Nationaler Appell und kümmerlicher Alltag

Zwei Bücher zerstören Illusionen über die Kriege der napoleonischen Zeit

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kriege gegen die napoleonische Vorherrschaft in Europa wurden lange Zeit von einer nationalen Geschichtsschreibung als Befreiungskampf der Volksmassen geschildert. „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“, dichtete der für seine Todesbegeisterung berüchtigte Befreiungskrieger Theodor Körner 1813, und 130 Jahre später griff der Nazi-Propagandaminister Goebbels die Formel auf und wendete sie am Schluss seiner Sportpalast-Rede in eine Aufforderung: „Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!“

Nach einem guten Jahrhundert Erfahrung mit nationaler Mobilisierung wusste Goebbels, dass ein Volk nicht von alleine aufsteht, sondern aktiviert werden muss. Körners Aussage – die natürlich auch Appellcharakter hat – war sachlich schlicht falsch. Von Ausnahmen abgesehen, dachte die preußische Bevölkerung nicht daran, sich auf einen Guerillakrieg mit ungewissem Ausgang einzulassen. Das „Landsturmedikt“ des preußischen Königs vom April 1813 entfaltete praktisch nur sehr geringe Wirkung. Weder war die Bevölkerung für einen nationalen Opfertod zu begeistern, noch fand die Regierung Gefallen an einer umfassenden Bewaffnung des Volkes, von der man nicht wusste, wohin sie führen könnte. Bereits im Juli wurde das Edikt abgeschwächt, und Napoleon wurde in einem konventionellen Krieg durch reguläre Soldaten besiegt.

Alexandra Bleyer handelt denn auch, so der Untertitel ihres Buches, vom „Mythos Volkskriege“. Sie zeigt, dass es mit der einen Ausnahme Spanien nirgends zu einem längeren Kampf einer Volksguerilla gegen die napoleonischen Truppen kam. In Mitteleuropa waren die wenigen, lokalen Aufstände des Jahres 1809 nach wenigen Stunden (Marburg) oder höchstens wenigen Monaten (Tirol) niedergeschlagen. In Russland 1812 lag zwischen Napoleons Einmarsch und seiner Niederlage viel zu wenig Zeit, als dass sich ein systematisch geführter Kleinkrieg hätte entfalten können. Die zahlreichen Morde, die es tatsächlich gab, waren durch den Kampf um Nahrungsmittel oder durch religiös-konfessionell begründeten Hass bedingt, wobei die Heeresleitungen bemüht waren, Exzesse einzugrenzen.

Die nachvollziehbare Konsequenz Bleyers ist, dass in ihrem Buch über Volkskriege die traditionelle Diplomatie und die Kriegsführung der regulären Armeen den Großteil der Seiten füllen. So ergibt sich eine äußerst knappe Darstellung von Napoleons Aufstieg und eine etwas ausführlichere Schilderung der Reihe von Kriegen, die zwischen 1808 und 1814 zu seiner Niederlage führte. Diese Schilderung ist im Ganzen zuverlässig und übersichtlich, leidet aber darunter, dass viele interessante Fragen nur angerissen werden können. Es stören auch manche umgangssprachlichen Wendungen – einmal fühlt sich der russische Zar Alexander von Napoleon „etwas veräppelt“. Leider sind viele Zitate nur durch ein „zitiert nach“ belegt, was in manchen Fällen die genaue zeitliche Einordnung erschwert. Auch kann der Kontext in die Irre führen, etwa wenn ein Zitat aus Clausewitz‘ nach den Ereignissen entstandenem Grundlagenwerk „Vom Kriege“ so eingefügt ist, dass es wie eine 1813 aktuelle Dienstanweisung zum Einsatz des preußischen Landsturms wirkt.

Die weitaus besseren Teile des Buches sind deshalb diejenigen, die sich tatsächlich auf den Volkskrieg beziehen; um hier Genaueres zu erfahren, hätte man gerne auf die Darstellung der oft beschriebenen Feldzüge verzichtet. Wie in Spanien 1808 zum Krieg der regulären Armeen der Guerillakrieg trat, ohne ihn zu ersetzen; wie in diesem Krieg Soldaten, Guerilla und Räuberbanden manchmal nur schwer zu unterscheiden waren, wie die Motivationen Religion, Nation, Beutegier und einfach Rache sich gegenseitig förderten und die ausländische Intervention Englands den Konflikt nur noch verschärfte – das alles wirkt mit einem Blick auf heutige Konflikte sehr aktuell und hätte eine detailliertere Schilderung verdient gehabt.

Instruktiv ist auch das Kapitel über die Kriegspropaganda, die nur selten einen abstrakten Wert wie die Nation in den Mittelpunkt stellte, sondern sich auf Frömmigkeit oder auf Treue gegenüber dem Landesherren stützte. Es waren die radikalen Reformer, die zuspitzten und Hass propagierten – während die Fürsten versuchten, den Krieg in halbwegs geregelten Bahnen zu halten. Der Zusammenhang zwischen Militärreform, Demokratisierung und modern-entgrenztem Krieg wird bei Bleyer erahnbar, doch nicht ausgeführt. Dass gerade die demokratische, mobilisierbare Nation Abgrenzungen zwischen den kämpfenden Soldaten und unbeteiligten Zivilisten niederriss, die die absolutistischen Staaten mühsam genug etabliert hatten, kurz: dass Demokratie zur Totalisierung des Krieges führe, ist heute wohl nur schwer zu formulieren.

Kurz nach 1800 kämpfte das Volk indessen noch kaum als Nation. Seine größten Brutalitäten vollbrachte es dort, wo es ums bloße Überleben ging, wo immer neuer Einquartierungen, Abgaben und Plünderungen zu Hungernöten führten; doch kaum je aus nationalen Gründen. Das spanische Beispiel zeigt, dass der Volkskrieg zuallerletzt dem Volk nützte. Die Zerstörungen waren gesellschaftlich ruinös, Spanien wurde in seiner Entwicklung um entscheidende Jahrzehnte zurückgeworfen. So gesehen ist es ein Glück, dass die deutschen Fürsten gegen den demokratischen Nationalismus die Staatsgewalt behielten und den Krieg auf einen Konflikt regulärer Armeen eingrenzten.

Das knappe Schlusskapitel skizziert, wie später der Mythos des Volkskriegs erzeugt wurde, dass aber tatsächlich die Fürsten – nachdem die Gefahr Napoleon beseitigt war – vom Volk und ihren kriegsbedingten Versprechungen nichts mehr wissen wollten. Das gehört nun zu deren Job; jeder demokratische Nationalist hätte 1813 wissen können, dass sein Wert für die Fürsten an die napoleonische Bedrohung geknüpft war. Aber wahrscheinlich funktioniert die nationalistische Weltsicht eines Theodor Körner oder Ernst Moritz Arndt nur auf der Grundlage, von jedem konkreten politischen Interesse abzusehen, und sind solche Leute unwiderruflich zur Dummheit verdammt. –

Schon etwas älter ist Karl J. Mayers Buch zu „Napoleons Soldaten“, das das Kriegserlebnis der unteren Ränge in der grande armée rekonstruiert. Fast alle Aspekte soldatischen Lebens kommen zur Sprache: Von der Rekrutierung über die Ausbildung und Ausrüstung, die Verpflegung (oder häufig auch Nicht-Verpflegung) bis hin zum Leben auf dem Marsch und im Quartier. Einzelne Abschnitte sind den Geschlechterbeziehungen gewidmet, der Vorbereitung auf den Kampf, Kriegsverbrechen und den Fragen, was mit Verwundeten, Toten und Gefangenen geschah.

Mayer weiß all dies knapp und anschaulich zu schildern. Er muss sich auch deshalb kurz fassen, weil er auf etwa 130 Druckseiten eine lange Reihe von Themen abhandelt. Dabei ist wohl etwa ein Viertel dieser Seiten mit Abbildungen gefüllt, die manchmal das nebenan Geschilderte illustrieren, zuweilen aber nur irgendwie mit Napoleons Kriegen zusammenhängen.

Dieses manchmal etwas wahllos Zusammengewürfelte ist der größte Nachteil des Bändchens. Im Vorwort kritisiert Mayer, dass sich die Aufmerksamkeit immer wieder auf Napoleons Russlandfeldzug von 1812 konzentriert hat – doch kommt er selbst mit einer gewissen Beharrlichkeit immer wieder auf dieses eine Halbjahr zu sprechen. Er stellt dann drei Deutsche vor, die Erinnerungen über ihre Zeit in Napoleons Armee hinterlassen haben – indessen geht auch die Erwartung, dass das Leben im französischen Heer nun anhand der Erlebnisse dieser drei geschildert würde, nicht in Erfüllung. Nebenbei hat die weitgehende Konzentration auf deutsche Memoirenliteratur zur Folge, dass das Buch vor allem Informationen über die letzten Jahre von Napoleons Karriere bringt.

So übersichtlich der Haupttext geschrieben ist – in zahlreichen Kästchen sind Nebentexte eingestreut: Zitate, Informationen zu einzelnen Feldzügen und Ereignissen sowie eine Kürzestgeschichte von Napoleons Kriegen, die in vier Teilen übers Buch verstreut ist. Weiteres Manko ist die fehlende Quellenkritik. Wie sich im Verlauf der Jahre die Erinnerung verändert haben mag, welches Bild ihrer Person die Verfasser mit der Niederschrift von Memoiren verankern wollten, das berücksichtigt Mayer kaum je. Auch über die Abbildungen wüsste man oft gerne, ob sie zeitgenössisch sind oder später entstanden, und in wessen Auftrag.

Trotz dieser Einwände liegt ein Buch vor, das in vielen einzelnen Aspekten brauchbare Informationen liefert und geeignet ist, in mehrerlei Hinsicht etablierte Sichtweisen zu korrigieren. Genannt seien hier drei Beispiele. Erstens wird man wird man nach Lektüre dieses Buches nur noch eingeschränkt von einer wohlorganisierten grande armée sprechen wollen. Selbst wenn man berücksichtigt, dass die ausgewerteten Erinnerungen vor allem die Jahre von Napoleons Niederlagen abdecken, ist die Zahl der Belege, die Mayer für Desorganisation und Willkür bringt, beeindruckend. Zweitens allerdings: Gegen das Vorurteil, dass es vor der Gründung des Roten Kreuzes 1863 keine nennenswerte Militärmedizin gegeben hätte, zeigt Mayer, dass die Sanitätseinheiten der Napoleonischen Armee nach zeitgenössischen Maßstäben durchaus akzeptabel waren. Allerdings war sie angesichts einer Kriegsführung überfordert, die Kampfhandlungen auf wenige, aber umso größere Schlachten konzentrierte, in denen dann zahlreiche Verwundete gleichzeitig anfielen. Drittens: Die Bedeutung von Napoleon als charismatischem Führer wird von Mayer gering eingeschätzt. Zwar zeichnet Mayer die Versuche des Kaisers nach, durch gezielte persönliche Belobigungen die Mannschaften zu motivieren. Doch spielt Napoleon weder in Briefen seiner Soldaten noch in späteren Erinnerungen eine herausgehobene Rolle.

Mayer hat ein Buch geschrieben, das als Einführung für ein größeres Publikum seinen Zweck erfüllt, doch aus wissenschaftlicher Sicht Wünsche offenlässt. Geeignet, nationale Kriegsbegeisterung à la Körner zu dämpfen, ist es allemal.

Titelbild

Karl J. Mayer: Napoleons Soldaten.
Primus Verlag, Darmstadt 2011.
136 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783896787507

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Alexandra Bleyer: Auf gegen Napoleon! Mythos Volkskriege.
Primus Verlag, Darmstadt 2013.
264 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783863120221

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