine rostigen Köpfe ragen in den Himmel. Giftigblau, gußeisenrot, schwarze und violette Blitze zucken. Das Monster ist gefräßig. Es verdaut, mischt, spuckt aus, unablässig, Tag und Nacht. Es stirbt – aber es hat doch genug Macht, Schicksal zu sein. Körper zu zermalmen, Träume zu fressen, das Schlechteste aus den Menschen herauszuholen. Das Monster heißt Lucchini, ist eine Stahlfabrik und vielleicht der einzige Grund, warum an diesem Ort Menschen leben; zwischen Gift, verstümmelten Katzenkörpern und Urinrinnsalen im Treppenhaus.

Am Horizont liegt Elba, Sehnsuchtsort, Symbol einer besseren Welt – nur wenige Kilometer entfernt, scheint es für die Bewohner von Piombino dennoch unerreichbar. An diesem traurigen Ort in der Via Stalingrado, einer schäbigen Hochhaussiedlung, leben die 13-Jährigen Freundinnen Anna und Francesca. Der Sommer ihres Lebens liegt vor ihnen. Der Strand gehört ihnen. Ihre Körper haben sich verändert. Wild und unschuldig toben sie in den Fluten des Meeres, ziehen die Blicke der Männer und den Neid der Frauen auf sich. Ihre erwachende Schönheit steht im Kontrast zur Tristesse einer untergegangenen Arbeiterwelt.

Anna und Francesca explodieren vor Körperlichkeit, Neugierde und Lebenslust, erkunden ihre Sexualität, geben den geheimen Orten ihrer Kindheit eine neue Bedeutung. Sie sind Freundinnen, Verbündete, vielleicht Liebende, die sich gegen die grausame Welt der Erwachsenen auflehnen. In diesem Sommer schmieden sie Pläne, träumen von einer gemeinsamen Zukunft, die nicht in dem Schatten der Stahlfabrik liegt.

Doch dann verliebt Anna sich in den Freund ihres Bruders. Francesca hat in ihrer Zukunft plötzlich keinen Platz mehr. Die Freundschaft zerbricht. Ein Jahr später, nach etlichen Schicksalsschlägen begegnen sie sich wieder. Francesca tanzt mittlerweile in einem heruntergekommen Striplokal, in dem die betrunkenen Stahlarbeiter ihren Monatslohn verprassen und das Monster Lucchini hat gerade Annas Bruder getötet. Endlich machen sich die Freundinnen auf nach Elba.

Silvia Avallone wird in ihrem Heimatland längst gefeiert. Sie steht für neue junge italienische Literatur und die Wiederentdeckung des Neorealismo. Damit belebt sie eine längst vergessene literarische Epoche, gibt Einblicke in eine andere Wirklichkeit, erzählt von einem Italien voller Hoffnungslosigkeit, Kriminalität und Gewalt.

Dennoch: Avallones Debütroman ist mehr als ein Sozialdrama. Es ist vor allem eine Geschichte über den einzigartigen Zustand der Jugend, dieser magischen Zeit, in der alles möglich zu sein scheint. Die Welt ist eine Bühne, jedes Gefühl ursprünglich, von einer nie wiederkehrenden Intensität.

Die Autorin beschreibt diesen Zustand so sinnlich, wild und authentsich, beschwört dieses längst vergessene Gefühl so poetisch herauf, dass man nicht anders kann, als zu trauern.

Die schöne Illusion wird zum schmerzlichen Verlust, die Jugend zum Sehnsuchtsort – und am Horizont liegt Elba.

Titelbild

Silvia Avallone: Ein Sommer aus Stahl. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Michael Killisch-Horn.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011.
415 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783608938982

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