Im Kleinen liegt die Kraft

Über Eli Friedlanders Studie „Walter Benjamin. Ein philosophisches Portrait“

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ernst Bloch, auch einer der unkonventionellen Denker des 20. Jahrhunderts, der allerdings, anders als Walter Benjamin, eine akademische Karriere machen konnte und von daher schon seiner Anerkennung als Philosoph sicher sein konnte, notierte 1929 einmal zu Walter Benjamins Methode der Kleinteiligkeit, des Fragmentarischen, wie er sie bei ihm in der Revue als „Formprinzip“ erkannt hatte, diese diene „als Form für Improvisationen und plötzliche Querblicke, für Einzelheiten und Bruchstücke, die ohnedies keine „Systematik“ wollen“.

Und genau in diesem Sinne entfaltet das vermeintlich unvollständige Hauptwerk Benjamins, „Das Passagen-Werk“, seinen ureigenen Reiz. „Ja“, benennt er dort die Herausforderung, „in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken“. So wird im Werk des Denkkünstlers Benjamin gerade das Kleine und Fragmentarische zum Wesentlichen seiner Philosophie. Es versteht sich, dass es hierzu einer gewissen (philosophischen) Anstrengung bedarf, damit es nicht beim Sammeln, Beobachten und Beschreiben bleibt. Wenn dann aber mit der „geschliffene(n) Axt der Vernunft“ das „Gestrüpp des Wahns und des Mythos“ bereinigt ist, und Erkenntnis möglich werden kann, gibt es diese dennoch „nur blitzhaft“ und jeder mitgelieferte Text ist „der langnachrollende Donner.“

Wenn nun Eli Friedlander, Philosophie-Professor in Tel Aviv in seinem Buch „Walter Benjamin. Ein philosophisches Portrait“ die Absicht verfolgt, das Passagen-Werk „als Modell für den Versuch, die disparaten Elemente von Benjamins Schriften zusammenzuführen, sodass sie eine Einheit des Denkens zeigen“, dann irritiert das. Steht dahinter nicht ein Streben nach systematischer Ganzheit, das der kleinteilig-heterogenen Vielfalt in Benjamins Werk eine wesensfremde Ordnung überstülpen will? Friedlander erklärt sein Ansinnen als Reaktion auf die „weitverbreitete Tendenz, Benjamins Schriften bruchstückhaft zu präsentieren“. Und damit einher geht immer noch (und wieder) der Vorwurf der ‚Unwissenschaftlichkeit‘ – mit dem das philosophisch-akademische Establishments seit jeher unkonventionelle, außenseiterische Denkansätze abzuwehren wusste. Benjamin hatte das erfahren. Zeitlebens erlangte er nie die ihm gebührende akademische Würdigung und die Vorurteile ihm gegenüber saßen tief auch bei Freunden. War er nicht eher der „Perlentaucher“, als welchen ihn einmal Hannah Arendt bezeichnete, in dessen Werk es eine Fülle von geistreichen ‚Apercus‘ zu finden gebe? Heute liest man ihn bequemerweise gerne als Kulturkritiker oder -theoretiker. Und wieder passt er nicht ins akademisch-universitäre Raster, demnach eben Philosophie dann erst richtige Wissenschaft sein kann, wenn sie systematisch und als ein Ganzes erscheint.

Sieht man indes von diesem fürsorgenden Verteidigungsanliegen ab, dann ist Friedlanders These, die seiner Studie zugrunde liegt, nichts hinzuzufügen. Sie stimmt: „Das Korpus der Schriften Walter Benjamins ist Philosophie in einer einzigartigen Konfiguration“. Eben!

Und nun endlich bei der Sache liefert Friedlander eine durchaus interessante Studie, die ihren unmittelbaren Reiz durch die kompetente Kenntnis der Benjamin’schen Denkkunst bezieht. In neun Kapiteln diskutiert der Autor zentrale Kategorien aus Benjamins Denkwelten. Sprache, Bild, Zeit, Leib, Traum, Mythos, Baudelaire, Rettung, Eingedenken. Schon der erste Blick auf diese Kategorien deutet an, welche Spannbreite das Denken Benjamins umfasst. Begriffe wie Leib, Mythos und Rettung stoßen in Bereiche des Religiösen vor, die für manche Freunde, so etwa auch Bertolt Brecht, mit dem materialistisch-politischen Ansatz „nicht zu assimilieren“ waren. Derweil wusste jemand wie Gershom Scholem das „theologische Element an Benjamin“ sehr wohl zu schätzen. Beiden Positionen war im Übrigen ebenfalls wieder eine gewisse Fürsorge eigen; als ließe Benjamin sich womöglich von der einen wie der anderen Seite vereinnahmen, wodurch der Glanz seiner „Denkkraft“ (Max Horkheimer) getrübt würde.

Indem Friedlander die Instrumente des dialektischen Denkens und Verstehens in Benjamins Werk erläutert, würdigt er zugleich solch typische Denkerfindungen Benjamins wie das „dialektische Bild“ – Benjamin: „[…] ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt“ – als originäre Wege der philosophischen Erkenntnis. Und bestätigt ihre bis heute herausfordernde Aktualität. So stellt „der Moment des Erwachens“, in dem Traumbewusstsein und Wachbewusstsein den Erkenntniszusammenhang herstellen, nach wie vor einen faszinierenden Status des Erkennens dar. Wenn Benjamin schreibt, „die Verwertung der Traumelemente beim Aufwachen ist der Kanon der Dialektik“ und sie ist „vorbildlich für den Denker“, so bleibt uns noch eine Menge zu tun, um diese Potentiale des Erkennens zu erobern.

Dabei hilft dann Friedlanders Studie, indem sie sachkundig Benjamins Werk und Begrifflichkeit erläutert. Wer soweit dann ist, dem ist das systematische Ganze als Ordnungskriterium kaum mehr des weiteren Nachdenkens wert.

Titelbild

Eli Friedlander: Walter Benjamin. Ein philosophisches Porträt.
Übersetzt aus dem Englischen von Christa Krüger.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
317 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783406654572

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