Alles geklärt

Denise Minas Roman „Das Vergessen“ ist ein fast schon klassischer britischer Polizistenkrimi

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im britischen Kriminalroman der letzten beiden Jahrzehnte hat sich ein Plot durchgesetzt, der – auf den zweiten Blick – einiges über die Wahrnehmung oder die Irritation wenigstens der Autoren aussagt, was ihr eigenes Land angeht. Die Spannung zwischen einer zivilen Rechtsgemeinschaft und einer von Kriminellen durchsetzten korrupten Gesellschaft schafft in diesen Texten jene eigentümliche Atmosphäre einer belagerten, untergehenden Gesellschaft.

Dabei sind kriminelle Kultur und Polizeiapparat nicht als Gegensätze gebaut, sondern eng miteinander verknüpft.  Korruption, Machtgier, Egoismus und Karrierebewusstsein lassen die Linie zwischen Recht und Unrecht verschwinden. Wenn die Repräsentanten des Rechtssystems selbst korrupt sind, dann steht es mit ihm nicht zum Besten. Und wenn das System die Korruption belohnt und nicht bekämpft und wo sie sie offenlegt auch nicht bestraft, kann es für sich keinen Respekt oder nur Achtung verlangen. Das hat weit reichende Konsequenzen, da damit das Gewaltmonopol des Staates aufgegeben wird, und damit am Ende die Zivilgesellschaft selbst.

Denise Mina entwickelt in „Das Vergessen“ eine Variante dieses Motivs. Ihre Protagonistin, Alex Morrow, wird mit einer unmöglichen Situation konfrontiert: Die Fingerabdrücke eines inhaftierten Kriminellen werden bei einem Mord entdeckt, der erst jüngst geschehen ist. Da der Mann in Haft ist, kann er nicht der Täter sein. Bleibt nur die Frage, wie seine Fingerabdrücke an den Tatort geraten sind.

Die Ermittlungen führen Morrow zu einem alten Fall, bei dem der Inhaftierte gleichfalls beteiligt war. Er soll vor Jahrzehnten seinen Bruder ermordet haben und ist dafür ins Gefängnis gegangen. Dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, führt Mina ihren Lesern bereits früh vor. Zugleich erweitert sie ihren Erzählrahmen um eine Skizze jener Vergangenheit, in der die Gegenwart – ganz konkret das Dilemma der Ermittlung, in der sich Morrow befindet – vorbereitet wird.

Damit wird dann aber zugleich das Problem erkennbar, das Minas Roman bestimmt: das der fehlenden Leerstellen. Dass sie eine standhafte, nicht korrupte, der Gerechtigkeit und dem Recht verpflichtete Ermittlerin konstruiert, mag man ja noch als erkenntnisleitendes Mittel nachvollziehen können. Die arme Alex Morrow ist denn nicht nur Mutter von Zwillingen und leidlich glücklich verheiratet (angedeutet die Doppelbelastung von Beruf und Kindern), sie verzichtet sehenden Auges auch auf eine Karriere im System, dem sie durch ihre Ermittlungen Kosten und einen mittelschweren Skandal verschafft. Denn es ist klar, dass in den alten Fall Polizisten verwickelt waren, die mittlerweile Karriere gemacht haben (oder ausgestiegen sind).

Als zusätzliche Auszeichnung kommt hinzu, dass Morrow – wie es sich fast schon gehört – einen Bruder hat, der selbst kriminell ist und im Milieu einen hohen Rang einnimmt. Auch das ist eine Ausstattung, die sich auffallend häufig in britischen Krimis findet: der Bruder, der Schwager oder sonstwer, der anzeigt, dass beide Welten einander sehr nahe sind. Aber es ist ein großer Fehler des Romans, dass er nun wirklich alles zuende erzählen muss, was denn am Ende nicht nur in den gegenseitigen Geständnisorgien mündet (Variante 1), sondern in diesem Fall in wüsten Beschuldigungen gegen den Hauptverdächtigen des alten Falls (Variante 2: Du warst es doch, gestehe).

Wenn man aber etwas aus Krimis und von Strafverteidigern lernen kann, dann das, dass ein Verdächtigter am besten einfach den Mund hält. Und was gerade in den letzten Jahren immer wieder hervorgehoben worden ist, dass das Vorgehen der Krimiermittler in vielen Fällen einer gerichtlichen Prüfung nicht standhalten würde. Es kommt mithin nicht auf Beschuldigungen an, sondern darauf, dass sie hinreichend bewiesen werden können. Und wenn es keine Beweise gibt, die zudem unkorrumpiert sind, dann nützt einem keine Gewissheit irgendetwas, es wird zu keiner Verurteilung kommen. Weswegen es Morrow nicht wundern darf, wenn ihre Karriere ein ganz schnelles Ende findet. Sie mag ihrem Verdächtigen zu Recht Amtsmissbrauch und Rechtsbeugung vorwerfen, sie selbst würde sich dessen jedoch gleichfalls schuldig gemacht haben, wenn sie die Verhaftung, die am Schluss des Krimis ansteht, tatsächlich durchführt.

Das mag man unsympathisch finden und ablehnen, aber es ist am Ende nichts anderes als korrekt. Denn neben korrupten Polizisten kann man unfähige ebensowenig brauchen. Dass Morrow eine alte Beweiskette zu knacken versteht, zeigt vielleicht ihre Kompetenz, dass sie die Beschuldigung aber nicht ihrerseits beweisen kann, verweist auf ihre Grenzen. Und damit die Grenzen des Erzählten.

Titelbild

Denise Mina: Das Vergessen. Kriminalroman.
Übersetzt aus dem Englischen von Heike Schlatterer.
Heyne Verlag, München 2014.
352 Seiten, 9,99 EUR.
ISBN-13: 9783453417878

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