Der „Orpheusspötter“

Ein exzellentes Arbeitsbuch über Uwe Kolbe

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Frühjahr 2008 reiste Uwe Kolbe mit seinem Dichterkollegen Jan Wagner auf die Peloponnes. Sie schrieben, sprachen, nahmen einfache Mahlzeiten zu sich und besuchten die Natur. In einem Olivengarten hörten sie einen Vogel, den sie nicht sehen und dessen Gesang sie nicht einordnen konnten. Diesen Vogel nannte Uwe Kolbe beiläufig einen „Orpheusspötter“. Polyglott und klangreich, „kaum schwerer als Luft“: So ist dieser Vogel ein Bild für Uwe Kolbes Lyrik. Der Name des „Orpheusspötters“, mag er ornithologisch zutreffen oder nicht, ist eine glückliche Beschreibung jener Fügungen von Pathos und Ironie, von Banalem und Erhabenem, von Melancholie und Heiterkeit, die charakteristisch sind für die Gedichte des 1957 geborenen Kolbe.

Jan Wagners Bericht ist einer der erhellendsten Beiträge in dem „Arbeitsbuch Uwe Kolbe“, das der Paderborner Germanist Stefan Elit herausgegeben hat. Dieses „Arbeitsbuch“ ist, um es gleich zu sagen, eine vorzügliche Arbeitshilfe, eine nützliche Einführung und eine reichhaltige Grundlage für jeden, der sich mit Kolbes Werk befasst. Es besteht aus wissenschaftlichen Beiträgen, Gesprächen mit dem Autor, Briefen, Berichten und Gedichten von Zeitzeugen, Weggefährten und Schülern sowie aus eigenen Texten Kolbes. Die Bevorzugung von zeitgenössischen Zeugnissen zeigt im Übrigen, dass Gegenwartsliteratur im Kern die Zeitgenossenschaft von Autor und (mitschreibendem) Leser ist.

In mehrerer Hinsicht eröffnet dieses „Arbeitsbuch“ nicht nur eine Perspektive auf eine Gesamtdarstellung von Uwe Kolbes literarischer Entwicklung, sondern zieht auch neue Linien zwischen Biografie und Dichtung. Uwe Kolbe war ein früher Senkrechtstarter in der DDR-Literatur. Er begann bereits mit 14 Jahren zu schreiben, las mit 16 den „Hyperion“, wirkte als Schüler an einer öffentlichen Lesung mit und nahm am Schweriner „Poetenseminar“ der FDJ teil, wahrscheinlich unwillentlich und unwissentlich unterstützt von seinem leiblichen Vater. Der war, wie Uwe Kolbe später herausfand, in leitender Funktion Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit der DDR. Gegen Uwe Kolbe wurde später von der Stasi der „Operative Vorgang ‚Poet‘“ geführt.

Der dichterische Förderschub setzte mit Franz Fühmann ein. Dessen Nachwort zu Kolbes Debütband „Hineingeboren“ (1980 im Ostberliner Aufbau Verlag, 1982 bei Suhrkamp erschienen) stellte den Jüngeren als „Hans im Glück“ vor und – wie Jürgen Krätzer im vorliegenden Band aufzeigt – als einen staatskritischen Dichter: „Staat heißt das kälteste aller Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ‚Ich, der Staat, bin das Volk.‘“ Dieses Fühmann-Wort ist ein (leicht verkürztes) „Zarathrustra“-Zitat. Nietzsche war damals in der DDR ungedruckt. Die anonyme Meldung offenbart also eine philosophische (und, 1989, politische) Wahrheit: Nicht mit der SED, nur mit den Dichtern ist Staat zu machen. Insofern ist Fühmanns Text tatsächlich ein programmatisches „Geleitwort“ (Krätzer) für die Entwicklung Kolbes zu einem der bedeutendsten deutschen Dichter der Gegenwart.

Aus der ersten Sektion des „Arbeitsbuchs“ erfährt man vor allem etwas über Kolbes „erstes Leben“ am Prenzlauer Berg. Christian Frankenfeld untersucht die 1983 bis 1987 von Kolbe selbstverlegte Literaturzeitschrift „Mikado“. Ihr Programm zielte auf eine „andere Öffentlichkeit“ und auf eine andere Sprache, „diesseits und jenseits der Vokabulars der Macht und der Anpassung“. Leitendes Thema der Samisdat-Hefte war, wie der Autorenkollege Bernd Wagner bestätigt, das Versäumnis, aus den Fehlern der Geschichte nicht gelernt zu haben.

Der junge Kolbe wurde nicht als Radikalrevolutionär, sondern als moderater Oppositioneller wahrgenommen, und zwar hüben wie drüben. Es erstaunt zu sehen, wie ähnlich F.A.Z. und Aufbau Verlag in das symbolische Kapital Uwe Kolbes investierten (Katharina Deloglu): Zeichen für Konvergenzbewegungen im letzten Jahrzehnt der deutsch-deutschen Literaturgeschichte. Uwe Kolbe selbst beschreibt seine Position als „Haltung“, als poetischen Habitus, der offen gegenüber dem Westen war und anfangs auf einen „Kuckuckseffekt“ in der DDR abzielte: eben von denen verstanden zu werden, die ihn nicht verstehen wollten. Das Gegenteil von „Haltung“, so Kolbe in einem Interview des Bandes, sei „amöbisches Verhalten“. Uwe Kolbes Gedichte – von zweien wird dieses Arbeitsbuch eingerahmt – sind Festkörper im Fluss der Zeit, mehrzellig durch Tradition und Gegenwartsdeutung.

Es ist hier nicht der Platz, auf die Fülle der Beiträge einzugehen, die Uwe Kolbes jüngeren literarischen Wegen – nach seiner Ausreise in den Westen – nachgehen. Das wird im zweiten und dritten Teil des Arbeitsbuchs erörtert. Trägt der erste Teil wichtige Bausteine zum literarischen Beginn nach (so die Rolle des „proletarischen Stiefvaters“, der Mechaniker war und zuhause einen Konverter zum Empfang des ZDF bastelte), so nimmt der zweite das Berlin-Motiv in Kolbes Lyrik in den Blick (Peter Geist), zeigt die literarischen Masken Kolbes, seinen „verkosteten Expressionismus“ und seine Hölderlin-Rezeption (Stefan Elit) und konturiert Uwe Kolbes Physiognomie als eines goetheschen Gelegenheitsdichter im Unterschied zu den „Konzeptdichtern“ Raoul Schrott und Durs Grünbein. Der dritte Teil des Arbeitsbuchs widmet sich Fragen des Übersetzens von Kolbes Gedichten (Louise Stoehr) und der „dunklen Ökologie“ seiner Naturgedichte, die Umweltkritik und zugleich „Das Gedicht als Umwelt“ umfasst (Ingo R. Stoehr).

Orpheus, der singt, liebt, zurückblickt, der wagt und – manchmal – gewinnt, ist eine Figur aus „Vinetas Archiven“. So heißt Kolbes jüngster Band, 2011 erschienen. Dieses Arbeitsbuch führt in Uwe Kolbes poetische und biografische Archive ein. Ein vorbildhaftes Unterfangen.

Titelbild

Stefan Elit (Hg.): "... notwendig und schön zu wissen, auf welchem Boden man geht". Arbeitsbuch Uwe Kolbe.
Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2012.
345 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783631634998

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