Märchen und Fabeln des 21. Jahrhunderts

Über Wolfgang Müllers „Die Elfe im Schlafsack“

Von Christina LangeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Lange

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für alle Liebhaber und Kenner des Märchens steht im Jahr 2012 ein wichtiges Jubiläum an, denn vor genau 200 Jahren veröffentlichten zwei Herren namens Jacob und Wilhelm Grimm aus Hanau erstmals einen Band der von ihnen zusammengetragenen „Kinder- und Hausmärchen“. Der Rest ist Geschichte: Die Märchen der Gebrüder Grimm genießen heute große Bekanntheit weit über alle deutschen Kinderzimmer hinaus. Im Jahre 2005 wurde das erste Handexemplar der berühmten Märchensammlung von der UNESCO sogar zum Weltkulturerbe erklärt.

Dass das Märchen und die Fabel aber auch jenseits des Werks der Gebrüder Grimm einen Platz in der heutigen Gesellschaft zwischen Globalisierung, Gender-Debatten und Finanzkrisen für sich beanspruchen, veranschaulicht die überaus unterhaltsame Geschichtensammlung „Die Elfe im Schlafsack“ von Wolfgang Müller. Seine „neuen Fabeln und Märchen“, wie er selbst die Geschichten im Untertitel bezeichnet, stammen allesamt aus Island und sind verglichen mit Frau Holle, Rapunzel und Co. erfrischend unverblümt. Wenn ein aus Norwegen emigrierter schwuler Fossegrimmen (eine männliche Wasserfallnymphe) einen Popstar beim Bad in der warmen Quelle mit musischer Inspiration beglückt, nur damit er wenig später von dem Unglücklichen Liebesdienste im klammen Schlafsack fordern kann, wird klar: Diese seltsamen Geschichten spielen nicht nur in der Gegenwart sondern sind auch definitiv Märchen für Erwachsene.

Bei all seinen wundersamen Protagonisten hält Wolfgang Müller stets augenzwinkernd die Balance zwischen entzauberter Realität des 21. Jahrhunderts und den alten magischen Geschichten der Isländer. Mal tauchen nahezu kindliche Zeichnungen von Zwergenbekleidung in seinem Buch auf, als habe ein Augenzeuge sie bei einer Begegnung mit den Zwergen rasch skizziert. An anderer Stelle finden sich Zitate prominenter Isländer, die ebenso wie die am Ende des Buchs aufgeführten Statistiken darauf hindeuten, dass die meisten Isländer Elfen für durchaus real halten. Wenn es das Alte Volk aber wirklich gibt, warum soll es dann nicht, wie hier beschrieben, tatsächlich ein Rachefeldzug der Elfen sein, wenn plötzlich der Finanzmarkt zusammenbricht? Und könnte es nicht jedem unwissenden Island-Touristen passieren, dass er versehentlich eine unsichtbare Elfe nach Deutschland entführt, wenn er sich statt für ein kitschiges Mitbringsel aus dem Touristen-Shop dafür entscheidet, einen scheinbar harmlosen Stein aufzulesen und einzustecken?

An anderer Stelle bricht Wolfgang Müller dann wiederum mit dem Bild des naturverbundenen Isländers, der aus lauter gläubiger Liebe zum Alten Volk ganze Straßen umleitet. Am deutlichsten wird das in einer großen Schmährede, die er einer Elfenprinzessin mit dem Namen Álfagjöf in den Mund legt. In diesem wütenden Monolog wehrt sich das überirdische Wesen gegen den Versuch der Menschen, die Elfen für ihre Zwecke zu funktionalisieren einerseits und dementiert andererseits die Reinheit und Unschuld des verklärten Elfenbildes. Ihre Rache an der gesamten Menschheit ist verheerend und in keiner Weise zauberhaft, ihre Triebe sind animalisch und wild. Den ehrwürdigen Gebrüdern Grimm würden sich vermutlich die Haare gesträubt haben bei solchen Ausführungen. Aber wie Wolfgang Müller hier Wahrheit und Fiktion vermischt, ist dennoch sehr gelungen: Das Märchen (wie auch die Fabel) wird zum Werkzeug genauen Hinsehens und zeitgenössischer Kritik und verliert dabei niemals seinen Humor. Gleichzeitig räumt es gründlich mit dem Vorurteil auf, dass Märchen zwangsläufig mit verkitschtem Kinderkram gleichzusetzen sind. Auf diese Weise glückt die Übersetzung einer schon alten Literaturform mitten in das technisierte 21. Jahrhundert.

Titelbild

Wolfgang Müller: Die Elfe im Schlafsack. Neue Märchen und Fabeln aus Island.
Verbrecher Verlag, Berlin 2011.
128 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426987

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