Die Andersch-Debatte und ihre tiefere Bedeutung

Zum Essay von Dieter Lamping aus Anlass des 100. Geburtstags von Alfred Andersch. Eine Replik

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

In seinem Essay aus Anlass des 100. Geburtstags von Alfred Andersch am 4. Februar 2014 hat Dieter Lamping die vielfache Bedeutung dieses in der Tat großen Autors der deutschen Nachkriegsliteratur gewürdigt, und er stützt sich dabei auf seine Einleitung zu der 2004 von ihm herausgegebenen 10-bändigen Ausgabe der „Gesammelten Werke“ im Zürcher Diogenes-Verlag. Wie bei solchen Jubiläumsaktionen nicht selten, sehen andere Kenner und Liebhaber des betreffenden Autors dessen Leben und Bücher und die Probleme des Umgangs damit in einem etwas anderen Licht, und so einer bin in diesem Fall ich, der ihm auch einmal in den frühen 70er-Jahren in München persönlich begegnet ist. Sven Hanuschek schrieb in einem erhellenden Artikel von 2010 von „vielen falschen Zungenschlägen“ in der Debatte um Andersch[1], und ich hatte bei der Lektüre des Essays von Lamping einen ähnlichen Eindruck.

Lamping stellt die Leistung des Autors nach dem Krieg zumal als Hörfunkredakteur und Förderer bedeutender Autoren wie Arno Schmidt, Wolfgang Koeppen, Helmut Heißenbüttel und Hans Magnus Enzensberger heraus und gibt eine Skizze von Anderschs eigenem Werk als dem eines eminent politischen und wie wenige Zeitgenossen international orientierten Autors, der als Erzähler, später auch als Lyriker, zudem erheblichen ästhetischen Ehrgeiz entwickelte, der ihm von der Literaturkritik nicht immer hoch angerechnet wurde; die betreffenden Einwände (anachronistische Einfälle, Manierismus, Selbststilisierung, Kitsch, Eitelkeit) werden klaglos konzediert, ohne den Versuch einer Antikritik. Undeutlich bleibt der Journalist und Essayist, da weder von seiner Rolle für den „Ruf“ noch genauer für die Gründung und frühe Phase der „Gruppe 47“ noch von den frühen literaturpolitischen Manifesten die Rede ist. Und undeutlich und in ihrer Seltsamkeit unkommentiert bleiben neben anderem auch seine spezifische Sartre-Rezeption und vor allem das lebenslange Faible für Ernst Jünger (Hanuschek nannte es wohl mit Recht einen „Fimmel“). Ungenannt bleiben in diesem Jubiläumstext vor allem Widersprüche, mit denen man sich schwer tut,  und offene Fragen.

Um gleich zur Hauptsache zu kommen: In der Reihe von Debatten um den immer umstrittenen Autor Andersch sind die Vorwürfe, die der nicht weniger politisch reflektierte Autor W. G. Sebald (1944-2001) gegen Leben und Gesamtwerk von Andersch gerichtet hat, von größtem Gewicht. Es handelt sich um einen Essay von 1993 in „Lettre Internationale“[2], der dann 1999 unter dem Titel „Der Schriftsteller Alfred Andersch“ in dem Band „Luftkrieg und Literatur“ (München: Hanser) noch einmal gedruckt wurde. Die Fakten konnte Sebald im Wesentlichen der Biografie von Stephan Reinhardt entnehmen (Diogenes, 1990). Der Kern seines Vorwurfs ist: Andersch ließ sich 1943 von seiner ersten Frau scheiden, die nach den Begriffen der NS-Rassengesetze als „Halbjüdin“ galt, obwohl er sie und die gemeinsame Tochter dadurch in höchste Gefahr bringen musste, wie schon ihre Mutter deportiert zu werden (aber „um sich von einer Frau scheiden lassen zu können, muß man sie zuvor geheiratet haben“, hat Hanuschek zu Recht bemerkt); dass ihnen nichts passiert ist, hing wohl mit dem Schutz zusammen, den Angelika Albert und das Kind von der Schwiegermutter erfuhr, der Witwe eines Veteranen des Weltkriegs und frühen Mitglieds der NSDAP, also Anderschs verstorbenen Vaters. Als Kriegsgefangener in Virginia spricht er dann von der längst Geschiedenen als „my wife“, um sein Profil als Nazigegner zu unterstreichen, und als er 1941 als Ehemann einer „Halbjüdin“ vorübergehend aus der Wehrmacht entlassen wurde, hatte er bereits von dieser Ehe ‚profitiert‘, wie man später nachweisen konnte. Der Grund für die Scheidung war, dass er nur so eine Publikationserlaubnis als Autor von der „Schrifttumskammer“ erhalten würde, bei der er sich sogar ein paar Tage vor dem amtlichen Akt als „geschieden“ meldet. Für Sebald waren Andersch und sein Werk, das seiner Ansicht nach in wesentlichen Zügen dem Zweck gedient habe, dieses Versagen zu retouchieren, ja sein Leben „umzuschreiben“, als Folge einer „Lebenslüge“ moralisch und politisch erledigt. Eine Kritik an wenig überzeugenden „Wiedergutmachungsphantasien“ in den Romanen war schon früher von Ruth Klüger geäußert worden, und sowohl Einwände als auch weitere Argumente und Dokumente von Jörg Döring und Rolf Seubert, Johann Tuchel, Felix Römer und anderen haben Sebalds Vorwürfe seither nicht wirklich erschüttert, vielmehr erweitert und breiter fundiert. Wie ähnliche Fälle zeigen, wird sich nicht mehr erreichen lassen als Klarheit über Tatbestände; sie wird freilich noch lange ausstehen, da der Nachlass in Marbach noch auf Jahrzehnte gesperrt ist. Die persönlichen Motive werden im Dunkeln bleiben, man kann Andersch nicht mehr fragen, und zu Lebzeiten hat er, anders als Günter Grass, sich zu dem Thema nicht geäußert, wohl auch weil ihn niemand dazu veranlasst hat. Aber darum und um moralische Verurteilung der Person kann es auch nicht gehen. Wenn Sebald etwas vorzuwerfen ist, dann das, dass er es offenbar versäumt (oder abgelehnt?) hat, sich von der komfortablen Position des streng urteilenden Nachgeborenen zu distanzieren bzw. sich in seiner Polemik diesem Problem der nachträglichen Selbstgerechtigkeit zu stellen.

Lamping, und mit ihm wohl ein großer Teil der Literaturwissenschaft, sieht in der Verurteilung von Autor und Werk, das Sebald als Umstilisierung, als Umschreiben der realen, gebrochenen Biografie zu einer Wunschbiografie verstanden hat, nicht nur eine unstatthafte „Moralisierung“ literarisch-ästhetischer Qualitäten, sondern einen Rückfall in Biografismus. Stattdessen gehe es in Anderschs Texten doch um ästhetische Experimente, um das Durchspielen von Alternativen mit den Mitteln der literarischen Fiktion, gerade auch von alternativen Lebenssituationen und Entscheidungen. Wie es sich nach Lampings Vorstellung bei politischen und ästhetischen Interessen (und anderen mehr) um ein „Nebeneinander“ handelt, wie es einmal heißt, so soll es auch im Verhältnis zwischen der Biografie vor 1945 und den fiktionalen Konstruktionen in den Romanen der späteren Jahrzehnte gewesen sein: Sie stehen für diese Art von ‚Philologen‘ eben „nebeneinander“. Warum? Weil man andernfalls biographistisch bzw. in Form „biografischer Kritik“ (Lamping) argumentiert, und das darf man nicht. Warum nicht? Weil doch alles nebeneinander steht, damit man es in Einleitungen besser addieren kann und weil der ‚Philologe‘ doch bequem seinen Überblick behalten muss. Dabei liegt es auf der Hand, dass man beides, die reale Biografie samt ihrer Defekte und ihrer außerliterarischen Bedingungen und die erzählerische Phantasie, zusammensehen muss, auch wenn sie noch so wenig ‚zusammengehen‘ und auch wenn man sich als Fachmann für literarische Texte ‚nur‘ diese letztere zu interpretieren vornimmt.

Auch wenn es zu nichts führt: Man sollte Literaturwissenschaftlern gegenüber, die sich auf einen reduzierten Begriff von ‚Philologie‘ berufen, der bestenfalls aus dem 19. Jahrhundert stammt, immer wieder darauf hinweisen, was Philologie in deren Goldenem Zeitalter um 1600 und davor in Europa einmal gewesen ist, eine veritable ‚Kulturwissenschaft‘ und die Grundlage für eine höchst materiale historische Kritik etwa bei Gabriel Naudé und Pierre Bayle. Wohin Literaturwissenschaftler sich flüchten und dazu Begriffe wie den der Philologie missbrauchen, ist das Schema der vorgängigen Trennung von Textanalyse und Biografie. Die Biografismus-Keule pflegte man vor fünfzig Jahren herauszuholen, um missliebige politische Deutungen als nicht zur Sache der Textinterpretation gehörig zu diskriminieren. Heute ist die Verwendung dieses Schemas zur Abwehr des Politischen nicht mehr gut möglich, weshalb man sich stärker auf den Ausschluss „moralischer“ Kritik konzentriert – nein, „fokussiert“ muss man ja sagen. Und im Übrigen wird heruntergespielt, wird die ‚Biographie‘ je nach Bedarf gegen die literarische Fiktion ausgespielt.

Sebald, den man bis 1993 auch in akademischen Kreisen sehr gerne gesehen und mit Preisen verwöhnt hatte, war am Ende ein Spielverderber, schon weil er immer ‚draußen‘ geblieben war und keinem germanistischen Schulzusammenhang angehörte, auch keinem der linkspolitisierten Germanistik, die sich in diesen Jahren längst auf die Pflege ihrer ‚politischen‘ Klassiker eingerichtet hatte. Aber er wusste, wovon er redete, wenn er den deutschen Kollegen den „fachtypischen Eiertanz“ bescheinigte, und er war ebenso ein Spielverderber, wie Andersch selbst in der Adenauerzeit und noch zwanzig Jahre später in sozialliberalen Zeiten mit seinem Gedicht gegen die Berufsverbote einer gewesen war – und so kann man das Verhältnis doch eigentlich auch ganz anders sehen: Andersch und Sebald stehen beide gegen eine den „Biografismus“ verurteilende Literaturwissenschaft oder Germanistik. Mit der Auffassung, wonach das Ausklammern des ‚Biographischen‘ die zureichende Interpretation der Texte befördere, tut man jedenfalls dem Verständnis auch der jeweiligen literarischen Werke alleine keinen guten Dienst, heute weniger denn je.

Anmerkungen:

[1] Sven Hanuschek: Wie ist es, überleben zu wollen? Zu einer Bilanz der langlebigen Andersch-Debatte. In: Frankfurter Rundschau, 8. November 2010. Hanuschek weist dort auf eine bevorstehende Tagung über Sebald im Frankfurter Literaturhaus hin, deren Vorträge dann gedruckt erschienen sind: Alfred Andersch ‚revisited‘. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte. Herausgegeben von Jörg Döring und Markus Joch. Berlin: de Gruyter 2011. Vgl. dazu die Rezension von Hans-Joachim Hahn: Anderschs Leben und Werk als Gegenstand der Philologie, in: literaturkritik.de Nr. 12/2010.

[2] W. G. Sebald: Between the Devil and the Deep Blue Sea. Alfred Andersch. Das Verschwinden der Vorsehung. In: Lettre Internationale 20, Frühjahr 1993.