Von einer Katze, einem anatomischen Strichlein und schwebenden Frauenakten

Etwas über moderne Enthüllungshemmungen

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Erstaunten Auges las man am 9. Juli 2012 im Feuilleton der „F.A.Z.“, dass die junge Bundesrepublik aufgrund der regen Aktivitäten Beate Uhses in Sachen Sexartikelversand „dem Rest der Welt rund zwei Jahrzehnte voraus“[1] war. Das angeblich so prüde Adenauer-Deutschland in Wahrheit ein Arkadien ausschweifender Liebeskunst? Wozu hätten wir dann eigentlich die libertinären Impulse von ‘68 gebraucht?

Auf dem Feld der bildenden Kunst hatte es ein Jahrhundert zuvor noch völlig anders ausgesehen. Deutschland war rückständig: Da gab sich in den 1860ern der alternde Nazarener Philipp Veit mit seinen Schülern der frommen Aufgabe der Ausmalung des Mainzer Doms hin, weil er altmodischerweise noch die christliche Kunst als ein „farbenprangende[s] Gewand der Kirche“[2] betrachtete, während in Frankreich schon die nacktheitsfreudige bildkünstlerische Moderne ausgebrochen war: 1865 provozierte Edouard Manet mit seiner „Olympia“ im Pariser Salon einen Skandal, dessen Gründe sich uns Fleischbeschaugewohnten nicht mehr recht entbergen wollen.

Gemeinhin nimmt man an, dass die feinsinnige Bourgeoisie des Zweiten Kaiserreichs sich deshalb entrüstete, weil Manets à la Giorgiones Venus auf einem weißen Laken ausgestreckte Nackte jeder mythologischen Einkleidung entblößt dalag und sich überhaupt bar jeder idealisierend-klassizistischen Überhöhung in ungeschönter Ausgezogenheit darbot. Kurzum: Inmitten des Tempels der hohen Kunst erblickten die Bürger einen Frauenkörper, der ihnen in solcher Vulgarität nur vom Bordell her vertraut war, und protestierten folglich dagegen, dass sich ihnen die Niedrigkeit ihrer Lust derart indezent großformatig (130,5 x 190 cm) und unverblümt entgegenstreckte.

Emile Zola, einer der frühen Advokaten Manets, schrieb: „Edouard Manet hat sich gefragt, warum er lügen, warum er nicht die Wahrheit sagen sollte; er hat uns mit Olympia bekannt gemacht, diesem Mädchen unserer Zeit, das ihnen auf den Bürgersteigen begegnet und seine schmalen Schultern in einen dünnen Schal hüllt.“[3] Ein anderer Autor formulierte es so: Olympia „entblößte […] zugleich mit ihrem Leib die ungeschminkte Wirklichkeit ihres Daseins und Soseins“.[4] Dem ließe sich allerdings entgegnen, dass Manet doch eine Verhüllungskonvention gewahrt hat: Olympias linke Hand verbirgt – wie im Fall der Venus Giorgiones und Tizians – das Punctum saliens der weiblichen Nacktheit; eben das, was kultivierterweise verborgen bleiben sollte. Denn, so der alte Römer Cicero: „Was nämlich die Natur verheimlicht hat, das entziehen auch alle, die gesunden Sinnes sind, den Augen“[5].

Aber: Da ist bei Manet ja noch die schwarze Katze am Fußende mit unmissverständlichem Zeichencharakter.[6] Zola sah es folgendermaßen: „Auf weißen Leintüchern liegend, bildet Olympia einen großen blassen Fleck vor dem schwarzen Hintergrund. In diesem schwarzen Hintergrund versteckt sich der Kopf der Negerin, die einen Blumenstrauß bringt, und jene schwarze Katze, die das Publikum seinerzeit so erheitert hat.“[7]

Mehr sagt Zola zu der schwarzen Katze nicht; wahrscheinlich deshalb, weil er es für schamlos, gewiss aber für überflüssig hielt zu erklären, dass die schwarze Katze eben – wie soll ich es sagen? – Olympias „Muschi“ symbolisiert. Noch im Jahr 1973 monierte der große Kunstgeschichtler Werner Hofmann, dass Zola sich über Manets Anspielung nicht ausführlicher ausgebreitet hat: „Zola verspottet die armen Tröpfe, die sich über die schwarze Katze lustig machen, hütet sich aber, ein erklärendes Wort über die formale oder inhaltliche Funktion dieses Attributes zu sagen.“[8] Indes schweigt sich Werner Hofmann seinerseits aus. Er deutet auf das von Zola Ungesagte und sagt auf diese Weise, dass die Katze etwas Unsagbares repräsentiert.

2005 besuchte ich eine Ausstellung, die unter anderem Manets „Olympia“ thematisierte. Der Katalog ignorierte die Katze völlig, und auf meine diesbezügliche Frage musste der Kurator einräumen, sich mit diesem Tier nie befasst zu haben. Olympias Scham bleibt verborgen, und die Katze indiziert sowohl das Verborgene als auch das Faktum des Verbergens. Damit bricht Manet zwar nicht das Enthüllungstabu, aber doch immerhin das Tabu, das traditionellerweise über dieses Tabu verhängt ist: „Man kann bezüglich des weiblichen Geschlechtsorgans – präziser: bezüglich dessen äußerer, sichtbarer Teile – von einem eigentlichen Seh- bzw. Darstellungstabu sprechen. Darüber hinaus scheint die Tatsache dieser Tabuisierung selbst tabuisiert zu sein“.[9]

Gerade feministisch orientierte Theoretikerinnen und Theoretiker haben sich daran gestoßen, dass die bildenden Künstler seit der Antike den weiblichen Schoß so gut wie niemals naturgetreu ausgestalteten, und in dieser schamhaften und taktvollen Zurückhaltung die Missachtung der weiblichen Geschlechtsidentität gewähnt. Erst das frühe 20. Jahrhundert verlor anscheinend jede Scheu und exponierte das Genitale von Frauen serienweise. „Die Skulptur wurde auch in dieser Hinsicht erst von Rodin, etwa mit den Plastiken der Iris und der Fliegenden, revolutioniert“, konstatiert Berthold Hinz und fährt fort: „[I]n der Malerei war es Courbet, der mit dem Bild L’Origine du Monde von 1866 die auch in dieser Gattung verfestigte Tradition des negierten Schoßes ostentativ revidierte. Es bedurfte aber noch des geschärften analytischen Sensoriums der Zeit um 1900, bis die bildenden Künste, wie in den einschlägigen Zeichnungen Klimts und Schieles, nach mehr als zweitausendjähriger Entwöhnung imstande waren, das negierte anatomische Teil dem ‚Ganzen‘ zurückzugeben.“[10]

Gustav Klimts Zeichnung der „Nuda Veritas“, die 1898 im dritten Heft der Zeitschrift „Ver Sacrum“ erschien, will zwar die nackte Wahrheit verkünden und steht in reizvollster Unbekleidetheit vor uns. Allein: Der Maler beließ das kritische feminine Dreieck gänzlich unausgeformt. Nichts verhüllt die Scham, doch zeigt auch die Enthülltheit nichts. Doch Vorsicht, lieber Leser. Falls Du jetzt zu Deinem Bücherschrank eilst, um Klimts gezeichnete „Nuda Veritas“ zu inspizieren, kann es Dir geschehen, dass Dir das weiße Dreieck mit einem hauchzarten vertikalen „anatomischen Strichlein“ [11] in der Mitte versehen begegnet.

Mit der Ursache dieser wundersamen Erscheinung verhält es sich so: Der österreichische Klimt-Fachmann Christian M. Nebehay hatte vor Jahren – unter anderem für eine „Ver Sacrum“-Dokumentation[12] – Klimts „Nuda Veritas“ aus seinem eigenen Exemplar der Zeitschrift reproduzieren lassen und dabei gänzlich übersehen, dass jemand zum spitzen Bleistift gegriffen und heimlich die eigentlich leere Scham der „Wahrheit“ fein säuberlich und anatomisch einigermaßen korrekt komplettiert hatte. Und so findet man gelegentlich jenes – von Klimt nicht gewollte – Strichlein in Publikationen der letzten Dekaden. Bedenkt man es recht, so ist erst durch diese kleine Obszönität die nackte Wahrheit wahrhaft nackt geworden.

Nebehays Nachfolger im nach ihm benannten Antiquariat (nebst Kunsthandlung) in Wien ist Hansjörg Krug. Von mir auf jenes „anatomische Strichlein“ angesprochen, wunderte er sich darüber, dieses Etwas nicht selbst wahrgenommen zu haben. Wenige Tage nach unserem Telefonat teilte er mir mit, er habe einen Radiergummi genommen und den Strich eigenhändig entfernt. Schade eigentlich, denn infolge dieser restauratorischen Operation ist jetzt die „Nuda Veritas“ wieder weniger nackt; so wenig nackt, wie Klimt sie gezeichnet hatte. Krugs Eingriff stand im Dienst kultivierter Enthüllungshemmung; sein Radiergummi fungierte gleichsam als Feigenblatt-Applikator ex negativo.

Soviel zur Katze der Olympia und zu Pseudo-Klimts anatomischem Strichlein. Um nun zu verstehen, wieso schwebenden Frauenakten eine enthüllungshemmende Eigenschaft zukommen kann, hat man sich dessen zu erinnern, dass Wien – und nicht nur Wien – „um 1900“ im Bann eines obsessiven Antihistorismus stand. So wie Friedrich Nietzsche in den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ die sich historisch gebenden, lebenseinzwängenden Bildungsdraperien der bürgerlichen Dekadenzkultur verfluchte, so wurde in der Kunst modern, was sich entkleidete, hergebrachter Verhüllungen sich entledigte.

Architekturgeschichtlich liefert das Looshaus am Wiener Michaelerplatz[13] unbestritten das prominenteste Beispiel nackter Wahrheit oder auch wahrer Nacktheit. Und weil, wie aktuell André Schwarz[14] darlegt, die „Wiener Moderne“ ein ziemlich durchsexualisiertes Biotop war, schmückte man sich damals die absolut ornamentlose Fassade mit erotischen Phantasien aus. Paul Engelmann beispielsweise, selbst Architekt, schrieb in der „Fackel“ ein Gedicht über das Looshaus, in dem es unter anderem heißt: „Es glänzt […] die Keuschheit aller Firne / auf glattem Marmorwerk zum Küssen! / Und Marmor, daß sie nicht die Pracht vermissen: / naiv und lüstern, fast wie eine Dirne.“ [15] Gut ein Jahr nach Erscheinen dieses erotischen Lobgesangs verfügte der Wiener Stadtrat, wenigstens Blumenkästen anzubringen. Sie sind heute noch da.

In Berlin galt das von Alfred Messel entworfene Warenhaus Wertheim als Paradestück des neuen, dekorlos-funktionalen Bauens. Auch der junge Bruno Taut zeigte sich 1902 beeindruckt: „[W]as Messel hier geschaffen, ist mehr als ein Warenhaus –, es ist ein Typus eines solchen, weshalb man den Architekten wirklich genial nennen muß: Als ich es zum ersten Male sah, wirkte auf mich diese Klarheit und Würde geradezu ergreifend. Ich habe noch kein Bauwerk gesehen, das gewissermaßen sich so nackt, so wahr dem Beschauer zeigt, das so unmittelbar und einfach ohne Pathos sagt: Ich bin so, wie ich bin und nichts anderes.“[16] Als Taut ein gutes Jahrzehnt später in Berlin-Charlottenburg ein Wohnhaus mit einer Fassade von schlichter Sachlichkeit errichtete, muss ihm sein Werk allerdings schließlich gar zu unbekleidet vorgekommen sein; engagierte er doch den Bildhauer Georg Kolbe, um dem Ganzen ein wenig Außendekoration angedeihen zu lassen. Kolbe, ein Meister skulptierter Bekleidungslosigkeit, schritt also zur Tat und schmückte das Haus Hardenbergstraße 3a unterm Dach mit einer „Reihe von schwebenden Frauenakten, fast vollrund, modelliert, die, leicht und frei bewegt, dem Hause etwas Lebendiges, Atmendes geben.“[17]

Derart zierte also Nacktheit Nacktheit, verhüllte Unverhülltes Unverhülltes. Dann kamen die Kriegsbomben und zertrümmerten das kuriose Denkmal. Wahrscheinlich ist der an sich schaubegierige Mensch, sofern Kulturwesen, doch nicht willens, dauerhaft Allzunacktes anzusehen. „Vielleicht ist“, um auch hier das vielzitierte Diktum Nietzsches zu bringen, „die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?“[18]

[1] Petra Gehring: Wie die Ehehygiene von der Pornowelle überrollte wurde. Rezension zu Elizabeth Heineman: Before Porn Was Legal (2011), und Sybille Steinbacher: Wie der Sex nach Deutschland kam (2011); in: FAZ vom 9.7.2012, S. 26.

[2] Zit. nach Norbert Suhr: „… das farbenprangende Gewand der Kirche“ – Der Kreis um Philipp Veit in Mainz; in: Direktion Landesmuseum Mainz (Hrsg.): Die Nazarener – Vom Tiber an den Rhein, Ausstellungskatalog, Regensburg 2012, S. 35-45, S. 40.

[3] Emile Zola: Die Salons von 1866-1896, Weinheim, 2. Aufl. 1994, S. 68.

[4] Franz Siepe: Die Farben des Eros, Berlin 2007, S. 158.

[5] Marcus Tullius Cicero: Vom rechten Handeln, Zürich 1994, S. 109.

[6] Siehe etwa Nathaniel Harris: The Art of Manet, Feltham, Middlesex, England, 1982, S. 31.

[7] Emile Zola: Die Salons von 1866-1896, Weinheim, 2. Aufl. 1994, S. 67.

[8] Werner Hofmann: Nana. Mythos und Wirklichkeit, Köln 1987 (unveränd. Nachaufl. d. Ausg. 1973), S. 25.

[9] Monika Gsell: Die Bedeutung der Baubo, Frankfurt am Main und Basel 2001, S. 13.

[10] Berthold Hinz: Aphrodite, München und Wien 1998, S. 39f.

[11] So die Formulierung von Dr. Hansjörg Krug in einer persönlichen Mitteilung. Ich bin ihm sehr für eine freundliche und humorvolle Korrespondenz verbunden.

[12] Christian M. Nebehay (Hrsg.): Ver Sacrum 1898-1903, Dortmund 1987.

[13] Siehe etwa Hermann Czech und Wolfgang Mistelbauer: Das Looshaus, Wien, 2. Aufl. 1977.

[14] André Schwarz: Lustvolles Verschweigen und Enthüllen. Eine Poetik der Darstellung sexuellen Handelns in der Literatur der Wiener Moderne, Marburg 2012.

[15] „Die Fackel“ Nr. 317/318, 28. Februar 1911, S. 18.

[16] Zit. nach Jürgen Schutte und Peter Sprengel (Hrsg.): Die Berliner Moderne, Stuttgart 1987, S. 91.

[17] So Adolf Behne Februar 1914 in „Der Sturm“. Zit. nach Jürgen Schutte und Peter Sprengel (Hrsg.): Die Berliner Moderne, Stuttgart 1987, S. 595.

[18] Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Leipzig 1887, S. 20 (Vorrede zur 2. Ausgabe).