Mein Überleben als Mann

Hans Keilsons Tagebuch des Jahres 1944

Von Simone SchröderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Schröder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Hans Keilsons Name 2011 durch die Feuilletons vieler deutscher Zeitungen zirkulierte, war der Schriftsteller und Psychoanalytiker bereits über hundert Jahre alt. Die Literaturbeilage der „Zeit“ enthielt damals eine mehrseitige Homestory mit Porträtaufnahmen des Autors und die Geschichte, die dazu erzählt wurde, klang wie erfunden. Der späte Ruhm warf ein neues Licht auf Keilsons Karriere als Schriftsteller, wie ein Scheinwerfer, der plötzlich in die Vergangenheit gerichtet wird und in dessen hellem Lichtkreis alles anders aussieht: Keilson hatte seinen ersten Roman Das Leben geht weiter 1933 noch zur Zeit der Weimarer Republik veröffentlicht, während er in Berlin Medizin und Sport studierte. Es war das letzte Debüt eines jüdischen Autors, das der S. Fischer Verlag herausbrachte. Kurz nach Hitlers Wahlsieg verboten es die Nazis. Auf diese Weise geriet der Roman, der im Stil der Neuen Sachlichkeit vom Bankrott eines Kleinunternehmers erzählt, trotz positiver Besprechungen schnell in Vergessenheit.

Keilson floh mit seiner ersten Frau Gertrud in die Niederlande, wo er auch nach Kriegsende blieb. Im Jahr 1947 erschien als eines der letzten Bücher des Querido Exilverlags die Komödie in Moll, eine Novelle über einen Untertaucher, der im Versteck an einer Krankheit stirbt und damit das Ehepaar, das ihn versteckt hielt, in die schwierige Lage bringt, einen Toten aus dem Haus schaffen zu müssen, den es offiziell gar nicht gibt. Ebenso wie Keilsons zweiter Roman, Der Tod des Widersachers (1959), fand die Novelle keine größere Leserschaft. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen kaufte ein amerikanischer Übersetzer das Buch durch einen Zufall in einem Antiquariat in Klagenfurt, weil er es mit der Vorlage zu Helmut Käutners Film Romanze in Moll (1943) verwechselt hatte.[1] 2010 wurde Comedy in a Minor Key in den USA veröffentlicht, gefolgt von einer ekstatisch begeisterten Rezension in der New York Times. Die Besprechung machte Keilson international einem größeren Publikum bekannt und fand auch ein Echo in den deutschen Medien. Keilson trat damit gewissermaßen ins Scheinwerferlicht des Literaturbetriebs und wurde als über Hundertjähriger plötzlich als deutscher Jahrhundertautor gefeiert, der das ganze zwanzigste Jahrhundert erlebt hatte.

Postum ist nun Hans Keilson Tagebuch 1944, herausgegeben von Keilsons Witwe Marita Keilson-Lauritz und mit einem Nachwort des Keilson-Kenners Heinrich Detering, erschienen. Die Einträge des Tagebuchs beschränken sich auf die Monate März bis Dezember eines einzigen Jahres. Während Thomas Mann an der Küste von Kalifornien in Pacific Palisades Tagebuch führte, während die Bomber der Alliierten durch den holländischen Himmel auf Deutschland zuflogen, während Keilsons Eltern im Konzentrationslager Ausschwitz noch lebten oder nicht lebten, während seine Schwester in Palästina war, hielt Hans Keilson sich zu Beginn des Jahres 1944 bereits seit fast acht Jahren im niederländischen Exil und seit knapp einem halben Jahr mit falschen Papieren untergetaucht in Delft auf. Keilson war 1944 fünfunddreißig Jahre alt, verheiratet, hatte eine kleine Tochter und eine deutlich jüngere jüdische Geliebte, Hanna Sanders, die ebenfalls in Delft untergetaucht war. Dass es das vorletzte Kriegsjahr sein würde, konnte er nicht wissen, als er schrieb.

Auch wenn die äußere Situation zunächst an die anderer Untergetauchter wie Anne Frank erinnert, hat Keilson in Delft nicht wie ein Gefangener im Versteck gelebt. Anders als Anne Frank und anders auch als Nico, der Protagonist in Komödie in Moll, war Keilsons Bewegungsspielraum nicht auf eine kleine Kammer beschränkt. Offiziell lebte er bei seinen Gastgebern als Untermieter und pädagogischer Betreuer der beiden Töchter. Für Notfälle war ein geheimes Zimmer mit Fluchtweg über den Dachboden der Nachbarn vorgesehen. Dank eines gefälschten Passes auf den Namen „Johannes Gerrit van der Linden“ und dank guter Niederländischkenntnisse konnte Keilson sich „wie ein Normaler auf der Straße“, teilweise sogar zwischen den uniformierten Besatzern, bewegen. Das ermöglichte es ihm nicht nur als Kurier, Geld und Nachrichten innerhalb holländischer Widerstandsnetzwerke zu überbringen, sondern auch im Krankenhaus Operationen beizuwohnen, Gertrud und das Kind zu besuchen, ins Kino zu gehen und sich mit seiner Geliebten zu treffen, die nur wenige Minuten von seinem Haus entfernt versteckt war.

Im Vergleich zu anderen Tagebüchern aus dieser Zeit, insbesondere im Vergleich zu Anne Franks Tagebuch, wird die Erwartung enttäuscht, hier könne ein Dokument des Alltags im Untergrund entdeckt werden. Keilsons Tagebuch besticht vor allem als intensives Selbstgespräch. Allenfalls Randbemerkungen vermitteln einen Eindruck des Alltags im Exil. Sie stehen nicht im Zentrum des Tagebuchs. Doch was ist das Ziel des Schreibens? Bereits auf der ersten Seite fällt das Wort „Beichte“, als rufe Keilson es zu Beginn in den Echoraum literarischer Autobiografen wie Augustinus und Rousseau, um in der Folge die Koordinaten seines Schreibens am Ideal der schonungslosen Selbstdurchleuchtung auszurichten. Das Tagebuch entwickelt eine psychologische Innenschau, die von Keilsons Anliegen bestimmt ist, zu einer klareren Sicht auf sich selbst, auf seine Rolle als Schriftsteller, aber auch als Mann zu gelangen. Demgegenüber tritt die politische Situation im besetzten Delft in den Hintergrund.

Viele der Einträge kreisen um die Frage nach dem Verhältnis zu Hanna und Gertrud, das bestimmt ist von Keilsons Unentschlossenheit. In einem Eintrag vom 19. April etwa schreibt Keilson: „Unentschiedenheit der Gefühle, aber nicht für die eine, gegen die andere. Sondern für mich, Einsamkeit, eigener Rhythmus, – oder Anpassung, fremdes Wesen. Beinahe Bruch mit Gertrud. Sie fühlt meine härtere Entschlossenheit und ich habe sie in der Tat auch im Wesen. […] Zwischen Gertrud und mir kommt es leicht zum Bruch. Ihre aufgeregte Primitivität, aggressiv, wird uns auseinander bringen. Aber jetzt keine Probleme. Ihr heftiger Konflikt bei einer evtl. Reise nach Deutschland. –. Danach Hier [sic]: Hanna. Natürlichkeit, die leider ein wenig verbogen ist. Sie weinte sehr. Was ist das Mädchen wunderbar. Tief klingt eine Saite in mir, wenn ich bei ihr bin.“

Während Keilson die Begegnungen mit Hanna zu Beginn euphorisch erlebt, distanziert er sich zunehmend und entscheidet sich Ende des Jahres schließlich für ein Leben mit Gertrud und der gemeinsamen Tochter. Das Tagebuch zeichnet die Entwicklung im Verhältnis zu den beiden Frauen nach. Dass die Entscheidung für die Ehefrau, wie Marita Keilson-Lauritz in ihrer Einleitung bemerkt, zusammenfällt mit dem Ende des Tagebuchs, ist signifikant. Schreiben bedeutet für Keilson einen Diskurs über seinen Standpunkt zwischen den Rollen als Mann, Schriftsteller und Arzt zu führen. Über die Gefühle der Frauen hingegen erfährt man wenig, möglicherweise zog Keilson sie weniger in Betracht als man wahrhaben möchte.

Verbunden mit der inneren Unentschiedenheit zwischen Hanna und Gertrud ist zugleich eine grundsätzlichere Ungewissheit über den richtigen Lebensentwurf, die im Tagebuch immer wieder als Entscheidungsfrage zwischen Kunst und Bürgertum aufgeworfen wird. Der Gedanke an Gertrud ist vordergründig verbunden mit dem Bewusstsein über die eigene Rolle als Vater und Ehemann. Dem bürgerlichen Lebensentwurf widersetzt Keilson sich innerlich, auch wenn er zurückdenkt an die Pläne seiner Eltern vor dem Krieg und in einer unkonventionellen Denkbewegung Hitlers Rolle vom Verbrecher zum Erlöser umdeutet: „Ich erinnerte mich an meinen Onkel, dessen Praxis ich übernehmen sollte, und wonach, wenn alles gut gegangen wäre, wie es zum Glück nicht gegangen ist, ich mit 25 Jahren wohlbestallter Kassenarzt, d.h. lebendig begraben wäre. In Hamburg. Schon damals habe ich mit dem Wunsche gespielt, daß doch etwas dazwischen kommen möge! Und das ‚Etwas‘ ist dann auch gekommen. Herr Hitler ist nur der kleine Unterschied und das Etwas!“

Hanna steht insofern für einen anderen Lebensentwurf als Keilson mit ihr seine Arbeit als Schriftsteller verbindet. Mit Hanna spricht er über seine Lektüre, vorwiegend über Lyrik, sie inspiriert ihn zum Schreiben und später übersetzt sie sogar seine Komödie in Moll ins Niederländische. Für Hanna arbeitete Keilson in Delft an einem Sonettzyklus, der ihre Beziehung aber auch allgemeinere Themen wie die Situation im Untergrund aufgreift. Die 46 Gedichte sind im Anhang des Buchs erstmals vollständig abgedruckt, was begrüßenswert ist, weil Keilson den Schreibprozess im Tagebuch selbst immer wieder reflektiert. Die strenge Form des Sonetts, zusammen mit einer teilweise stark pathetisch überhöhten Sprache lassen die Gedichte, mit einigen wenigen Ausnahme, auf den heutigen Lesenden allerdings eher starr und antiquarisch wirken. Dass Keilson später womöglich selbst Abstand von den Sonetten genommen hat, lässt sich aus dem Umstand schließen, dass nur ein geringer Teil in seinen Lyrikband Sprachwurzellos (1986) aufgenommen wurde. Dazu zählt auch folgendes Gedicht:

XII (später: Im Versteck)

Die kleine Kammer, die Dein langes Warten
umsäumt mit kahler, spiegelloser Wand,
und wir, versteckt gesessen, Hand in Hand,
hinter verhangenem Fenster, in den Garten

mit Wehmut spähend, wo der Blütenstand
das Jahr in Farben wiegt und aus den harten,
verwirkten Tagen in die müd gestarrten
Augen es wie Balsam fiel, – so fand

ein jeder aus der Welt ein Bild zurück,
mit dem er sein Verlassensein bestärkt.
Und Deine Kammer wurde weit, ein Haus

mit Türen, Fenstern, wo bald ein und aus
die Freunde gingen. Nur der Tod bemerkt
die Gäste, und erjagt sie Stück für Stück. 

Auch wenn wenige der in diesem Band enthaltenen Gedichte die Situation im Untergrund so poetisch auf den Punkt bringen wie Im Versteck, ist das Tagebuch für sich wenn auch nicht als Zeitdokument so doch als Künstler-Selbstverortung lesenswert. Editorisch hält die Ausgabe neben den Sonetten sowie einem Bildteil mit Fotografien von Dokumenten, Stadt- und Hausplänen von Delft und Porträtaufnahmen von Keilson, Gertrud, Hanna und anderen, vor allem ein konzises Nachwort Heinrich Deterings sowie eine Einführung und umfangreiche Endnoten von Marita Keilson-Lauritz bereit. Diese Endnoten kontextualisieren manche Reflexionen und Begegnungen, vor allem aber zeigen sie immer wieder die „Trivialität“ des Untertauchens, den Alltag im besetzten Delft.

Anmerkung:

[1] Der Übersetzer, Damion Searls, hat für die amerikanische Zeitschrift The Believer einen ebenso ausführlich wie unterhaltsamen Essay über seine Entdeckung der Komödie in Moll und die Arbeit an der Übersetzung geschrieben. Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags kann in dem von mir mitherausgegebenen Sammelband, „die vergangene Zeit bleibt die erlittene Zeit.“ Untersuchungen zum Werk von Hans Keilson (Königshausen & Neumann 2013, S. 257-260), nachgelesen werden.

Titelbild

Hans Keilson: Tagebuch 1944.
Herausgegeben von Marita Keilson-Lauritz. Mit einem Nachwort von Heinrich Detering.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014.
254 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783100022387

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