Im Sturm der Studentenbewegung

Über Henning Marmullas Studie „Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 1968“

Von Paola QuadrelliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paola Quadrelli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Obwohl Hans Magnus Enzensberger seine Rolle in der 68er-Studentenbewegung öfter als die des „teilnehmenden Beobachters“ heruntergespielt hat, wurde die aktive Beteiligung des Herausgebers des „Kursbuchs“ an der Entwicklung der Studentenbewegung schon zur damaligen Zeit als unumstrittene Tatsache anerkannt; so erschien 1969 eine italienische Anthologie von Essays und Artikeln aus Enzensbergers Zeitschrift, die mit dem bedeutenden Titel „Kursbuch: l’opposizione extraparlamentare“ versehen war und in der der Herausgeber, Giorgio Backhaus, rechtzeitig auf die „direkte Beteiligung“ und auf die „festen Stellungnahmen“ Enzensbergers in Bezug auf die politische Tätigkeit der Studenten hinwies.

Über die Bedeutung des „Kursbuchs“ für die Gestaltung einer „Gegenöffentlichkeit“, die in den aufbegehrenden Studenten Zuhörer und Gesprächspartner fand, sowie über den Beitrag Enzensbergers zur Neudefinition sowohl der Rolle des Schriftstellers und der Funktion der Literatur, als auch des Mandats des Intellektuellen, berichtet Henning Marmulla ausführlich und kompetent in dieser an der Bielefelder Universität entstandenen Studie, die übrigens in der kaum überschaubaren Enzensberger-Forschung das erste Werk darstellt, das sich umfassend mit der 1965 von Enzensberger gegründeten und herausgegeben Zeitschrift beschäftigt.

Das „Kursbuch“ erschien 2008 zum letzten Mal; Marmullas Analyse widmet sich aber, dem Titel zufolge, Enzensbergers Zeitschrift im Sturm der Studentenbewegung und setzt sich dementsprechend mit den Heftausgaben auseinander, die im Suhrkamp Verlag zwischen Juni 1965 und März 1970 erschienen sind und in denen Hans Magnus Enzensberger als Herausgeber und der Suhrkamp-Lektor Karl Markus Michel als Chefredakteur fungierten. Die Zeitschrift fand dann in verschiedenen Verlagen „Unterkunft“ (nach dem Bruch mit Suhrkamp zunächst bei Klaus Wagenbach); Enzensberger gab aber bereits im September 1975 seine Herausgeberschaft auf und zog sich weitgehend aus dem Projekt zurück, wo letztendlich auch die Aufschrift „unter Mitarbeit von Hans Magnus Enzensberger“ im Juni 1990 verschwand.

Die Darstellung Marmullas gliedert sich in drei größere Kapitel: die „Vorgeschichte“, die „Geschichte“ und die „Nachgeschichte“ des „Kursbuchs“. Die klare Einteilung, sowie der schlichte Titel von Marmullas Band deuten schon jene stilistische und argumentative Klarheit an, die bei der spannenden Lektüre dieser lehrreichen Studie ihre vollkommene Bestätigung findet.

Zur Vorgeschichte des „Kursbuchs“ gehört in Marmullas Darstellung, die sich methodisch an dem kultursoziologischen Ansatz Pierre Bourdieus ausrichtet, eine knappe Skizzierung des „literarischen Feldes“ in Deutschland zur Zeit der literarischen Anfänge des jungen Enzensberger. Marmulla schildert einerseits die Spannungen zwischen der poetologischen Stellungnahmen konservativer Literaturkritiker und namhafter Schriftsteller der „inneren Emigration“ und den Forderungen der Teilnehmer der „Gruppe 47“ andererseits, die, „so heterogen die verschiedenen Ansätze auch sein mochten“ ein „dezidiert politisches“ literarisches Programm vertritt.

In einer Schrift aus dem Jahre 1955 für den von Hans Bender herausgegeben Gedichtband „Mein Gedicht ist mein Messer“ griff der 26-jährige Enzensberger die Benn’sche Kunstauffassung der „poésie pure“ an und in dem, seinem ersten Lyrikband „verteidigung der wölfe“ beigelegten „Waschzettel“ verweist der Autor in Brecht’scher Manier ausdrücklich auf den Gebrauchswert seiner Gedichte. Die gesellschaftliche Richtung und die politische Relevanz der literarischen Produktion Enzensbergers zeichneten sich demzufolge schon von Anfang an stark ab.

Enzensberger setzte sich im Literaturbetrieb bald durch Radiofeatures, Essays und Lyrikbände durch und dank seiner sprachlichen Kenntnisse und seines Kosmopolitismus bildete er ein Netz internationaler Beziehungen: Vor der Gründung des „Kursbuchs“ verfügte Enzensberger deshalb über ein hohes „kulturelles“, „symbolisches“, und „ökonomisches „Kapital“ (um Bourdieus Begriffe zu benutzen), das er Mitte der 60er-Jahre erfolgreich im Projekt der Zeitschrift „Kursbuch“ einsetzen konnte.

Zur „Vorgeschichte“ gehört aber auch die erste umfassende Darstellung in deutscher Sprache des gescheiterten Projekts einer internationalen Zeitschrift, an der zwischen 1961 und 1962 ein Kreis einflussreicher italienischer, französischer und deutscher Schriftsteller arbeitete (darunter Elio Vittorini, Maurice Blanchot, Uwe Johnson, und Enzensberger selbst). Das „Kursbuch“, erklärt Marmulla, sei nämlich als die „nationale Umsetzung“ dieses „im internationalen Rahmen geplanten Projekts“ anzusehen.

Diese internationale Zeitschrift, die zeitweilig einfach „Revue Internationale“ genannt wurde und später den Namen „Gulliver“ bekam, sollte eine neue kollektive und internationale Art der Literatur und der Kritik etablieren. Dem Plan einer internationalen Kooperation auf publizistischer Ebene ging die internationale Solidarisierung mit den französischen Unterzeichnern des sogenannten „Manifeste de 121“ voraus: in dieser aufsehenerregenden Petition, die im Spätsommer und im Herbst 1960 in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften Frankreichs zirkulierte, erklärten 121 französische Intellektuelle ihre Solidarität mit der algerischen Befreiungsbewegung und rechtfertigten die Desertion französischer Soldaten im Namen eines im Manifest deklarierten „Rechts auf Ungehorsam“. Mit den Unterzeichnern des Manifests, die durch die polizeilichen Maßnahmen der französischen Regierung betroffen waren, solidarisierten sich Intellektuelle aus verschiedenen Ländern Europas; auf deutscher Seite meldeten sich die Schriftsteller der Gruppe 47 sowohl mit einem stark offensiven Text, deren definitive Fassung von Hans Werner Richter und Hans Magnus Enzensberger stammte, als auch mit einem offenen Brief von Alfred Andersch und Max Frisch an André Malraux, den Kulturminister der Regierung De Gaulles.

Das folgende Projekt einer italienisch-französisch-deutschen Zeitschrift stellte den Versuch dar, den gemeinsamen Protest und die aufgekeimte internationale Solidarität in eine institutionalisierte Form zu kanalisieren. Zentral im Projekt der „Revue Internationale“, das hauptsächlich wegen unterschiedlicher literarischer Schreibweisen scheiterte, war die Neudefinition des Mandats des Intellektuellen und die Erfindung einer dem intellektuellen Engagement gemäßen Schreibweise.

Je mehr die Schwierigkeiten auftauchten, die ein Scheitern der „Revue“ wahrscheinlich machten, desto mehr hegte Enzensberger die ihm schon lange am Herzen liegende Idee, eine eigene Zeitschrift zu gründen. Anhand des (unveröffentlichten) Briefwechsels Siegfried Unselds mit Enzensberger und anhand weiterer wertvoller Archivalia aus dem Suhrkamp Verlagsarchiv rekonstruiert Marmulla haargenau die Kontakte, die Vereinbarungen und die Treffen, die zur Entstehung des „Kursbuchs“ führten. Zu diesen Verabredungen gehört das von Uwe Johnson vermittelte Treffen in Kopenhagen im März 1965, in dem ein Vertrag zwischen dem Verleger und dem Herausgeber unterzeichnet wurde, der dem Herausgeber eine fast uneingeschränkte Unabhängigkeit versicherte; gerade auf das Beharren Enzensbergers auf Autonomie sei später der Bruch mit Unseld zurückzuführen, der im Juni 1970 zur Trennung des „Kursbuchs“ vom Suhrkamp Verlag führte (diesem „langen Ende“ widmet Marmulla ein 20-seitiges, äußerst spannendes Kapitel).

Die Bindung an das Soziale der Gegenwart, die eine gewisse aktuelle Relevanz bei der Auswahl der Texte vorsah, die Abwesenheit von Rezensionen, die auf eine Abneigung Enzensbergers gegenüber dieser journalistischen Gattung zurückzuführen war, eine ausgeprägte Internationalität, die sich in der Fülle von aus anderen Sprachen übersetzten Texten niederschlug, der dialektische Aufbau der Hefte, in denen ein breites Panorama an Meinungen zu einem Thema dargeboten wurde, sowie der Anspruch auf die Veränderung von Wahrnehmungsschemata bildeten vom Anfang an die Kennzeichen der Zeitschrift.

Zum Verständnis der medienkritischen und politischen Rolle, die Enzensberger seinem „Kursbuch“ zuschrieb, ist Marmullas Behandlung der im essayistichen Band „Einzelheiten“ (1962) enthaltenen Analysen der Bewusstseinsindustrie unabdingbar. Ausgehend von der Anerkennung der den Medien inhärenten Kraft zur Manipulation und der Entlarvung der Funktionsmechanismen der Bewusstseinsindustrie, die imstande ist, jede Stellungnahme, so radikal sie auch sein mag, aufzusaugen und ihr das kritische Potential zu entziehen, bietet Enzensberger dem Leser mit dem „Kursbuch“ eine „Gegenöffentlichkeit“, die „der veröffentlichten Meinung Alternativen der Weltwahrnehmungen entgegensetzen wollte“ und die sich als Ziel setzte, ein Licht auf bisher vernachlässigte Bereiche der Realität zu werfen (zu diesen „vernachlässigten Bereichen“ gehörten schon ab dem zweiten „Kursbuch“ die Länder der dritten Welt und ihre Befreiungsbewegungen).

Der Vorrang der Veränderung von Wahrnehmungsschemata – der „Veränderung in den Köpfen“, wie Marmulla eindringlich formuliert – gegenüber der Veränderung des politischen und wirtschaftlichen Systems bildete eine Konstante im Denken Enzensbergers. In ihr ist, laut Marmulla, der Kern für die Kontroverse mit Peter Weiss zu erkennen, die im „Kursbuch“ 11 entflammte. Wenn das elfte Heft, das im Januar 1968 erschien, dem Thema „Revolution in Lateinamerika“ gewidmet war, thematisierten die folgenden Kursbücher ausschließlich die internationalen Studentenbewegungen. Das „Kursbuch“ wurde zu einem Kommunikationsraum für die Akteure der Studentenbewegung und stellte ein öffentlich wirksames Forum zur Intervention in das politische Feld der Bundesrepublik.

In Bezug auf die Intervention Enzensbergers in den Kämpfen der 68er-Bewegung, spricht Marmulla von einer „Doppelstrategie“: Enzensberger beteiligte sich nämlich direkt an Aktionen der 68er-Bewegung (so protestierte er etwa für die von der Außerparlamentarischen Opposition geforderte tägliche Sendezeit beim Sender Freies Berlin) und verzichtete nicht auf persönliche, aufsehenerregende Aktionen. Dazu zählt der Umzug von den USA nach Cuba im Herbst 1968, den Enzensberger unternahm, nachdem er durch einen offenen Brief an den Präsidenten der Wesleyan University sein Stipendium an der dortigen Universität zurückgegeben hatte. Durch seine Reise nach Kuba hatte Enzensberger die Absicht, direkt im Kontakt mit den Trägern der sozialistischen Revolution in Kontakt zu treten und eine Situation des gegenseitigen Lehrens und Lernens zwischen ihm, als bundesdeutschem Intellektuellen, und den kubanischen Studenten herzustellen.

Dass diese Erwartungen wegen des Widerstandes der kubanischen Regierung enttäuscht wurden, erzählt uns Marmulla mit der gewöhnlichen Akribie und mit erzählerischem Elan in der „Nachgeschichte“. Andererseits arbeitete Enzensberger auf der intellektuellen Ebene: durch seine Essays im „Kursbuch“ und durch seine literarischen Texte setzte er sich zur Veränderung der Wahrnehmung der Welt ein, geleitet von der Überzeugung, dass Literatur stets ein Mittel auf dem Weg zu dieser Wahrnehmungsrevolution sei.

In diesem politisierten Zusammenhang ist die berühmte Ankündigung des „Todes der Literatur“ im „Kursbuch“ 15 (November 1968) zu verstehen. Zu diesem oft missverstandenen „Nachruf“ bietet Marmulla scharfsinnige und definitive Bewertungen, die die veränderte literarische Auffassung Enzensbergers in den 1960er-Jahren ausleuchten. Hatte nämlich der Autor in früheren Essays, wie „Poesie und Politik“, seinen Glauben an das in der Literatur innewohnende Widerstandspotential gegen die „verwaltete Welt“ erklärt, stellt nun Enzensberger die vollkommene gesellschaftliche Relevanz literarischer Texte fest. Eher als den Tod der Literatur verkündet deshalb der Autor den Verlust an gesellschaftlichem Nutzen, den die Literatur erlitten hat. Zu den neuen Wegen, die beschritten werden mussten, gehört der Rückgriff auf dokumentarische Texte, die Enzensberger in den folgenden Jahren auf verschiedene Weise erprobt. Einige Modi des Dokumentarischen wurden gerade während des Aufenthaltes in Cuba im Jahre 1969 ausprobiert. Auf solche Texte, wie die Oper „El Cimarrón“ oder das Theaterstück „Das Verhör von Habana“ geht Marmulla im letzten Kapitel seiner Dissertation ein, und deutet sie als eine Analyse der „Mechanismen des Befreiungskampfes“ („El Cimarrón“), beziehungsweise der „Mechanismen der Ideologiebildung der Konterrevolution“ („Das Verhör von Habana“). Mit den „Mechanismen einer gescheiterten Revolution“ wird sich der Autor im dokumentarischen Roman über das Leben des spanischen Anarchisten Buenaventura Durruti, „Der kurze Sommer der Anarchie“ (1972), auseinandersetzen.

Die starke politische Ernüchterung, die Enzensberger bei seinem Aufenthalt in Kuba erlebte, sowie das Abflauen der Studentenbewegung (1970 löste sich übrigens der Bundesverband des SDS auf) und das Zerplatzen der von ihr gepflegten revolutionären Träume finden einen poetischen Niederschlag im Langgedicht „Der Untergang der Titanic“ (1978), das übrigens für den Dichter zum inneren Prozess der Selbstaufklärung diente. In „Titanic“ erkennt Marmulla zu Recht den Abschied aus der Idee des Fortschritts, einer zentralen geschichtlichen Kategorie der modernen Zeit seit der Aufklärung, wobei allerdings das Vertrauen in den Fortschritt schon in den von Marmulla unberücksichtigten Balladen vom „Mausoleum“ (1975) ins Wanken geraten war (neben einigen Stellen aus dem Durruti-Roman bietet gerade die Abschlussballade von „Mausoleum“ über Che Guevara die schärfste literarische Abrechnung Enzensbergers mit der 68er-Bewegung und ihrer Utopien).

Die letzten Worte des untergehenden lyrischen Ichs lauten in „Titanic“ „heule und schwimme ich weiter“ und in diesem doppelten Hinweis sind, laut Marmulla, sowohl die Resignation als auch der Mut zu erkennen, der den Schiffbrüchigen vom Ertrinken zu retten vermag. „Pessimismus der Vernunft, Optimismus des Willens“: Auf den berühmten Leitsatz Antonio Gramscis könnte man zurückgreifen, um den metaphorischen Gehalt des „Titanic“-Schlusses zusammenfassen, in dem der Ernüchterung gegenüber dem Ende der Utopie der unstillbare Lebensdrang des Menschen entgegengesetzt wird.

Die hervorragende Studie Marmullas bildet nicht nur einen Fixpunkt für die künftige Enzensberger-Forschung. Sie stellt darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zur Erforschung jener schon längst vergangenen Zeit dar, in der die Intellektuellen noch an das gesellschaftliche Veränderungspotential ihres Werks glaubten.

Titelbild

Henning Marmulla: Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011.
384 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783882216240

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