Friedenstechniker und Friedenskrieger

Gerhard Senft versammelt in „Friedenskrieger des Hinterlandes. Der Erste Weltkrieg und der zeitgenössische Antimilitarismus“ kriegskritische Texte

Von Julian NordhuesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Nordhues

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Neuerscheinungen zum Thema Erster Weltkrieg nehmen mit dem bevorstehenden 100. Jahrestag des Kriegsbeginns sprunghaft zu. Werke zur Diplomatie- und Politikgeschichte versprechen neue Erkenntnisse und sind auf den Bestsellerlisten erfolgreich. Wobei die Ankündigung einer geschichtspolitischen Neuinterpretation – häufig zum geschichtswissenschaftlichen Paradigmenwechsel erklärt – durchaus verkaufsfördernd wirken dürfte. Diese aktuellen historischen Abhandlungen bieten den kriegskritischen Stimmen des Ersten Weltkriegs, wohl auch wegen ihrer relativ marginalen Rolle, nur wenig Raum. Anders verhält es sich mit der vorliegenden Publikation von Gerhard Senft „Friedenskrieger des Hinterlandes. Der Erste Weltkrieg und der zeitgenössische Antimilitarismus“. Senft versammelt Artikel pazifistischer und antimilitaristischer Autorinnen und Autoren, die in den Jahren des Weltkriegs überwiegend im Deutschen Kaiserreich und in Österreich-Ungarn rezipiert wurden.

Neben den Texten bekannter und einflussreicher Persönlichkeiten der Friedensbewegung wie Leo Tolstoi, Bertha von Suttner, Romain Rolland und Alfred Hermann Fried finden sich auch weniger prominente, gleichwohl höchst lesenswerte Beiträge in Senfts Zusammenstellung. So befasst sich ein etwas skurriler und fast schon amüsanter Text von Paul Scheerbart („Die Entwicklung des Luftmilitarismus“, 1909) intensiv mit kriegstechnischen Auswirkungen eines imaginierten Luftkriegs. Für Scheerbart wird der Krieg durch das Eingreifen von Luftschiffen, die jeder Waffengattung und Befestigung überlegen erscheinen, gänzlich verunmöglicht. Diese dystopische Beschreibung der Verheerungen von Luftangriffen greift auch der Text von Bertha von Suttner („Die Barbarisierung der Luft“, 1912) auf. Mit der Eroberung der Luft verband sich zunächst auch für Pazifistinnen und Pazifisten die Hoffnung auf eine positive Entwicklung durch den technischen Fortschritt. Doch der erste Bombenabwurf aus einem Flugzeug im italienisch-türkischen Krieg 1911 zerstörte den Glauben an eine ausschließlich zivile Nutzung der Luftfahrt. „Alle Argumentationen übrigens, ob Luftschiffe und Flugapparate als Angriffswaffe eingeführt werden sollen oder nicht, sind durch die Tatsachen überholt – die Waffe ist schon eingeführt.“ (Bertha von Suttner) Die Warnungen von Suttners und Scheerbarts weisen über das konkrete Beispiel des Luftkriegs hinaus und richten sich gegen die Ausrufung des „Maschinenzeitalters“, gegen die euphorische und unkritische Technikbegeisterung, wie sie sich beispielsweise im Futurismus zeigte.

Eine insbesondere in der Vorkriegszeit weit verbreitete pazifistische Auffassung war die Möglichkeit der Konfliktprävention durch ökonomische Abhängigkeiten der Großmächte untereinander. Ein Krieg werde demnach für alle Kriegsparteien nur Nachteile bringen, sozialpolitisch sowie ökonomisch. In seinem Weltbestseller „The Great Illusion“ („Die falsche Rechnung. Was bringt der Krieg ein?“) von 1910 ist der Autor Norman Angell von der ökonomischen Sinnlosigkeit eines Annexions- und Eroberungskriegs auf europäischem Boden überzeugt: „Denn mit der Annexion eines Staates wird die Bevölkerung, die die wirkliche und alleinige Besitzerin des Reichtums ist, mitannektiert, und der Eroberer erhält nichts.“ Der eroberte Reichtum ließe sich nicht konfiszieren, der Eroberer sei „zu wirtschaftlicher Machtlosigkeit verurteilt“, so Angell. Wie schnell Angells Gedankengang wiederlegt wurde, zeigt die Besetzung Belgiens durch deutsche Truppen. Die deutsche Praxis der Plünderungen, der zügellose Raub und die Deportation zehntausender belgischer Arbeiterinnen und Arbeiter in deutsche Fabriken stellten ein organisiertes Programm der Ausbeutung eines eroberten Gebiets dar.

Mit insgesamt 130 Seiten nimmt der Text „Friedenskrieger des Hinterlandes“ des Anarchisten und Antimilitaristen Pierre Ramus alias Rudolf Großmann eine besondere Stellung in Senfts Publikation ein. Ramus beschreibt darin die Schikanen und Tortur seiner Untersuchungshaft im Militärgefängnis. Bereits wenige Tage nach Kriegsausbruch wurde Ramus wie viele andere „Verdächtige“ verhaftet. Bestand auch nur das geringste Anzeichen für eine unpatriotische Haltung oder wurden kriegskritische Anspielungen gemacht, konnte dies zur Denunziation durch Polizeispitzel oder kriegsbegeisterte Zivilisten führen. Das beklagenswerte Schicksal von Häftlingen und die Auswirkungen des k.u.k. Militärstrafwesens schildert auch der Rechtsanwalt und Publizist Walther Rode („Der Schlossberg von Laibach im Kriege“, 1924), als Beispiel dienen ihm die unbegreiflichen Zustände im Gefängnis Schlossberg in Laibach/Ljubljana. Rode berichtet von einem inhaftierten slowenischen Religionslehrer, der auf die Aussage eines Gymnasiasten „Gott strafe England!“, antwortete: „Was redest du, dummer Bub: Gott strafe England – Gott verzeihe Österreich.“

Ramus’ Text erschien im „Antikriegsjahr“ 1924, dem Jahr, in dem auch das Fotobuch „Krieg dem Kriege“ des Antimilitaristen und Anarchisten Ernst Friedrich veröffentlicht wurde. Beide Autoren zeichnen sich durch ihre pädagogische Absicht und eine zuweilen pathetische aber unmissverständlich kriegskritische Sprache aus. Sie stehen für den Typus des radikalen Kriegsgegners – des „Friedenskriegers“. Ihre antimilitaristische Position zur Kriegsprävention empfahl den Massenstreik in Großkonzernen und Rüstungsbetrieben und die Kriegsdienstverweigerung. Neben der Erkenntnis der ökonomischen und militärischen Verflechtungen spielte für sie die Frage nach der Gewaltförmigkeit des Staats eine wesentliche Rolle. Es ging darum, „die militärische Vernunft und Logik als legitimes Kind, als eine Variante der Staatsvernunft zu erkennen“ (Ekkehart Krippendorff).

Der überwiegende Teil der von Senft ausgewählten Texte spiegelt die konsequente pazifistische Haltung der Autorinnen und Autoren wider und kommt so der vom Herausgeber versprochenen Auswahl der kriegskritischen Stimmen des Hinterlands nach. Umso mehr verwundert die Aufnahme einiger äußerst ambivalenter Texte. So beklagt beispielsweise Albrecht Mendelssohn Bartholdy in seinem Artikel „Der Krieg als Erzieher zum Frieden“, wie sich durch den Krieg die Qualität verschiedener Medien verschlechtert habe. Es gäbe zu viele Kinofilme, zu viele Fotografien und zu viel schlechte (Unterhaltungs-)Musik. Mendelssohn Bartholdys Aussagen lassen sich in die Tradition bürgerlich-konservativer Kulturkritik einordnen, gleichzeitig schließen sie jedoch auch an das kriegsbejahende Narrativ vom notwendigen Krieg an, der als Erneuerer sittlich-moralischer Werte geeignet sei, die Menschen zu läutern. „[Der Krieg] zeigt den Fehler auf, der im Frieden so bösartig gewachsen ist, dass er nicht mehr zugedeckt bleiben kann.“ Eine dezidiert pazifistische oder gar antimilitaristische Haltung lässt sich in Mendelssohn Bartholdys Artikel nicht erkennen. Ähnliches ist bei der Frauenrechtlerin Rosa Mayreder („Der Haager Frauenkongress im Lichte der Frauenbewegung“, 1915) zu beobachten, sie „vermag […] keinen Widerspruch darin erblicken, dass man sich gegen den Krieg als solchen erklärt und zugleich von Bewunderung für die Männer bewegt ist, die mit heroischer Todesverachtung die furchtbaren Anforderungen an Gut und Blut erfüllen“.

Phrasen und Euphemismen ziehen sich auch durch den Text von Alfred Hermann Fried („Der Pazifismus von morgen“, 1915), der von „Schwertern“ spricht, die ihre Arbeit verrichten. In diesem verharmlosenden und unreflektierten Sprachgebrauch zeigt sich das fatale Wirken der propagandistischen Phrasen. Karl Kraus nannte die Verbindung der Phrase mit der todbringenden Technologie des modernen Kriegs das „technoromantische Abenteuer“. Für Kraus, der in Senfts Sammlung mit seinem Text „In dieser großen Zeit“ (1914) vertreten ist, bestand das grundsätzliche Problem in der Tatsache, dass ein moderner industrieller Krieg mit einem antiquierten und romantisierenden Vokabular beschrieben wurde, mit Begriffen wie „Ehre“, „Ritterlichkeit“ und „Heldentod“.

Alfred Hermann Fried, der sich als „Friedenstechniker“ bezeichnet, hebt die Überlegenheit des organisatorischen und wissenschaftlichen Pazifismus gegenüber dem erst im Krieg aufgekommenen pazifistischen „Dilettantismus“ hervor und warnt vor der Zersplitterung und Radikalisierung der kriegskritischen Bewegung.

Anhand dieser Beispiele zeigen sich die unterschiedlichen sozialen, politischen und ideengeschichtlichen Hintergründe der Autorinnen und Autoren, die ihrer Kriegskritik zugrunde liegen und sich in der Beschreibung und Einordnung des Kriegs sowie in ihrem kritischen Abstraktionsvermögen widerspiegeln. Die Texte von Pierre Ramus und Alfred Hermann Fried können hier exemplarisch für die divergierenden Meinungen und Positionen des (sozialistischen und anarchistischen) Antimilitarismus und des bürgerlich-liberalen Pazifismus stehen: Das Verständnis des Antimilitarismus für den Zusammenhang von ökonomischer und militärischer Macht fand keine Entsprechung im organisatorischen Pazifismus.

Es ist nicht unproblematisch, dass alle Texte in Senfts Publikation unter den Begriff des Antimilitarismus subsumiert werden. Zwar weist der Herausgeber in seinem einleitenden Artikel auf die Unterschiede zwischen Antimilitarismus und bürgerlichem „Petitions-Pazifismus“ hin, eine differenziertere Auseinandersetzung mit diesen Konzepten bleibt allerdings aus. Vor dem Hintergrund der teilweise völlig unterschiedlichen Bewertung von Krieg und Frieden, Staat, Herrschaft und Macht durch die Autorinnen und Autoren wäre hier eine intensivere Beschäftigung mit den theoretischen Ansätzen wünschenswert gewesen.

Vielleicht kann aber gerade diese Inkongruenz dazu beitragen, eine weitere Auseinandersetzung mit dem Antimilitarismus und dem Spektrum pazifistischer Strömungen anzuregen. Gerhard Senft hat dafür viele beeindruckende Artikel in seinem Band versammelt. Ebenso verdienstvoll ist die Publikation der unbekannteren Texte, wie beispielsweise das mutige Gedicht „Mit den Besiegten“ von Hedwig Lachmann. Bei Kriegsbeginn, als in Presse und Publizistik nationalistische Begeisterung herrschte und Siegesnachrichten den Vormarsch der deutschen Armeen begleiteten, schreibt sie:

Weit lieber doch besiegt sein, als verführt
Von eitlem Glanz – und wenn auch am Verschmachten,
Und ob man gleich den Fuß im Nacken spürt –
Den Sieger und das Siegesglück verachten.

Titelbild

Joseph Roth / Bertha von Suttner / Pierre Ramus: Friedenskrieger des Hinterlandes. Der Erste Weltkrieg und der zeitgenössische Antimilitarismus.
Herausgegeben von Gerhard Senft.
Löcker Verlag, Wien 2014.
330 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783854097204

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