Die Erinnerung bricht durch

Die Isländerin Steinunn Sigurdardóttir legt mit „Jojo“ einen verstörenden Roman vor

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser Roman ist verwirrend und gleichzeitig äußerst faszinierend. Auf wenigen Seiten nur entwickelt die isländische Autorin Steinunn Sigurdardóttir die Geschichte eines Missbrauchs und öffnet Abgründe, in die ihre Figuren stürzen. Der Roman „Jojo“ beginnt am Ende eines ausgefüllten Arbeitstages von Martin Montag. Der Arzt und Krebsspezialist sieht sich dem letzten Patienten des Tages gegenüber, dem er eben die Diagnose bekanntgeben musste, die bei jenem tiefe Verzweiflung auslöst. Immer wieder stellt dieser die nicht zu beantwortende Frage: „Warum ich? Warum muss ausgerechnet mir so etwas Furchtbares passieren?“ Martin Montag hat in diesem Gespräch keine Geduld mehr. Während er mit dem Patienten spricht, ihm klarzumachen versucht, dass jeder dritte Mensch im Laufe seines Lebens an Krebs erkranke und dass es keine sicheren Informationen darüber gebe, warum ein bestimmter Mensch von einem bestimmten Tumor befallen werde, schweifen seine Gedanken ab auf den Balkon, wo er bald mit „seiner Petra“ sitzen wird, vor sich ein Bier oder vielleicht ein Glas Rosé. Als er den Patienten endlich losgeworden ist, zusieht, wie er forsch davonschreitet, seine Frau zögernd und schlurfend hinter ihm her, kommt ihm der Gedanke, dass er diesen Mann kennen müsste. „Die Gehweise, der soldatische Takt“ – sie erinnern ihn an etwas, und daran, dass er diesem Mann vor vielen Jahren begegnet war. Die Erinnerungen, die hier aufgedeckt werden könnten, sind keine guten.

Doch vorerst tappt Martin Montag im Dunkeln. Er kommt nicht von diesem Patienten los, dessen Speiseröhrenkarzinom kreisrund ist und „aussieht wie ein feuerrotes Jojo“. Der Radiologe ist verwirrt, verstört, denn da taucht immer wieder dieses Bild auf, der kleine Junge, auf dem Schulweg, der Park, das feuerrote Jojo. Und es endet dort, wo der Junge gerade aus der Schule kam. Erinnerung verläuft nicht gradlinig, es sind Fetzen, die plötzlich da sind, Bilder, die noch keinen vernünftigen Sinn ergeben müssen. Damit sieht sich Montag konfrontiert, nach der Begegnung mit diesem besonderen Krebspatienten. Er flieht aus seinem behüteten und auch erstarrten Alltag. Einmal mehr ist es ein Trost, dass er seinem Leben ein Ende setzen könnte. In seinem Freund Martin Martinetti, der auch an Krebs erkrankt ist, findet er einen Seelenverwandten, einen, vor dem er sich nicht verstecken muss, dem gegenüber er bedingungslos ehrlich sein kann – er ist es auch. Martinetti ist gleichzeitig auch das totale Gegenteil von Montag, ein Alkoholiker, ein Obdachloser, ein Gestrandeter. Doch ist das nicht auch Montag, obwohl sich bei ihm die Heimatlosigkeit anders äußert? Obwohl er alles daran setzt, an klaren Strukturen festzuhalten, um nicht gänzlich den Halt zu verlieren. Und der – wie der andere Martin auch – den Freitod als ständige Option vor Augen hält, ohne die das Leben nicht möglich wäre.

Steinunn Sigurdardóttir ist eine Meisterin des knappen Erzählens in Andeutungen. Und sie schafft Verwirrung nicht nur dadurch, dass die beiden Männer den gleichen Vornamen – Martin – tragen, sondern auch durch die fließenden Übergänge in der Erzählperspektive und in den Zeiten. Das Bruchstückhafte der Erinnerung wird abgedeckt in der Erzählform, immer wieder werden Ereignisse nur angetönt, Geschichten bleiben unvollständig, nur nebenbei erwähnt, die Zusammenhänge ergeben sich nach und nach, indem die Leserin oder der Leser die Geschichten nach der Lektüre nochmals bei einer weiteren Lektüre selbst und neu zusammensetzen. Trotzdem wird nicht alles aufgehen, nicht alles lässt sich erklären, und das ist gut so. Der Erinnerung auf die Spur zu kommen, das Erlebte wieder ins Bewusstsein zu holen – das allein wird einen Menschen nicht gesund machen. So werden auch Martin Montag und Martin Martinetti nicht grundsätzlich andere Menschen, obwohl sie einen weiten Weg zurückgehen und sich dadurch letztlich alles verändert hat und auch weiterhin verändern wird. „Und zwei kleine Jungen auf dem Schlachtfeld, die nach dem Kampf aufeinander zugeirrt sind, schlafen todmüde und verwundet ein, und wenn sie erwachen, sind ihre Verwundungen nicht geheilt, aber die Jungen haben sich ausgeruht und sind insgeheim erstaunt und halbwegs froh darüber, das, was ihnen widerfahren ist, überlebt zu haben.“

Diese Sätze stehen fast am Ende des Romans, sie bieten keinen Trost. Was geschehen ist, lässt sich nicht ungeschehen machen. Doch Davonlaufen kann noch verheerender sein.

Titelbild

Steinunn Sigurdardóttir: Jojo. Roman.
Übersetzt aus dem Isländischen von Coletta Bürling.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2014.
192 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498064273

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