Der souveräne Junkie

Die YouTube-Serie „Shore, Stein, Papier“

Von Dominik SchöneckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dominik Schönecker

Seit Ende 2012 veröffentlicht der YouTube-Sender ZQNCE – einer der ersten sogenannten ‚Original Channels‘ dieser Plattform – jeden Mittwoch Abend bis zu drei Folgen seiner dokumentarischen Serie „Shore, Stein, Papier“, in der ein etwa vierzigjähriger Mann – er nennt sich selbst $ick – über sein Leben als Süchtiger, Beschaffungskrimineller und Insasse von mehreren Strafanstalten ab den späten 1980er Jahren erzählt. Bisher sind auf diese Weise 212 Folgen erschienen, die mittlerweile in der 4. Staffel gezeigt werden. Die Serie hat eine Menge treuer Zuschauer: Die erste Folge wurde bisher über 400.000 Mal, die letzte gut 11.000 Mal aufgerufen. Dies ist ein beachtlicher und vor allem zählbarer Erfolg eines sich neu organisierenden Fernsehens jenseits der etablierten Kanäle.

Zu sehen und zu hören gibt es nur den Ex-Junkie als Ich-Erzähler. Die Kamera filmt ihn vom Oberkörper aufwärts in verschiedenen Einstellungen und aus verschiedenen Winkeln, die während einer Folge wechseln können. Als Kulisse dienen unterschiedliche Tische, die in unterschiedlichen Räumen einer offensichtlich bewohnten Wohnung stehen. Die gewählte halbnahe Einstellung auf $ick simuliert dabei eine Face-to-Face-Situation zwischen Zuschauer und Erzähler in der entspannten Atmosphäre eines Tischgesprächs. $icks Gesprächspartner, der ihm seine Geschichten entlockt, bleibt unsichtbar und auch seine Fragen sind im Schnitt entfernt worden. Dadurch gibt es keine Ebene über der Ich-Erzählung, keine Einordnungen, Kontextualisierungen und auch keine Meinung einer übergeordneten Instanz. Die Kommentierung wird den Zuschauern überlassen. In deren Kommentaren, die unter den einzelnen Folgen aufgelistet sind, aber auch in den bisher erschienenen Presseartikeln wird vor allem $icks erzählerisches Talent und die Authentizität der Serie wie ihres Protagonisten herausgestellt. Hier wird über die Faktualität bzw. den Wahrheitsgehalt bestimmter Szenen und Anekdoten diskutiert, (vermeintliche) Ungereimtheiten im Erzählvorgang werden aufgedeckt und eigene Erfahrungen im Umgang mit Drogen etc. berichtet.

Die Authentizität des Erzählers ist es auch, die seinen Ruhm begründet. Sie ist allerdings keine Eigenschaft, die dem Protagonisten innewohnt, sondern das Ergebnis einer Zuschreibung, die auf die Inszenierung von Echtheit bezogen ist. Aussagen zur ‚Echtheit‘ oder ‚Glaubwürdigkeit‘ sind daher letztlich das Ergebnis von Auslegungen, die auf den Zuschauer selbst und eben nicht auf den Urheber deuten. ‚Authentizität‘ ist deshalb gerade angewendet auf gesellschaftliche Randgruppen und anderweitig marginalisierte Gruppen nicht zuletzt ein hegemonialer Begriff zur Absicherung der eigenen Mehrheitsidentität, indem das Andere als für sich authentisch interpretiert und so vom Eigenen abgegrenzt wird. Den Marginalisierten selbst geht es um etwas anderes: um einen souveränen Ausdruck ihrer selbst, der von diesem programmatischen Begriff bedroht wird, der (auch medial) von außerhalb der Gruppe vergeben wird und eben keine Selbstbeschreibung darstellt.

In diesem problematischen Sinne war Authentizität zum Beispiel auch das beherrschende Thema in der Rezeption von Feridun Zaimoglus Büchern „Kanak Sprak – 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft“ (1995) und „Abschaum – Die wahre Geschichte von Ertan Ongun“ (1997). Natürlich hatte es Zaimoglu darauf angelegt, die Diskussion auf die Lebensumstände einer marginalisierten Schicht zu lenken, auf dokumentarische Zeugnisse und darauf, die Wahrheit zu erzählen, wie es der Untertitel von „Abschaum“ nahelegt. Und selbstverständlich funktioniert „Shore, Stein, Papier“ nur deshalb, weil dessen Protagonist als authentisch empfunden wird und man ihm glaubt, was er erzählt. Das eigentliche Thema von Zaimoglus Texten ist aber keinem naturalistischen Programm entsprungen, sondern einem Ideal des souveränen Selbstausdrucks: „Diese Sprache entscheidet über die Existenz“, schreibt Zaimoglu im Vorwort von „Kanak Sprak“. Zu beobachten ist dieser Kampf um Präsenz beispielsweise auch im aktuellen deutschen Hip Hop, mit dem sich auch ZQNCE in verschiedenen Formaten auseinandersetzt. Ähnlich wie der Punk der 1970er Jahre ist der Hip Hop mit seinen Gewalt-, Männer- und Gangsterphantasien eigentlich ein Kampf um Präsenz. Und diese schafft man sich einerseits im eigenen Ausdruck, andererseits aber auch in Gestalt einer Figur, durch die man seinem marginalisierten Selbst mit dem bürgerlichen oder migrantischen Namen, der behördlich registriert ist, entfliehen kann, indem man sich „Haftbefehl“, „Kollegah“ oder eben „$ick“ nennt, und sich so einen eigenen Namen gibt. Das funktioniert natürlich nur, wenn Ausdruck und Nom de guerre ihrerseits in gewissem Sinne als ‚authentisch’ rezipiert werden.

Hier soll es jedoch vorrangig um Entscheidungen auf der Ebene der Produktionsästhetik gehen. Diese setzt natürlich spezifische Anreize, um dem Zuschauer das Erlebnis des Authentischen zu vermitteln, zielt dabei aber auf etwas anderes ab: Souveränität und Unmittelbarkeit. Beides hat mit den Urhebern der Serie, $ick und ZQNCE, zu tun. Diese Ebene der Produktion lässt einen Mann zur Sprache kommen, der stellvertretend für eine Schattengesellschaft die Stimme erhebt. Indem $ick sein Leben als Süchtiger und Krimineller öffentlich erzählt, um seine persönliche Souveränität, die ihm Sucht und Gefängnis genommen haben, zurückzuerlangen, spricht er sich gleichzeitig für die Souveränität der unsichtbaren, schattenhaften Existenzen aus, die sich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft Räume geschaffen haben, in denen sie „Abbunkern und Absetzen“ (Folge #40) oder einfach für ein paar Stunden in einem geschützten Winkel knapp unterhalb der Bordsteine Shore rauchen können. Sie halten diesen Raum und schaffen sich neue Räume, wenn der gesellschaftliche Druck zu groß wird und sie vertrieben werden (Folge #45: Schwarze Sheriffs). Sie haben ihre Erkennungszeichen und müssen lernen, ganz andere Zeichen zu deuten. So kommt $ick immer wieder darauf zu sprechen, wie sehr er darauf trainiert war, spezifische Zeichen zu erkennen. Wo gibt es Stoff? Wo ergibt sich eine Gelegenheit für einen schnellen Diebstahl oder Einbruch und so weiter.? Die Süchtigen, die Diebe, die Einbrecher und Dealer, aber auch zum Beispiel die Tagger, werden im öffentlichen Diskurs ausgeblendet oder zum Gegenstand politisierter und emotionalisierter Debatten. Mit $icks Erzählen kommt diese unsichtbare Gesellschaft nun selbst zu Wort.

Das Thema der Lebensbeichte ist dabei nicht neu. Das Neue ist die größere Unmittelbarkeit, die den Zuschauer mit der Existenz einer Parallelwelt konfrontiert und ihn mit dieser alleine lässt, indem die Ebene der Vermittlung – oder Vertextung – wegfällt. Diese Anordnung erregt geradezu zwangsläufig die Kritik der offiziellen Institutionen für Drogen- und Suchtprävention, wie man auf fluter.de, dem Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung, nachlesen kann. Tatsächlich könnte ein öffentlich rechtlicher Sender mit seinem Bildungsauftrag manche von $icks Äußerungen nicht unkommentiert lassen, weil er zum Beispiel durchaus davon spricht, wie sehr er Heroin und Koks „gefeiert“ hat oder wie viel Spaß er bei manchen Einbrüchen und Coups hatte. Die Entscheidung des Senders, $ick seine Geschichte unvermittelt erzählen zu lassen, setzt deshalb ein Publikum voraus, das die Geschichten selbst kommentieren und bewerten kann – und nirgendwo „abgeholt“ werden muss..

Das Genre der Serie ist ebenfalls nicht neu: Bekenntnis, Autobiographie. Die Autobiographie eines Kriminellen wie „L’Instinct du Mort“ ist diese Serie aber genauso wenig wie ein Beicht-Interview oder eine Talk-Runde, gerade weil die Fragen herausgeschnitten wurden, als seien sie von keinerlei Interesse. Man hört $icks Stimme, man sieht seine Mimik und seine Gestik direkt nach der Frage. Bisweilen gestikuliert er raumgreifend. Man vernimmt einen Slang, der nichts mit einer ‚Kanak Sprak‘ zu tun hat, sondern eine sehr bürgerliche und deutsche Sprache ist. $ick ist um Genauigkeit bemüht und beansprucht keinen literarischen Stil, aber er beherrscht durchaus verschiedene Register des Erzählens und verwendet Fachbegriffe aus der Szene-Sprache beziehungsweise einem urbanen Rotwelsch, die er immer wieder erläutern muss. Eine Vermittlung beziehungsweise Stilisierung erfolgt neben der Medialität in der Performanz des Erzählens, im nachträglichen Schnitt der einzelnen Folgen und in ihrer Zusammenstellung, nicht in einer abgewogenen Formulierung beziehungsweise einer begrenzten Auswahl an Fragen, die einer Dramaturgie folgen. Deshalb fällt auch die Aufgeregtheit des privaten Fernsehens weg, das mit Emotionen, die die Gesellschaft zum Beispiel gegenüber sehr jungen Säugetieren oder Underdogs im Allgemeinen hegt, Quote macht.

Diese Serie nimmt sich des Weiteren die Zeit, von Anfang an zu erzählen. Deshalb sind es auch Kategorien wie Dauer und Frequenz, die „Shore, Stein, Papier“ beispielsweise von einem rein beobachtenden Dokumentarfilm oder einem Interview abgrenzen. $ick erzählt gelassen und manchmal ausgelassen, wenn er zum Beispiel vom letzten Einbruch bei „Schuh Goertz“ (Folge #30) und von den Seidenshorts von SØR berichtet, die er danach zehn Jahre lang getragen habe. Dabei verschweigt und verschleiert er aber auch einige Details, was juristische Gründe haben kann (etwa eine Straftat, für die er nicht belangt worden und deren Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist) oder persönliche Informationen, wie die realen Namen seiner Weggefährten mit ihren Szene-Pseudonymen wie „Dekra, One-K, Klein Totti & Patatas“ (Folge #34) oder ethnischen Zuschreibungen wie „der Ägypter“ oder „der Pole“ zu kaschieren. Als Zuschauer empfindet man die Überwindung ganz unmittelbar, die es ihn kostet, von den Mechanismen der Sucht zu sprechen, von seiner Gier nach Kokain, die ihn dazu getrieben hat, einen anderen Junkie einzustellen, der ihm die nächste Spritze setzte, wenn er es selber nicht mehr konnte, und sich als Lohn dafür ein paar der Reste drücken durfte. Die Episoden zum „Koks ballern“ (Folgen #134-136) sind drastische Darstellungen der Sucht.

$icks Geschichte ist eine Geschichte des Abgrunds und sie geht dem Zuschauer deshalb nahe, weil er Mitleid oder Freude mit $ick empfindet, wenn er zum Beispiel vom gelungenen Ausbruch aus dem Jugendvollzug in Hameln erzählt (Folge #88). Die infame Gesellschaft der Süchtigen und Kriminellen ist nämlich nie mit Abgrenzungen ethnischer, sprachlicher oder sozialer Art abzustecken. Natürlich gibt es die Koks-Albaner, die man besser nicht beklauen sollte (Folgen #126/127), aber die Gaunerei dehnt sich wie $icks Sprache bis in die vermeintlich normale Mitte aus: auf Kiosk-Besitzer, die die Zigaretten kaufen, die $ick zuvor aus einem anderen Kiosk gestohlen hat (Folge #189), auf Kaufhausdetektive, die für eine Provision wegsehen (Folge #18) und auf Sprösslinge wohlhabender Eltern, die sich ihre Sucht finanzieren müssen (Folgen #111-113).

Betrachtet man die Serie von dieser Warte aus, werden diese Zuschreibungen unterlaufen. Die Authentizität des Protagonisten ist nur ein – durchaus gewolltes und inszeniertes – Transportmittel, das ein souveränes Erzählen gelingen lässt. $ick ist kein Held, aber auch kein Dämon, sondern ein Vexierbild der Gesellschaft. Er wehrt sich mit seinem Lebenslauf dagegen, Opfer oder Täter zu sein und erzählt stattdessen, welche Entscheidungen er getroffen hat und wohin sie ihn gebracht haben. Diese Geschichte gehört ihm allein und er entscheidet, was er erzählt, was er ausschmückt, überspitzt oder verschweigt.

Alle Folgen der Serie auf Youtube

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen