Das Experiment mit der Farbe

Andrew Wiltons William-Turner-Biografie ist ein unentbehrliches Standardwerk

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Abbild einer großen Katastrophe: In der Nacht des 16. Oktober 1834 zerstörte ein Feuer den alten Westminster-Palast am Ufer der Themse. Dieses Bild malte ein genialer Maler, den viele für Englands größten Maler überhaupt halten: William Turner. Er war damals ungefähr 60 Jahre alt und auf der Höhe seiner Kraft. Dieses Bild, das die Serie der großen Nocturnes (mit den Lichtphänomenen einer nächtlichen Szenerie) in Öl und Aquarell einleitete, gehört zu seinen Meisterwerken. Es war natürlich auch ein Thema nach seinem Geschmack, ein Bild von Gewalt und Zerstörung, ein Bild von der Ohnmacht des Menschen angesichts der Elemente. Auch Untertöne sozialen Umbruchs sind mitgemeint. Und alles zusammen brachte Turner in einen wunderbar gemalten Wirbel von Licht und Farbe, in dem diese beiden Elemente ineinander verschmelzen und eins zu werden scheinen. Sein ganzes Leben war er von Feuer, Wasser, Wind und Licht besessen gewesen. Und hier nun konnte er sie in wahrlich spektakulärem Maßstab zusammen erleben.

Andrew Wilton, seit 1985 Konservator der einzigartigen Turner Collection an der Londoner Tate Gallery – er hat zahlreiche Ausstellungen und Publikationen zu Turner herausgebracht – fasste seine lebenslangen Bemühungen um diesen Wegbereiter der modernen Malerei 1987 in dem englischsprachigen Werk „Turner in his time“ zusammen. Eine deutsche Übersetzung erschien bald darauf im Hirmer Verlag München. Nunmehr hat der E. A. Seemann Verlag Leipzig eine Neuausgabe in größerem Format und neuem Layout vorgelegt, mit einem aktualisierten Text, der die neuesten Forschungsergebnisse mit einbezieht, und einer vollständig überarbeiteten Bildauswahl – alle Turner-Abbildungen werden jetzt in Farbe wiedergegeben. Galt schon die englische Ausgabe als das Standardwerk schlechthin, an dem keiner, der sich mit Turner beschäftigt, vorbei kann, so hat sich nun in ihrer Neufassung sowohl ihr Gebrauchs- als auch ihr Schau- und Repräsentationswert wesentlich erhöht. Es kann jetzt zu den schönsten Künstler-Bildmonografien dieses ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts gezählt werden.

Mit Respekt verneigt sich der Turner-Biograf Wilton vor seinen Vorgängern, den Pionieren der Turner-Forschung, wie seinen Zeitgenossen, den Autoren neuer Turner-Biografien, auch wenn er sich im Einzelnen mit ihnen auseinandersetzt. Turner war eine höchst widerspruchsvolle Persönlichkeit und in den Kommentaren zu seinen eigenen Bildern liebte er es, mit seiner sarkastischen Ironie den Betrachter zu verunsichern. Aber er besaß auch einen Hang zur Mystifizierung, zur Verrätselung, der sich im Alter immer stärker ausprägte. Seine Fantasie führte ihn immer mehr zu einem Begriff von Malerei, in dem Poesie und Metaphysik sich miteinander verbinden konnten. „Die Herausforderung, die Wahrheit in Turners Leben inmitten des Gewebes irreführenden Informationen, das er selbst um seine Angelegenheiten spann, herauszufinden“, habe, so Wilton, dazu geführt, dass die Biografen ganz unterschiedlichen Themen und Motiven in Leben und Werk Turners nachspürten.

Der Mensch Turner – er war „nichts als ein gewöhnlicher Mensch, ein eingefleischter Plebejer“, schrieb 1939 der Turner-Biograf A. J. Finberg – wurde dem Künstler gegenübergestellt. Bei vielen Belegen aus dem Leben Turners handelt es sich wohl um Erfindungen journalistischen Klatsches oder um spätere Rekonstruktionen. Tatsache und Fiktion zu trennen, war so die eine Aufgabe, die Wilton sich stellte, dem Leser Kapitel für Kapitel in Verbindung mit der Chronologie jedes Lebens- und Schaffensjahrzehnts vorzustellen. Die andere bestand darin, Turners Persönlichkeit in Selbstzeugnissen, in Briefen, Gedichten und Notizen, aber auch in zeitgenössischen Quellen lebendig werden zu lassen. Die unschätzbaren detaillierten Chronologien des jeweiligen Jahrzehnts enthalten ebenfalls Originalzitate des Künstlers, die Routen seiner Reisen sowie Passagen aus seinen Skizzenbüchern und weiteres Dokumentationsmaterial.

Zu der Zeit, als Turner den Brand des Parlaments in London aquarellierte und malte, hatte er sich schon von den traditionellen klassischen Themen aus Bibel und Mythologie abgewandt und zeitgenössische Motive wie Schiffe und Eisenbahnzüge zu malen begonnen. Er hatte England und Wales, Frankreich und die Schweiz, Belgien, Holland und Deutschland bereist. Deutschland hat er zwischen 1817 und 1844 der Länge und Breite nach, von der Ostsee bis zu den Alpen, von der Donau bis an die Oder, von Aachen bis Dresden durchmessen. Seit er aber in Italien dies ganz andere Licht erlebt hatte, wandte er sich immer leidenschaftlicher dem Experiment mit der Farbe zu und nahm als Vorwurf natürliche Katastrophen wie Unwetter, Sintflut und Sturm. Hier verschmelzen Bewegung und Licht in wirbelnden, konvulsivischen Kompositionen.

Ab 1830 hebt für Turner die entscheidende Periode seines Lebens an. Eigentlich ist er nicht „koloristischer“ geworden. Mit seinen Aquarellen hat er begonnen, sich von der Zeichnung zu befreien. Er war der deutlichste Vorläufer des Impressionismus. „Farbanfänge“ – unter dieser Bezeichnung fasste Turner die nahezu 400 Aquarelle zusammen, die zwischen 1820 und 1830 entstanden sind – bedeuten für ihn, dass er beginnt, nur mehr die Farbe der Dinge zu betrachten. Keine Spur von Zeichnung mehr in seinen Aquarellen, nichts als Formen aus leichten, meist sehr blassen Farbfeldern. Der – so könnte man sagen – „Tachismus“ des Aquarells erreicht einen solchen Abstraktionsgrad, dass das Motiv mitunter unkenntlich bleibt. Der große Umbruch vollzieht sich dann in den von Lord Egremont, jenem enthusiastischen und verwöhnten Sammler zeitgenössischer englischer Kunst, bestellten Gemälden, die Turner zwischen 1830 und 1837 malt. Jetzt erst kommt die befreiende, Formen und Farben auflösende Betrachtung des Lichts richtig zur Geltung.

Es überrascht nicht, dass Turner mit diesen Arbeiten die damalige Kunstwelt in höchste Verwirrung stürzte. Viele meinten, Turner sei nun wirklich am Ende. Sie hielten ihn für senil, manche sogar für verrückt. Nur wenige erkannten, dass dies die Zeit seiner leidenschaftlichsten und abenteuerlichsten Meisterwerke war. Blättert man in dem Band, so fallen sie einem gleich ins Auge. In „Staffa, Fingals Höhle“ (1832) bleibt trotz des genauen Titels die felsige Steilküste der Insel Staffa nahezu unsichtbar, aufgelöst in dem seltsamen Licht, das die untergehende Sonne in der unendlichen Weite des Himmels verbreitet. Den Fokus bildet eine Rauchsäule, der dunkle Rauch eines Schiffes, das in einer trüben Zone des Meeres in seinen Umrissen selbst unbestimmt bleibt.

Bei der „Jacht, die sich der Küste nähert“ (1835) verweist Wilton darauf, dass es sich um ein „unvollendetes vollendetes“ Werk handeln könnte. Lässt Turner hier den Schiffskörper in der einheitlich rötlichen Farbskala fast verschwinden, arbeitet er ihn im „Kriegsschiff Téméraire“ (1839), einem Veteran der Schlacht von Trafalgar, der zum Abwracken zu seinem letzten Ankerplatz geschleppt wird, tragisch umwittert heraus. Meisterhaft die lichterfüllte Behandlung des „Schlosses Norham, Sonnenaufgang“ (1835), die ganze Szene scheint sich in Licht aufgelöst zu haben. „Die Dogana, San Giorgio, Citella, von den Stufen des Hotels Europa“ (1842), möglicherweise aus einer seiner vielen Farbstudien entstanden, die Turner in Venedig machte, ist wiederum kühl und auf klassische Weise komponiert mit einer behutsam gehaltenen Balance zwischen den Gebäuden und dem offenen Wasser.

„Regen, Dampf und Geschwindigkeit – Die ‚Great Western Eisenbahn“ (1844) wiederum vereint Turners Leidenschaft für das Experimentelle und seine Liebe zu den Alten Meistern, seine Verpflichtung gegenüber der klassischen Landschaft und seine lebhafte Anteilname an der modernen Welt. Der Zug, der hier zu sehen ist, war damals der schnellste Eisenbahnzug Europas. Sein Anblick, der eine Welt der Zukunft, die Welt der Maschinen ankündigt, fügt sich harmonisch in das träumerische Bild einer Landschaft bei Regen ein. Auf fast ironische Weise hat Turner den Begriff der Geschwindigkeit relativiert, indem er – kaum erkenntlich – einen Hasen auf den Schienen laufen lässt. Die späten Bilder galten den Zeitgenossen allenfalls als exzentrische Eskapaden eines sonderbaren Genies. Doch können wir gerade in dieser letzten Phase von Turners Entwicklung bemerken, wie nahe sich – sowohl im Ausdruck wie in der Technik – die noch an eine greifbare Wirklichkeit gebundenen Gemälde wie „Great Western Eisenbahn“ und die von Themen der Apokalypse angeregten Bilder wie „Engel, in der Sonne stehend“ (1846) im Grunde genommen stehen. Aber gerade in den Landschaften, in denen sich Turners Genie am deutlichsten offenbart, so erkennt Wilson, ist die Natur in Farben der Fantasie gemalt

Turner hat – das kann Wilson nachdrücklich verdeutlichen – als erster Maler seine Natur- und Weltempfindung in die Sprache einer freigesetzten Farbe übertragen, er hat die Farbangebote der sichtbaren Natur weit überschritten, um eine dichterische Vision von ihr überhaupt erst sichtbar zu machen. Seine lebenslange Besessenheit, in seinen Bildern die Erscheinung der Welt auf die gesetzmäßig geordnete Farbigkeit zu prüfen, führte ihn bis an die Grenze der Abstraktion. Er hatte das Aquarellieren alla prima ohne festgelegte Vorzeichnung erlernt und die Fähigkeit erworben, diffuse und sich wandelnde Lichtwirkungen wiederzugeben. Diese Technik übertrug er dann auch auf seine Ölmalerei und erreichte in ihr die gleiche Transparenz der Objekte und Beweglichkeit des Lichts, wie sie für seine Aquarellmalerei so eigentümlich und charakteristisch sind. Während in seinen Nordmeer-Landschaften Sturm und Düsternis, Gefühl und Melancholie – romantische Sehnsucht eben – walten, regieren in den italienischen Bildern der strahlend blaue Himmel und das gleißende Licht, hell bis an die Grenze des Malbaren. Turners Venedig-Ansichten lassen die topografische Exaktheit der Canaletto-Veduten vermissen, sie sind meist Bilder eines romantisch idealen Venedig, das in den späten Gemälden nur noch als Kulisse für reine Farbstimmungen dient. Kein anderer Maler der Romantik hat die Auflösung eines Bildmotivs so weit und so systematisch vorangetrieben wie Turner gerade in seinen späten venezianischen Aquarellen. Der französische Schriftsteller J. K. Huysmans sprach treffend von Turners „verflüchtigten Landschaften“. Die durchleuchtete Atmosphärik, die Auflösung der dinglichen Konturen durch die locker gesetzte Farbe und das Improvisatorische der Handschrift Turners haben den nachfolgenden Künstlern und Kunstströmungen immer wieder von neuem Anregungen gegeben. Andrew Williams ist ein hervorragender Führer durch die Welt Turners, ernst, aber begeisterungsfähig und ganz von seinem Thema erfüllt.

Titelbild

Andrew Wilton: William Turner. Leben und Werk.
E. A. Seemann Verlag, Leipzig 2011.
256 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783865021427

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