Besser als jede Doku-Soap
Die Tagebücher des Ferdinand Beneke
Von Daniel Tobias Seger
Wer einmal begonnen hat, in diesen wunderschönen Bänden zu lesen, der kommt nicht mehr los von ihnen: Vier, in rotes Feinleinen gebundene Bücher, fast 3.000 Seiten und dann (leider) erst mal Pause – in Erwartung der nächsten ‚Staffel‘: 16 Bände sollen noch folgen, nochmals etwa 12.000 Seiten! Gott sei Dank!
Die Tagebücher Ferdinand Benekes (1774-1848) sind ein Ereignis. Bekannt sind sie schon lange, nur zugänglich waren sie bislang noch nicht. Das ändert sich jetzt Zug um Zug. Das ist ein großes Glück!
In diesen Tagebüchern gibt es alles, wirklich alles in gleichem Maß: E & U, Ernst und Unterhaltung, Schweres und Leichtes, „Kulturspiegel“ und „Leute heute“, philosophisch-literarisch-politische Referate und Dispute, aber auch Schischi auf rotem Teppich, gedrechselte Formulierung und überschwänglicher Gefühlsausbruch, kaltes und heißes Herz, Kontorbuch und Liebesschwur.
Xing, Facebook, Twitter – alles in einer Cloud: den Tagebüchern Ferdinand Benekes. Das Personenverzeichnis allein der ersten vier Bände umfasst mehr als 100 Seiten mit weit über 5.000 Eintragungen. Nur: Es sind zumeist keine virtuellen Freunde, die man eben so verzeichnet, sondern Freunde, mit denen Ferdinand sich austauscht, mit denen er diskutiert, die ihm gefallen oder missfallen, zu denen er jedenfalls eine wirkliche Beziehung unterhält, verbunden mit Emotion und Sorge.
Beneke ist ein Netzwerker allerersten Ranges, geschäftlich wie privat – immer gut organisiert, genau, bisweilen pedantisch aufzeichnend und archivierend. Beneke ist wie das Netz: er vergisst nichts! Zu seinen Tagebüchern fertigt er Namensregister an, Briefe werden durchnummeriert und als Querverweis notiert, ein System von Hervorhebungen, Abkürzungen, Marginalien halten den Kontakt fest und bearbeiten ihn. Gegen Beneke verblasst das Beziehungsnetzwerk berühmter Vorgänger, Zeitgenossen und Nachfolger, vorgestellt etwa in den Tagebüchern Samuel Pepys’, dem Korrespondenznetzwerk des Zeitgenossen Alexander von Humboldt oder den Diarien Thomas Manns.
Ausgeprägt und dem heutigen ‚Netzwerken‘ durchaus nah ist Benekes Egozentrik oder deutlicher gesagt: seine Selbstverliebtheit, sein Narzissmus: Mit jedem 24. Wort – so haben die Editoren ermittelt – kommt Ferdinand auf sich selbst zu sprechen, 17.444 Mal wird in den ersten zehn Tagebuchjahrgängen „ich“ gesagt.
Selbstbewusst ist er, unser Mann, dabei aber immer auch selbstkritisch, oft selbstironisch, manchmal kaum Herr über seine Gefühle, doch immer bereit, auch wieder die Luft rauszulassen aus dem auf ihm lastenden Geschick. Nachzulesen etwa, ein herrliches Notat, am 11. Juni 1795: „Da sitze ich nun schon den ganzen Nachmittag, und eben bemerke ich, dass die Bücher verkehrt vor mir liegen – Pfui! dumpfes Hinbrüten taugt nicht. Komm Tagebuch! wollen eins plaudern. Wer weis wie lange ich noch bey einer fidelen Pfeiffe Tabak mit dir kosen kann. … ich fühle den Durst in mir nach Thaten, – und gehemmt finde ich mich, wohin ich strebe. … Ha! ich will mich losreissen. Müde, am Draht des Schicksahls zu tanzen, will ich meinen eigenen Schritt gehen. Soll ich auf keinem gewöhnl. Wege einem Ziel nachstreben, nun so will ich mir mit männl. Festigkeit einen ungewöhnl. bahnen, mitten durch die Nacht des Zufalls, und selbst durch die Schrecknisse des Todes. … Zauberhafter Strom eines unaufhaltbahren Fatums! … Als Republikaner schlage ich mit dem Schwerdt in der Faust meinen neuen Weg ein, um ein schönes Vaterland zu verdienen. Unsichtbare Mächte! hier laßt mich mein Ziel finden, oder den Tod, den ich auf diesem Wege verachte.“ Die lapidare Distanzierung folgt freilich sogleich: „Dieser Tag enthält übrigens nichts historisches.“
Historisches – und Politisches: Beneke, der Kaufmannssohn aus Bremen, ein klassisch gebildeter Bürger, studierter und schließlich promovierter Advokat, hat sich den Ideen der Französischen Revolution verschrieben und fühlt sich deshalb unter der preußischen Knute fehl am Platz und zur Handlungsunfähigkeit verdammt. Auch wenn er Zeit seines Lebens nicht Revolution macht – auch im Sommer 1795 bleibt es beim ‚emotionalen Schub‘ und er wird nicht zum „französischen Chasseur“, der über den Rhein geht – am 14. Februar 1796, einem Sonntag, kommt er sich dennoch wie ein Sieger vor. Er betritt Hamburger Boden: „…welch ein Anblick, – als wir die zahllosen Schiffreihen vorbeyfuhren, das Gewimmel dieser kosmopolitischen Wasserstadt ansahen – die verschiedenen Sprachen hörten – es ist mir in Prosa unbeschreiblich. … ich springe ans Land – Republikan. Boden! Mein Vaterland! Gott! welch eine Fülle von Empfindungen! … Victoria!“
Das Leben, das dann beginnt, ist ganz nach Benekes Geschmack. Ehrenämter en masse werden an ihn herangetragen, die noblen Kreise der Hamburger Bürgerschaft öffnen ihm ihre Pforten. Und doch bleibt die Fühlung mit den ‚niederen Ständen‘ erhalten. Denn Beneke wird Armen- und Schulpfleger sowie Richter am Niedergericht. Er kann den ganzen Kreis des Lebens ausschreiten und aufzeichnen – und er tut dies durch alle Unbilden hindurch.
Geschichten über Geschichten, die das Zeug haben, als kleine Miniaturen für sich zu stehen, heitere und traurige, spannende und unterhaltsame. Was es da alles gibt! Unglückliche Liebe, Freundschaftskult (und wenn ein Freund fehlt, ein Freund ist immer da: das Tagebuch) und jugendlicher Überschwang mit windigen Geschäften und finanziellem Fiasko, gefolgt vom Aufstieg in die Hanseatische Gesellschaft. Skurrile Teestunden gegen 23 Uhr, Ärger über langweilige Gesellschaftsabende mit Kartenspiel, Reisen – bequeme und unbequeme – durch die Lande. Dann natürlich: taktisch klug eingefädelte politische Positionierungen und Schachzüge im Kräftespiel der Stadtrepublik Hamburg mit den einwirkenden Mächten Frankreich, Großbritannien-Hannover, Preußen und Österreich; daneben immer im Blick: das Schicksal der kleinen Leute, denen sein Mitgefühl gilt, und seine Mandanten, denen er nur ungern die saftigen Honorare der Hamburger Advokaten in Rechnung stellt. Beneke will ein Bürger mit Haltung sein, kein ‚Bratenwender‘ im Sinne Heines, der die Gesetze dreht und wendet, bis ein Braten abfällt.
Und schon ist wieder ein Jahr zu Ende im Tagebuch. Beneke hält Rückschau, etwa am Silvestertag 1795, einem wichtigen Jahr in seinem Leben: „Es ist Nacht. Und hier sitze ich nun, und dampfe mein ruhiges Kontemplationspfeiffgen, auf dem nemlichen Fleck, wie vorm Jahr. Draussen stürmts. Mit wahrer Seelenruhe u. einer Art Heiterkeit blättre ich in den Annalen dieses Jahrs. … ich bin im Begriff zu werden, was mein Herz wünscht: ein guter, nützlicher Bürger unter Hamburgs freien Volke. … ich bin ein freier Mensch geworden, u. bald werde ich ein republikanischer Bürger. Freiheit!“
Ein reiches Leben zeichnet sich schon in den ersten Schreibjahren ab. Beneke beginnt seine Aufzeichnungen im Alter von 18 Jahren und hat schon mit 28 Jahren ein solches Panoptikum des Lebens notiert, dass dem Leser schwindelig wird: empfindsamer Freundschaftskult, Bildungswesen und Bürgerkultur, bürgerliche Geselligkeit und Kommunikation, soziale Frage und Revolution, Kirche und Staat bzw. Stadt, Literatur und Theater, Zeitungen und Zeitschriften, Ess- und Trinkkultur und vieles, vieles mehr. All das liegt vor in den Tagebüchern Ferdinand Benekes, eingeleitet durch einen überaus lesenswerten Begleitband, besorgt hauptsächlich von Frank Hatje. Schön bebildert und mit einem hilfreichen Marginalienrand versehen (der wunderbare Buchsatz der Edition hat der schon legendäre Friedrich Forsman besorgt), findet sich dort eine instruktive und dabei durchaus unterhaltsam geschriebene Einführung in die Textsorte des Tagebuchs, eine Darstellung des Herkommens, Werdens und Wirkens Ferdinand Benekes sowie materialreiche Hinführungen zum Menschenbild der Zeit und zum sich formierenden Bürgertum im Zeitalter der Revolution.
Doch dann wieder zurück zu den Tagebüchern, die übrigens so dargeboten werden, wie sie sich in den Kladden im Hamburger Staatsarchiv finden (nicht als ‚Bücher‘, sondern als Tagebuchblätter in Sammelmappen), also mit allen Unter- und Durchstreichungen, Marginalien, Minizeichnungen, in der Schreibweise der Zeit und in der ganz eigenen Schreibweise unseres Helden. Kein harmonisierter Text, sondern wirkliches Leben in Textform eben!
Wer sich eingefunden hat in diesem Kraftwerk des Selbstzeugnisses, staunt, liest weiter – lebt intensiver.