Die Kunst des Grauens
Althistoriker Martin Zimmermann betrachtet in „Gewalt“ die dunkle Seite der Antike
Von Patrick Wichmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDenken wir an die Antike, was fällt einem dann zuerst ein? Sicherlich gehören große, mittlerweile geradezu mythisch aufgeladene Gestalten wie Aristoteles und Drakon, Alexander der Große und Caesar dazu. Ebenfalls dazu gehören Entdeckungen und Fortschritte in Wissenschaft und Technik sowie in der Gesellschaft. Der Satz des Pythagoras etwa oder die römischen Aquädukte, die Proto-Demokratie der griechischen poleis oder die ausgefeilte Rhetorik eines Cicero. Und fest zu unserem Bild der antiken Welt gehört auch das Phänomen der Gewalt, berichten die antiken Quellen doch in aller Ausführlichkeit von Kriegen, Massakern und Gräueltaten. Diesen und ihrer Kommunikation hat sich der Althistoriker Martin Zimmermann in „Gewalt. Die dunkle Seite der Antike“ angenommen.
Zimmermann, der an der Ludwig-Maximilians-Universität München lehrt, begnügt sich nicht damit, lediglich die Ausführungen der antiken Autoren zu grausamen Gewaltexzessen zu rekapitulieren – ohne sie zu verschweigen. So erfährt der Leser allerlei grausige Details über angeblich in metallenen Stierattrappen Verbrannte, über lebendig Gehäutete, Gepfählte, Gevierteilte, über Frauen, denen die Brüste abgeschnitten, und Männer, die in Tierhäute eingenäht werden, damit wilde Bestien sie anschließend töten. „Der aufmerksame moderne Leser ist sprachlos, der antike war sicherlich amüsiert“, stellt Zimmermann heutige und damalige Wirkung nebeneinander. Im seinem Fokus steht jedoch etwas anderes, nämlich die Kommunikation über Gewalt sowie damit die Genese, Bedeutung und Tradierung beliebter Topoi.
Entsprechend geht Zimmermann die Antike chronologisch ab, Perser folgen auf Assyrer, Römer auf Griechen. So stechen rasch Muster und die Entwicklung einzelner Schilderungen hervor, sodass die kulturhistorische Dimension der Gewalterzählung sichtbar wird. Denn sie dient seit je vor allem als politisches Instrument – und das bisweilen mit ungebrochener Wirkung. Noch heute erscheinen uns die persischen Satrapen ganz in griechischer Tradition als despotische Gewaltherrscher (nicht zuletzt aufgrund wirkmächtiger populärkultureller Adaptionen wie Frank Millers Comic „300“). Und auch mit den römischen Kaisern Caligula und Nero werden bis heute grauenerregende Gewaltexzesse verbunden, um an dieser Stelle nur einige Beispiele fortdauernder und regelrecht monströser Topoi zu nennen. Die historische Wahrheit hinter diesen Erzählungen hingegen ist heute nur noch schwer herauszuarbeiten, längst ist sie hinter den wirkmächtigen Bildern verblasst.
Daher verweist Zimmermann auf den rund 400 Seiten wieder und wieder auf die wahren Hintergründe der steigenden Grausamkeit, wie sie in den Quellen überliefert ist. Diese sind nämlich weniger in einer tatsächlichen Zunahme von Gewaltbereitschaft und Brutalität zu suchen, sondern vielmehr in literarischen Ansprüchen. Denn die ausschweifenden Beschreibungen dienen als Ausweis der Kreativität ihres Autors. Fiktion statt Faktizität also. „Was den modernen Leser in Schrecken versetzt und abstößt, begeisterte die Zeitgenossen.“
So zeigt Zimmermann die Hintergründe dieser antiken Gesellschaften, die – an heutigen Maßstäben gemessen – zwar relativ gewaltbereit gewesen sein mögen, in denen die Gewalt jedoch zugleich keinesfalls entgrenzt und allgegenwärtig war, sondern sich stets im Rahmen spezifischer Normen abspielte, die immer wieder – und das eben auch über die Literatur – neu ausgehandelt werden mussten. Denn: Der „Referenzrahmen“ der Zeitgenossen „waren die Gesetze, das harte Sanktionsrepertoire und die üblichen Formen öffentlicher Hinrichtung, mit denen das verlässliche Funktionieren ihrer Ordnung symbolisiert wurde“.
Auf der einen Seite macht Zimmermann also die Entwicklungslinien stereotyper Zuschreibungen anhand konkreter Beispiele sichtbar. Auf der anderen Seite jedoch gleicht „Gewalt“ einer Tour de Force: Eben durch die musterartige Wiederkehr etlicher Schilderungen und Details wiederholen sich auch die Deutungen Zimmermanns, ohne neue Erkenntnisse zu erbringen, während andere spannende Aspekte lediglich angerissen bleiben.
2000 Jahre Gewalt scheinen schlechterdings zu groß, um sie auch noch unter einem gigantischen Aspekt wie dem der Gewalt umfassend aufbereiten zu können. Entsprechend rafft Zimmermann an manchen Stellen stark, während seine Analyse an anderen wieder ausgesprochen kleinteilig wird. Hier hätte wohl Beschränkung das Problem behoben: Statt auf die gesamte Antike wäre die Analyse einer ausgewählten antiken Kultur gleichfalls ergiebig geblieben. Jede von ihnen hält selbst eine Vielzahl an Gewaltbeschreibungen bereit, von religiösen Urmythen, über das langsame Verschwinden der Götter aus Gewaltkontexten und die Übertragung ihrer Macht auf weltliche Herrscher bis hin zum Ende der jeweiligen Blüte. Und durch die musterartige Wiederkehr und Adaption zahlreicher Erzählungen wäre zugleich die transkulturelle Bedeutung der Analyse erhalten geblieben.
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