Neun Blubberblasenmomente

Roman Marchel liest bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur

Von Lisa-Marie GeorgeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisa-Marie George

Ein Versteck im Bretterschuppen, ein Tanz im Regen, eine schöne Erinnerung: „So viel Zeit ist vergangen und doch mitunter bedeutungslos. Als wären die Wege, auf denen das Leben verläuft, nur an den Kreuzungspunkten von Interesse, an den Marken des Innehaltens.“ Eben jene Einschnitte im Leben beschreibt Roman Marchel in seinen Erzählungen, veröffentlicht 2013 in Residenz Verlag unter dem Titel „Wir waren da“. Scheinbar kreist die menschliche Erinnerung um genau diese Marken im Leben; Jugenderlebnisse werden für die Figuren von Marchel zu wertvollen Gedächtnisbildern: Aber nicht nur für sie, sondern für jeden, der fähig ist, sich an wichtige Ereignisse in seinem Leben zu erinnern, wie der Titel seines Erzählbandes „Wir waren da“ herausstellt – ein Moment von Zugehörigkeit, Anteilnahme, Zuversicht.

Diese Zuversicht können Marchels Figuren aber keineswegs immer aufbringen. In der ersten Geschichte „Der Roboter und das Mädchen“ erzählt Alexander von seiner Schwester Ina, die als Neunjährige von einem Roboter entführt wurde. Was zunächst skurril klingt, ist eine Geschichte über den für die Angehörigen schmerzlichen Verlust eines geliebten Menschen: „Ich würde mein ganzes Gedächtnis dafür geben, wenn ich nur dieses Gesicht, diese Hand mit den gespreizten Fingern vergessen könnte.“ Die Wünsche und Bekenntnisse des Ich-Erzählers wirken so unprätentiös und aufrichtig, dass der Leser bis zum letzten Satz des Romans mit dem Protagonisten mitfühlt: „Aber ich wünschte so sehr, ich könnte auch gehen“.

Marchels Sprache, die er seinen Figuren leiht, ist so schlicht und unaufgeregt, dass ihm sogar das Idiom eines Jugendlichen im Bericht über seine Vergangenheit gelingt („So Scheiße halt“). Für die schräge und doch glaubwürdige Verbindung von Zukunftsvision und trauriger Alltäglichkeit gewann Roman Marchel bereits 2004 den Siemens-Literaturpreis.

In „Schwimmer in den Kronen“, der zweiten Erzählung, kehrt Marchel die Perspektive um. Hier berichtet eine erwachsene Frau über ihre Jugend und ihren damaligen Freund Markus. Die Erlebnisse von einst beschreibt sie als „Blase in der Zeit“. Und so werden die Nachmittage und Nächte, die sie mit ihrem besten Freund auf dem Dach seines Elternhauses verbrachte, für sie zu „Blubberblasenmomenten“. Es sind sprachliche Bilder wie dieses, durch welche sich Marchels Geschichten so stark in das Gedächtnis einschreiben. „In der Blase bist du, du siehst durch sie hindurch auf die Welt um dich, und gleichzeitig siehst du an ihrer Wand dich in der Welt, du kannst aus dir und auf dich, auf uns in der Welt schauen, schau.“ Jede Erinnerung in den neun Erzählungen hat Wiedererkennungspotential und wird dadurch selbst zu einem „Blubberblasenmoment“. Doch was bleibt, wenn die Blase zerplatzt?

Dies geschieht etwa in der Geschichte „Der Tunnel“, in der ein Paket eine verdrängte Erinnerung wieder ans Tageslicht befördert. Eine alte Frau kämpft mit Schuldgefühlen und erkennt schließlich, dass sie mit ihnen leben kann und muss: „Meine Erinnerungen sind nicht farbecht, alles ist durch unzählige Überlagerungen verfälscht (auch Feigheit und Eitelkeit bis zuletzt), aber wenn ich an Augustus denke, […] spüre ich, dass es nur noch ein kleines Stück ist, bis alles stimmt.“

Dass die Jugendlichen oder zurückblickenden Erwachsenen in jeder der Erzählungen mit Gefühlen von Verlust und Reue konfrontiert werden, betont vor allem, welch starke Emotionen und Erinnerungen diese Einschnitte hervorrufen. Der Tod ist bei Marchel allgegenwärtig.

Der 1974 geborene Autor hat Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik in Wien und Paris studiert. Seine einfühlsame und direkte Prosa wurde 2006 mit dem Theodor-Körner-Förderpreis und 2013 mit dem Staatsstipendium für Literatur ausgezeichnet. Sich in den Vordergrund drängen möchte Marchel dennoch nicht. Alle Interviewanfragen im Vorfeld des Bachmannpreises lehnte er höflich ab. Im südlichen Waldviertel in Niederösterreich lebt er zurückgezogen mit seiner Familie, aber Anfang Juli wird er auf Einladung von Arno Dusini in Klagenfurt lesen. Die Marchelschen Emotionen sind zu erwarten.