Tief im Westen nichts Neues

Norbert Horsts Kriminalroman „Mädchenware“ führt ins Dortmunder Rotlichtmilieu

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als die Dortmunder Mordkommission um Kommissar Thomas Adam, genannt Steiger, und seine junge Kollegin Jana Goll am Tatort eintreffen, finden sie nur noch die Spuren einer wilden Schießerei vor. Eine junge Prostituierte ist tot, eine ältere liegt bereits schwerverletzt im Krankenhaus. Da mögliche Zeugen Reißaus genommen haben und es keine Tatverdächtigen gibt, suchen die Ermittler mangels verwertbarer Spuren nach der Nadel im Heuhaufen. Während die Identifikation der Toten unmöglich scheint, erlebt Steiger im Krankenhaus eine Überraschung: Die im Koma liegende 42-jährige Prostituierte ist seine Geliebte!

Steiger zieht alle Register seines mehr oder weniger legalen Netzwerkes, hört sich in der Nordstadt, dem sozialen Brennpunkt Dortmunds, in Etablissements und bei einer Hilfsorganisation für Prostituierte um. Er erfährt, dass die Villa Konrad, in der die Schießerei stattgefunden hatte, einer der zahlreichen „Wohnungspuffs“ gewesen sei, die wochenweise ihre Standorte wechseln und wo zumeist rumänische oder bulgarische Mädchen auf ihre Freier warten. Die Tote sei aber sicher russisch, was mittlerweile eine Seltenheit im Milieu darstelle.

Eine entscheidende Wende nimmt der Fall, als in Tirol in einem Wohnmobil mit rumänischem Kennzeichen eine männliche Leiche gefunden wird. Neben dem Erschossenen liegt eine Waffe, die dem Tatort in Dortmund zugeordnet werden kann, im Navi des Wagens war die Adresse der Villa Konrad angegeben und ein Bild des Hauses fand sich ebenfalls im Auto. Zudem verdichtet sich die Spur um einen angeschossenen BMW-X5-Fahrer, den ein Arzt – wegen eines Ärzte-ohne-Grenzen-Einsatzes bisher schwer erreichbar – gemeldet hatte. Da läuft Steiger und Jana eine junge russische Frau mit Rucksack über den Weg, die Mädchen auf dem Dortmunder Straßenstrich Fotos zeigt und Fragen stellt.

Horst baut seinen Kriminalroman ungewöhnlich auf. Er beginnt 2001, schildert wie Nadeschda in einem Dorf nahe Jekaterinburg in Russland aufwächst. Sie lernt von ihrer Großmutter Deutsch und wird, wie ihre Karl-May-Blutsschwestern Dajana und Anastasia, als erzieherische Maßnahme geschlagen, gedemütigt und schikaniert. 2013 wird dann in Tirol der tote Rumäne gefunden, während ein angeschossener Mann sich durch Dortmund zu seinem Auto schleppt. Die Zusammenhänge sind dem Leser ebenso unklar, wie Steiger und seine junge Kollegin Jana von alldem gar nichts ahnen, als Letztere bei einer Razzia durch eine Unachtsamkeit das Leben eines Polizeibeamten gefährdet.

Der eigentliche Fall, die Schießerei in der Villa Konrad, bildet nur die Kulisse für eine sehr menschliche Studie der Arbeit einer Mordkommission. Ständige Rückblenden nach Russland wechseln sich mit Episoden aus Steigers privatem und beruflichem Alltag ab. Er steht der von Schuldgefühlen geplagten Jana bei, sorgt sich um seine angeschossene Geliebte, soll für die 15-jährige Nachbarin Vaterfigur spielen, schlägt sich mit Führungspersönlichkeiten herum, die für ihn „semibegabte, denk-ökonomische Charakteramateure“ sind, und holt sich Rat bei seinem Freund Batto, der gerade eine Prostata-Operation überstanden hat. 

Es geht um ehrliche, etwas eigenwillige, aber erfolgreiche Polizeiarbeit, mitten in einer Welt der Klischees. Hier Dortmund, mit schwarz-gelber BVB- und Mettbrötchenromantik, dem bundesweit bekannten sozialen Brennpunkt Nordstadt und einer Prostitutionsszene, die fest in rumänisch-bulgarischer Hand ist. Dort die russische Provinz, in der alkoholisierte Männer zuschlagen und selbst die Schulen im Sommer Straflager für unerzogene Schülerinnen einrichten. Dazu der kleine Sohn, dem ein Finger fehlt, weshalb seine Mama in Dortmund anschaffen geht. Nostalgisch wird es, wenn Steiger, der zudem auch noch Schalke-Fan ist, seinen Polizeiausweis stets mit einer „Robert-Lemke-Geste“ zeigt oder Nadeschda ein Old-Shatterhand-Trick aus der Patsche hilft.

Nachdem Kriminalhauptkommissar Kirchenberg dem Autor in  „Leichensache“ 2004 und „Todesmuster“ 2006  den Friedrich-Glauser-Preis und den Deutschen Krimipreis einbrachte, ließ Norbert Horst seine Figur ruhen und schuf den Dortmunder Kommissar Steiger. „Mädchenware“ ist der zweite Fall in dem der eigenwillige 51-Jährige Spuren und sein Leben zu ordnen versucht. Glaubhaft realistisch schildert Horst, im Hauptberuf Kriminalhauptkommissar in Bielefeld, die Probleme, denen Steiger sich während – besonders aber auch neben –  seiner Ermittlungsarbeit stellen muss. Der Krimikommissar zieht als Persönlichkeit mehr Aufmerksamkeit auf sich als der Lösung des Falles oder dem Übeltäter beigemessen wird, die zu zahlreichen Handlungsstränge wirken hingegen konstruiert und überzogen. Ein Spannungsbogen wird kaum gespannt, die Lösungen liegen entweder auf der Hand oder zu weit weg, um den Leser zu fesseln. Was aus dem kleinen russischen Mädchen wird, lässt schon der Romantitel erahnen und warum Tirol und Zentralafrika in dem Fall eine Rolle spielen, weiß nur der Autor selbst. Für einen Regionalkrimi wiederum fehlt es an Lokalkolorit, das über die genannten Klischees hinausgeht. „Mädchenware“ ist als Unterhaltungslektüre geeignet, aber als Kriminalroman keineswegs preisverdächtig.

Titelbild

Norbert Horst: Mädchenware. Kriminalroman.
Goldmann Verlag, München 2015.
352 Seiten, 8,99 EUR.
ISBN-13: 9783442481668

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