„Zivilisierung der Menschennatur“

Der Abschlussband der Alfred Kerr-Werkausgabe mit den politischen und autobiografischen Schriften des Theaterkritikers

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kennt Alfred Kerr als großen Theaterkritiker, man kennt ihn als nicht minder großen Sprachartisten. Weniger bekannt ist dagegen der Lebenskünstler Kerr. Seine glückliche Kindheit in einem Breslauer Elternhaus hatte den im Jahr 1867 Geborenen zeitlebens wie mit einem Schutzmantel gesegnet. Wie nur wenige beherrschte er die Kunst, das Leben leicht zu nehmen; noch den größten Schicksalsschlägen hielt er die „Seligkeit des Daseins“ entgegen.

Das half ihm 1918, den Verlust seiner jungen Gattin Inge zu verwinden, als diese nach nur drei Monaten Ehe an der Spanischen Grippe starb: „Ich weiß, was mein Werk bedeutet. Daß es eine große Bejahung der Erde ist. Daß der Atem eines Sterns hindurchweht. Wer hat wie ich, Deutschland; wer Paris, wer Venedig so gemalt – auf zehn Seiten? Ich bringe die Kerls, die etwa sagen, daß hier ,wertvolle Schilderungen‘ sind, vors Schöffengericht. Du lachst von Herzen, Geliebte.“

Es dauerte nur zwei Jahre, da heiratete Kerr als 53-Jähriger erneut eine drei Jahrzehnte jüngere Frau. Mit einer solchen Lebensfreude ausgestattet, hatte Kerr nach 1933 im Exil nur wenig Verständnis für jene Flüchtlinge, die in Paris oder London nur noch als „Trauerklöße“ herumliefen. Anfang der vierziger Jahre bekannte er, die Exilerfahrung sei allen Widrigkeiten zum Trotz auch „ein Plus an hiesiger Erfahrung. Ich bin Schriftsteller“. Dabei verdrängte Kerr das Leid keineswegs, sondern erinnerte sich im Exil immer wieder an das Glück, dass er und seiner Familie dem Lager entronnen waren.

Über sein Ende bestimmte Kerr selbst – als es gar nicht mehr ging und er nicht mehr arbeiten konnte. Kerr hatte im Herbst 1948 einen schweren Schlaganfall erlitten – und staunte, dass ihm noch auf dem Sterbebett der Anblick der Krankenschwestern Lust bereitete. Nachzulesen ist diese kuriose „letzte Mitteilung“ an seinen Sohn, geschrieben einen Tag vor seinem Suizid am 12. Oktober 1948, in dem von Deborah Vietor-Englaender herausgegebenen Band „Das war meine Zeit“. Es ist der Abschlussband der Alfred Kerr-Werkausgabe im S. Fischer Verlag. Vorzüglich ediert und mit einem profunden Nachwort von Günther Rühle versehen, ist die Textsammlung eine wahre Schatzkiste. Sie enthält viele bislang wenig bekannte oder unveröffentlichte Texte, neben solchen aus den Exiljahren auch Beispiele der neu entdeckten „Berliner Briefe“, die Kerr von 1897 bis 1922 in der „Königsberger Allgemeinen“ veröffentlichte.

Ebenfalls zu finden sind in dem Band Kerrs großen Streitschriften, etwa gegen Karl Kraus oder Bertolt Brecht, sowie seine gesammelten politischen Texte. Sie belegen, wie eng gekoppelt Kerrs Lebensfreude an seiner um 1900 entflammten Begeisterung für die Moderne und den Fortschritt war. Zwar provozierte er gern mit der Behauptung, seine Rezensionen seien wie Kunstwerke reiner Selbstzweck. Doch näher an der Wahrheit war wohl Kerrs Formel, seine Kritiken seien letztlich nur ein „Vorwand für den Kampf um eine kühne vernünftigere Menschenordnung“.

Kämpfte er im Wilhelminischen Kaiserreich mit seinen Polemiken gegen Zensur und Obrigkeitsdenken, so in der Weimarer Republik mit Rundfunkreden gegen die wachsende Gefahr von rechts. Immer wieder rief er das Publikum dazu auf, seine Zeit als das zu erkennen, was sie war: eine brandgefährliche „Rückfallzeit“. Seine Rufe nach einer „Klugheitsrast“ und einer „Zivilisierung der Menschennatur“ verhallten freilich ungehört. Lauter und mutiger als die meisten anderen trommelte Alfred Kerr gegen den „Hausknecht“ Adolf Hitler; am Ende musste er unter Polizeischutz zum Berliner Rundfunkhaus gefahren werden; bereits 1929 hatte Joseph Goebbels seine Ermordung gefordert.

Kerrs illusionsloser Blick auf die Nazis ließ ihn später auch jede Appeasement-Politik ablehnen. „Pazifist solang es geht“, schrieb er 1931 in „Vergebliche Warnung“, und fügte hinzu: „Es geht hier nicht länger“ – nicht ohne selbstkritisch daran zu erinnern, dass ihn eben diese Losung im August 1914 „wallungsmäßig Irrtümer“ begehen ließ. Von diesen Irrtümern zeugen im vorliegenden Band die Artikel „Die ersten Tage“ und „Nach den ersten Siegen“, erschienen in der Königsberger Allgemeinen Zeitung vom 9. und 16. August 1914, in denen sich ein für die Mehrheit der Intellektuellen der Zeit typisches Gefühlsgemisch aus Nationalismus, Wir-Gefühl, Opferbereitschaft, Angst um das eigene Land und Hass auf die (vermeintlichen) Angreifer manifestierte, das Kerr sogar die Besetzung des neutralen Belgiens feiern ließ.

Doch hat der Kritiker seinen Bellizismus bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges später eben gerade nicht verschwiegen – nicht zuletzt deshalb mutet die jüngste, von Gerhard Henschel in der FAS angestoßene Debatte um Kerrs angeblich unbekannte Kriegslyrik, die seine Tauglichkeit als Namensgeber des Alfred-Kerr-Preises in Frage stelle, reichlich absurd an. Viele Preise blieben jedenfalls nicht übrig, würde man die Haltung eines Namensgebers zum Kriegsausbruch 1914 zum Maßstab nehmen: Einen Thomas-Mann-Preis gäbe es dann so wenig wie einen Hermann-Hesse-Preis.

Titelbild

Alfred Kerr: Das war meine Zeit. Erstrittenes und Durchlebtes.
Herausgegeben von Deborah Vietor-Engländer.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013.
700 Seiten, 56,00 EUR.
ISBN-13: 9783100495099

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