Schrei nach Hilfe

Maxim Billers Novelle „Im Kopf von Bruno Schulz“ lässt einen der größten jüdischen Erzähler des 20. Jahrhunderts wieder lebendig werden

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bruno Schulz, am 19. November 1942 auf offener Straße im Ghetto seines galizischen Heimatstädtchens Drohobycz von einem SS-Mann erschossen, hat ein schmales dichterisches Werk hinterlassen. Daraus stechen „Die Zimtläden“ (1933, deutsch zuerst 1961) hervor, ein Zyklus von Prosastücken, in denen der Avantgardist Schulz – darin seinen Freunden Witold Gombrowicz und Stanislaw Ignacy Witkiewicz ähnlich – auf surrealistische Weise die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum, Belebtem und Unbelebtem, Mensch, Tier und toter Materie aufhob.

Im Verständnis des auch als Grafiker und Zeichner hervorgetretenen Schulz – sechs Zeichnungen hat Maxim Biller seinem Text beigefügt – genoss das Wort den Vorrang vor der Wirklichkeit, wurde Letztere gut platonisch nur als „Schatten“ einer mystischen Realität verstanden, die der literarische Stil hervorbrachte. Dringt man in die fantastische Erzählwelt des 17 Jahre am Gymnasium seiner Geburtsstadt die Fächer Kunst und Werken unterrichtenden Lehrers ein, finden sich, traumhaft verschlüsselt, viele Anspielungen autobiografischer Art. Das schwierige Verhältnis zum Vater – nicht nur darin ähneln sich die Zeitgenossen Schulz und Kafka –, die Ängste im Umgang mit Frauen sowie das Sich-Versenken in die Welt von Kunst und Literatur gehören dazu.

„Im Kopf von Bruno Schulz“ hat sich in seiner Novelle Maxim Biller niedergelassen – und er füllt ihn vollkommen aus, wird selbst unsichtbar und verschwindet ganz hinter dem Ich seines großen jüdischen Verwandten. Man schreibt, als die Novelle einsetzt, das Jahr 1938 und in Drohobycz ist ein seltsamer Doppelgänger des Großschriftstellers Thomas Mann aufgetaucht. In seiner Kellerwohnung schreibt zur selben Zeit der chronisch erfolglose Schulz an den echten Nobelpreisträger in Zürich. Protektion erhofft er sich von dem berühmten Kollegen. Einem Verlag möchte er gern empfohlen werden, damit er endlich mit dem verhassten bürgerlichen Leben Schluss machen und sich ganz auf seine schriftstellerische Karriere konzentrieren kann. Doch ebenso, wie der durch Schulzens Heimatstadt geisternde falsche Mann kaum zu fassen ist, wird auch der Brief des sich nach seinem literarischen Durchbruch sehnenden Zeichenlehrers von seinem Adressaten unbeantwortet bleiben: ein Hilferuf ins Leere hinein.

Stattdessen mehren sich um Schulz herum die Anzeichen bevorstehenden Unheils. Heutigen Lesern, die die Geschichte des von den Nationalsozialisten besetzten Polen kennen und über das tragische Schicksal der europäischen Juden Bescheid wissen, erschließen sie sich schnell. Es sind Visionen von „grauuniformierten Menschenarmeen, deren lange, unordentliche Züge bis zum Horizont reichten, mit Millionen nackter Männer, Frauen und Kinder, die sich nur noch auf allen vieren fortbewegen konnten.“ Badezimmer werden in den Vorstellungen des Schriftstellers zu Orten des Grauens, an denen „einige in die nackte Betondecke eingelassene Duschen“ bereits evozieren, was sich in nicht allzu ferner Zeit in den faschistischen Vernichtungslagern zutragen sollte.

Das Schreiben an Mann ist in diesem Zusammenhang ein Appell an eine humanitäre Instanz, die im selben Land geboren ist, aus dem nun Schrecken und Angst kommen. Der Lübecker Schriftsteller und sein großes humanitäres Werk der Josephs-Tetralogie – Schulz erwähnt es mehrmals in seinem Schreiben – stehen für ein Deutschland, dessen Stimme zum Verstummen gebracht wurde. Stattdessen kommt von dort nun ein „falscher“ Mann, der allein dazu geschickt wurde – denkt Schulz – die Juden von Drohobycz auszuspionieren: Das Böse bedient sich der Maske des Guten.

„Im Kopf von Bruno Schulz“ greift, um die existenzielle Situation seiner Titelfigur zu verdeutlichen, deren Panik, deren Verlorenheit, die Ausweglosigkeit der Situation, in der sie sich befindet, auf Stil und Metaphernreichtum, wie sie die Texte des galizischen Schriftstellers prägen, zurück. Wer sich in letzteren auskennt, wird Billers Novelle deshalb mit anderen Augen lesen und geheime Korrespondenzen und Verweise entdecken. Wem die Entdeckung des kleinen, aber unendlich reichen Werks von Schulz freilich noch bevorsteht – vielleicht kann Billers Annäherung an Leben und Denken dieses Mannes sogar in diese Richtung wirken –, wird jenseits aller biografischen und literarischen Details eines deutlich spüren: die Tragik einer untergehenden Welt, deren verzweifelter Schrei nach Hilfe unbeantwortet blieb.

Titelbild

Maxim Biller: Im Kopf von Bruno Schulz.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013.
70 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783462046052

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