Gelungenes Studienbuch
Andreas Kellers literaturwissenschaftliche Einführung zur „Frühen Neuzeit“ bietet eine kenntnisreiche Darstellung der Epoche
Von Annika Rockenberger
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit dem Einführungsband „Frühe Neuzeit – Das rhetorische Zeitalter“ aus der Reihe „Studienbuch Literaturwissenschaft“ des Berliner Akademie Verlags liegt nun auch eine kenntnisreiche und fundierte Darstellung der Epoche zwischen Mittelalter und Neuzeit in überschaubarem Umfang vor. Das Studienbuch ist als „pragmatischer Begleiter für Seminar, Tutorium und Selbststudium“ konzipiert und richtet sich sowohl an Studierende in allen Phasen des Studiums wie auch an Lehrende und Forschende.
Inhalt und Anlage des Buches sind erfreulicherweise nicht – wie bei den in letzter Zeit erschienenen BA/MA-studiengangskompatiblen Einführungen üblich – starr an ‚Modulen‘ orientiert, sondern eröffnen aus verschiedenen Blickwinkeln thematisch-diskursive Zugänge zur literarischen Überlieferung der Frühen Neuzeit.
Andreas Kellers Darstellung der literarischen Epoche „Frühe Neuzeit“ ist in 14 Kapitel von etwa gleichem Umfang gegliedert. In einem ersten allgemeinen Überblick zu „Epochenbegriff und Forschungsperspektiven“ spricht sich Keller für eine wertneutrale, dezidiert literarhistorisch ausgerichtete Epochenbezeichnung ‚Frühe Neuzeit‘ respektive ‚Mittlere Deutsche Literatur‘ (sensu Hans-Gert Roloff) aus und verlegt die Epochengrenzen literatur- und sprachhistorisch gut begründet auf etwa 1380 (Abfassung des „Ackermanns von Böhmen“) bis 1790 (Erstpublikation von Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“). Die Frühe Neuzeit wird so als „ausgedehntes Kontinuum“ charakterisiert, das durch die sukzessive Bildung einer Öffentlichkeit bestimmt ist. Im Sinne einer rhetorischen ‚Durchdringung‘ aller Gesellschaftsbereiche könne die Frühe Neuzeit als „Dialogkultur“ aufgefasst werden, in der das Streitgespräch zum „epochale[n] Grundmuster“ werde. „Vielfältigste Probleme der Religion, des Staatswesens, der Bildung, Wissenschaft und Ökonomie werden im Austausch von konträren Argumenten exemplarisch verhandelt“, die „rhetorische Literatur ist das epochentragende Prinzip“. Diese dialogisch-rhetorische Form prägt alle Bereiche textlicher (wie bildlicher) Überlieferung sowie die zeitgenössische Konzeption von ‚Text‘. Die allgemeinen Ausführungen werden durch das Kapitel „Archiv und Autopsie“, in dem die spezifischen Überlieferungsbedingungen der Primärtexte, Bilder und Objekte literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzung, die heutigen ‚Fundorte‘ (Bibliotheken, vor allem aber Archive) nebst nützlichen Lektüre- und Verständnishilfen kurz dargestellt werden, abgeschlossen.
Dem allgemeinen Überblick folgt – verteilt auf fünf in sich geschlossene Kapitel – die Darstellung verschiedener Aspekte der Produktion literarischer Texte nach den Prinzipien der ars rhetorica. Erst vor diesem Hintergrund sei eine schlüssige und historisch stimmige Erklärung und Interpretation der literarischen Quellen zu leisten. Ausgehend vom aktuellen Forschungsstand nimmt Keller hier zentrale Themen wie „Poetik und Literaturbegriff“ in der Frühen Neuzeit, die „Argumentation als textgenetisches Prinzip“, Fragen zu „Bild, Sprache und Stil“, dem zeitgenössischen „Autorbegriff und Autortypen“, sowie den „Diskurse[n] und Textsorten“ in den Blick. Dem Leser wird anschaulich vermittelt, worin die Alterität der Überlieferungen dieser Epoche besteht, welchen Prinzipien die Textherstellung – sei es auf rhetorisch-poetischer, sei es auf handwerklich-technischer Ebene – folgt, in welchem gesellschaftlich-sozialen Kommunikationsrahmen einzelne Texte, Textsorten und ‚Gattungen‘ eingebunden waren. So wird deutlich, dass frühneuzeitliche Literatur immer eine konkrete Funktion im gesellschaftlichen Gefüge zu erfüllen hatte (Stichwort: Kasualdichtung) und vor diesem Hintergrund zu deuten ist.
Im ´„Medien und literarische Institutionen“ betitelten Kapitel werden die (neuen, prägenden) Medien rhetorisch-literarischer Kommunikation und ihre Verortung im Literaturbetrieb der Frühen Neuzeit dargestellt; der Fokus liegt hier auf dem ‚Medienwechsel‘ vom (im Mittelalter bevorzugten) Bild zum (gesprochenen wie geschriebenen) Wort. Ein Exkurs zu „Erziehung, Bildung und Wissenschaft“, in dem der frühneuzeitliche Bildungsbegriff sowie Formen der Wissensorganisation (Stichwort: Enzyklopädik) und Modi des Wissenstransfers skizziert werden, ergänzt die Ausführungen zum Literaturbetrieb.
Den zentralen Diskursen oder ‚Themen‘, die in der Literatur der Frühen Neuzeit immer wieder verhandelt werden, widmet Keller drei Kapitel. Auf Basis neuer und neuester Forschungsergebnisse zu „Religion und Religiosität“, dem Verhältnis von „Subjekt, Macht und Krieg“, zu „Raum, Zeit und Geschichte“ sowie zu „Naturerfahrung und [dem] Naturbegriff“ macht er mit den epochenprägenden Themen bekannt. Einen Ausblick auf gegenwärtige und zukünftige Forschungsfragen und gleichzeitig einen Einblick in aktuelle literaturwissenschaftliche Diskussionen zur Frühen Neuzeit gibt Keller im abschließenden Kapitel „Rezeption und Interpretation“.
Im Anhang der Einführung befindet sich ein umfangreicher, übersichtlicher Serviceteil mit aktuellen Informationen (Stand: 2008) zu einschlägigen Bibliografien, Nachschlagewerken und Literaturgeschichten, zu fachspezifischen nationalen wie internationalen Zeitschriften und Periodika, führenden Forschungsinstitutionen auf dem Gebiet der Frühneuzeitforschung sowie eine Reihe von interessanten Web-Adressen. Darüber hinaus bietet der Serviceteil auch eine Zusammenstellung verschiedener Textquellen und Werkausgaben (in pragmatischer Auswahl) zur literarischen Überlieferung nebst einem Verzeichnis sämtlicher zitierter sowie weiterführender Sekundärliteratur. Positiv hervorzuheben ist neben einem Personenregister das Glossar, in dem zentrale Ausdrücke und wichtige Fachtermini so ausführlich wie nötig und so knapp wie möglich in verständlicher Weise erläutert werden.
Andreas Kellers Studienbuch „Frühe Neuzeit – Das rhetorische Zeitalter“ lässt sich von einem breiten literaturwissenschaftlich wie allgemein kulturhistorisch interessierten Benutzerkreis problemlos zu gezielten Fragen und Themen konsultieren. Die einzelnen Kapitel sind so konzipiert, dass auch Quereinstiege jederzeit möglich sind. Alle wichtigen und/oder zentralen Begriffe sowie lateinischen Fachtermini aus der Rhetoriklehre werden dankenswerterweise übersetzt und erklärt. Auf komplexe Konzepte, historische Hintergründe, rhetorische wie poetologische Voraussetzungen wird jeweils intern verwiesen. So eignet sich der Band nicht nur für eine stringent lineare Lektüre – im Sinne einer umfassenden Epochendarstellung – sondern auch zur themen- respektive problembezogen – gezielten Lektüre einzelner Kapitel oder Abschnitte. Auf den Lesefluss eher störende frequente Fuß- oder Endnoten wird vollständig zugunsten intratextueller Kurzverweisung verzichtet. Zusätzlich erleichtern Stichworte in der anmerkungsfreundlichen Marginalspalte am Außenrand die Orientierung beim kursorischen Lesen und ermöglichen das gezielte Nachschlagen. Das Verhältnis zwischen Text und Abbildungen ist ausgewogen: Neben den die Thematik illustrierenden Abbildungen jeweils zum Kapitelbeginn geben die schwarzweißen Abbildungen von Titelblättern, Holzschnitten, Kupferstichen, Buch- und Individualhandschriften, Bau- und Kunstwerken einen Eindruck von der materialen Überlieferung der Epoche, mit der die angesprochenen Benutzer der Einführung sonst nur selten – wenn überhaupt – in Kontakt kommen. Die fundierte Darstellung der Frühen Neuzeit als dem rhetorischen Zeitalter wird durch eine angenehme Buchgestaltung und die gründliche Redaktion des Bandes abgerundet.
Es bleibt Kellers Studienbuch zu wünschen, dass es einen festen Platz in den Lektüreempfehlungen und Handapparaten germanistischer Seminare und Vorlesungen zur Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit einnimmt. Um die Aktualität des Bandes in Zukunft gewährleisten zu können, wäre es wünschenswert, das Literaturverzeichnis, vor allem aber den Serviceteil auf dem neuesten Stand zu halten: gerne auch als Download auf der Verlagshomepage.
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