Zwischen irdischer und himmlischer Liebe

Martin Walsers religiöser Roman „Das dreizehnte Kapitel“

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn ein Autor noch im hohen Alter von stupender Produktivität ist, reagiert die Literaturkritik nicht ausschließlich mit Anerkennung. Diese Erfahrung macht Martin Walser mit seinem neuen Roman „Das dreizehnte Kapitel“. In der „Welt“ gibt Tilmann Krause dem 85-Jährigen die Empfehlung, endlich in den Ruhestand zu treten, anstatt sich selbst auszuschreiben. Sein neuestes Œuvre sei ein „alter Hut“. An der respektlosen Kritik trifft zumindest zu, dass ein mit Walsers Gesamtwerk vertrauter Leser nicht umhin kann, bekannte Motive, Themen und Konstellationen wiederzuentdecken.

Walsers jüngstes Werk ist ein vielschichtiger Eheroman und weist zurück auf sein Roman-Debüt, die „Ehen in Philippsburg“. In beiden Romanen wird das Thema „Ehe“ abgehandelt, indem verschiedene Ehen parallelisiert werden. Außerdem drängen sich Erinnerungen an „Ein fliehendes Pferd“, Walsers größten Erfolg, nahezu auf. Aber nicht die thematischen Wiederholungen sollten bei der Bewertung den Ausschlag geben, entscheidend sind vielmehr die nicht unbeträchtlichen Variationen. „Jeder Roman hat zu jeder Zeit natürlich mit dem jeweiligen Daseinsgefühl des Autors zu tun“, sagt Walser selbst, und dem ist weitgehend beizupflichten. Also muss die Darstellung ehelicher Liebe bei einem alten Autor notgedrungen anders ausfallen als bei einem jungen. Um konkret zu werden und um einen für das „Dreizehnte Kapitel“ entscheidenden Punkt sofort herauszuheben: „Erst wenn das Geschlechtsleben nachlässt, aber das Gefühl nicht, erst dann empfiehlt es sich, das, was jetzt die Nähe produziert, Liebe zu nennen.“ So die in der eigenen Ehe gewonnene und aphoristisch verallgemeinerte Einsicht des Ich-Erzählers über die altersbedingte Sublimierung der Sexualität.

Dieser Ich-Erzähler, der Großschriftsteller Basil Schlupp, von dem wir uns kein ganz falsches Bild machen, wenn wir Walser selbst als etwa 60-Jährigen zum Modell nehmen, wird bei einem vom Bundespräsidenten ausgerichteten Essen zu Ehren eines illustren Molekularbiologen von der Liebe zu dessen Frau, der protestantischen Theologieprofessorin Maja Schneilin, schlagartig überwältigt, ohne auch nur ein Wort mit ihr zu wechseln. Anschließend schreibt er ihr einen Brief, in dem er ihr die Erschütterung, die sie in ihm verursacht hat, wortreich mitteilt, und erhält eine ausführliche Antwort. Durch den Briefwechsel, später fortgesetzt mit E-Mails, und nur in ihm entwickelt sich eine Liebe, die mit einer Leidenschaft, die auch außerhalb der Sprache noch vorhanden ist, wenig zu tun hat.

Am realistischsten ist noch die Indiskretion – mal in koketter Selbstanklage „Verrat“ genannt, mal theologisch hochgestochen als „Aletheia“ (Unverborgenheit, Wahrheit) begriffen –, mit der beide über ihre jeweiligen Ehen berichten, wobei die Lebenswichtigkeit dieser Ehen nie in Frage gestellt wird. Recht abstrakt jedoch wird die Korrespondenz dann, wenn die Liebenden ihre Liebe reflektieren. Dabei spielt Majas Beruf eine entscheidende Rolle: Als Theologin ist sie unbedingte Gefolgsfrau Karl Barths, „des größten Theologen des 20. Jahrhunderts“. Wie dessen dialektische Theologie in Gott das ganz Andere sieht, das schlechthin Unerklärliche, das trotz seiner Unsagbarkeit Sinn gebende Instanz bleibt, so erleben die beiden ihre Liebe als etwas Quasi-Religiöses, als das Unmögliche, das trotzdem anzustreben ihrem Leben einen schwer verzichtbaren Wert gibt. Im Umfeld solch theologischer Spekulation wirkt der Hinweis auf ein Detail aus Barths Biografie fast schon zu direkt: Erwähnt wird die Liebe zwischen ihm und Charlotte von Kirschbaum und der ménage à trois, in welchem er mit ihr und seiner Frau lebte. Das sei, so schreibt Maja, die „Ermöglichung des Unmöglichen, das auch als Ermöglichtes unmöglich bleibt“.

Von solch anspruchsvoller Dialektik kann sich der Leser erholen, wenn er im letzten Viertel des Romans in den topografisch detailliert geschilderten Nordwesten Kanadas geführt wird. Dort unternehmen Maja und ihr Ehemann, der an einem Tumor leidet und sein Leben noch einmal unter Beweis stellen will, eine strapaziöse Radtour. Der Beweis misslingt, und als absolut treue Ehefrau begleitet sie ihren Mann, der das von ihr zu erwarten scheint, in den Tod. Das muss so vage und floskelhaft referiert werden, weil nähere Umstände im Unklaren bleiben.

Glimpflicher geht die Sache für Basil Schlupp aus. Seine Frau Iris, eine erfolgreiche Fernsehautorin, hatte vor der Ehe eine Liebesbeziehung zu einem weltberühmten Architekten – die Hochkarätigkeit des Romanpersonals schmeckt ein wenig nach Snobismus – und fühlt sich ihm auch noch nach vielen Jahren zutiefst verbunden. Als er an Multipler Sklerose erkrankt, betreut sie ihn und schiebt ihn im Rollstuhl spazieren, obschon sie unter seinem schroffen Egoismus leidet. Von ihrer Gemütsverfassung zeugen Aufzeichnungen, die sie unter der Überschrift „Das 13. Kapitel“ sammelt. Nicht alle sind ohne weiteres verständlich, aber eine Grundtendenz ist erkennbar, am deutlichsten und auch am schönsten formuliert in der indirekten Klage: „Jeder Satz, der mit ich beginnt, leidet an Enge und Atemnot.“ Nach dem Tod des Architekten verbrennt sie ihre Notate und nur deren Titel überlebt dadurch, dass sie ihn Basil zum Geschenk macht.

Der autoreferentielle Romanschluss hat Gewicht: „Was hast du verbrannt? / Und sie: Das 13. Kapitel. / Und ich, plötzlich vom Leben ergriffen: Schenkst du mir den Titel? / Gern, sagte sie und legte ihre Hände mir aufs Knie.“

Das positive Ende klingt nicht so, als wäre hier die Dreizehn eine Teufelszahl, wie Christopher Schmidt, der Rezensent der „Süddeutschen Zeitung“, meint. Angemessener wäre es bei einem Roman, in welchem der Apostel Paulus mehrfach bedeutsam erwähnt wird, unter anderem eine Stelle aus dem zweiten Korinther-Brief, an das 13. Kapitel des ersten Korinther-Briefs zu denken, an das berühmte „Hohelied der Liebe“, das Agape, die himmlische Liebe, preist. An dieser Liebe haben sowohl Iris als auch Maja teil, die Männer jedoch nicht. Bei Majas Ehemann und bei Iris’ Ex-Geliebtem steht das außer Frage, doch auch Basils Gefühle geraten ins Zwielicht. Die Sprachverliebtheit, mit der er sie vorträgt, erlaubt eine Interpretation im Sinne des ersten Verses von 1. Korinther 13: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.“

Selbstverständlich trägt eine solche Interpretation nicht allen Aspekten Rechnung; glatt geht nichts auf. So macht es Schwierigkeiten, dass zwischen ehelicher und außerehelicher Liebe und Treue kaum differenziert wird: Maja ist als Ehefrau treu bis in den Tod, liebt aber Basil, Iris bewahrt ihrem Ex-Geliebten eine fast eheliche Anhänglichkeit, lebt aber mit Basil in einer cum grano salis harmonischen Ehe zusammen. Außerdem verwirrt ein paratextuelles Zeichen, dessen Berücksichtigung methodisch gewiss problematisch ist, das aber, da offensichtlich nicht absichtslos, zur Kenntnis genommen werden soll: Walser hat das Buch seiner Frau Käthe gewidmet.

Wer den Text am Maßstab des Realismus misst und psychologische Plausibilität erwartet, verfehlt ihn. Er ist die Beschreibung einer hypothetischen Konstellation, entfernt vergleichbar Goethes „Wahlverwandtschaften“. Nicht von ungefähr wird die Beziehung zwischen Basil und Maja als „Versuchsanordnung“ bezeichnet, an anderer Stelle als „Experiment“, in das die Protagonisten unwillentlich hineingeraten sind. Solche Reminiszenzen, die sich nicht zwingend einstellen müssen, schmälern keineswegs die Originalität des Romans, die auch dadurch nicht beeinträchtigt wird, dass der Autor in einigen Punkten an sein bisheriges Lebenswerk anknüpft. Das Neuartige verdient gewürdigt zu werden, die religiöse Überhöhung der Liebe unter Einbeziehung protestantischer Theologie, nota bene durch einen Katholiken. Der Brückenschlag von Eros zu Agape macht den Roman belangvoller als die meisten der heute gängigen literarischen Ehe- und Beziehungsdarstellungen, die selten über Alltagserfahrungen hinausweisen.

Titelbild

Martin Walser: Das dreizehnte Kapitel.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2012.
272 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498073824

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