Verständnisschwierigkeiten zwischen Großkritik und Hochliteratur

Über den Briefwechsel zwischen Marcel Reich-Ranicki und Peter Rühmkorf

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1. Das seltene Genre

Briefwechsel zwischen Autoren und Kritikern sind selten, seltener etwa als die zwischen Schriftstellern und ihren Verlegern. Meist ist der Kontakt zwischen Literaturkritikern und Literaten eher gelegentlicher Art und nicht frei von Reserven. So kommt es nicht oft zu Annäherungen, die von einer intensiven Korrespondenz begleitet werden. Zu diesen seltenen Fällen gehört der Briefwechsel zwischen Vladimir Nabokov und Edmund Wilson, der vielleicht berühmteste seiner Art, oder der zwischen Uwe Johnson und Fritz J. Raddatz, der mit einem Zerwürfnis endete. Das mag, von allen persönlichen Umständen abgesehen, kein Zufall gewesen sein. Das Verhältnis zwischen Autoren und Kritikern ist häufig so schwierig, dass die Nähe bereits den Grund für die Trennung in sich birgt. Bei Marcel Reich-Ranicki und Peter Rühmkorf war das nicht anders.

Mit der Einladung zur Mitarbeit an seinem Sammelband zum 50. Geburtstag Heinrich Bölls begann Reich-Ranicki am 9. Juni 1967 seine Korrespondenz mit diesem Autor, den er schon aus Tagungen der Gruppe 47 kannte, auch von gelegentlichen Begegnungen an ihrem gemeinsamen Wohnort Hamburg her. Rühmkorfs Antwort – wenn es sie gab – ist nicht erhalten; den angefragten Beitrag hat er nicht geschrieben. Gut sieben Jahre später lud Reich-Ranicki ihn abermals ein – dieses Mal zur Mitarbeit an der FAZ. Damit begann eine Korrespondenz, die mit Unterbrechungen 32 Jahre anhielt und erst zwei Jahre vor Rühmkorfs Tod endete, mit dem 287. Brief. Sie liegt jetzt, fast zwei Jahre nach Reich-Ranickis und fast sieben Jahre nach Rühmkorfs Tod, herausgegeben von Christoph Hilse und Stephan Opitz, gedruckt vor: eine ebenso sorgfältige wie materialreiche und kundig kommentierte Edition.

Allerdings ist es kein intellektuell bedeutender Briefwechsel, der hier präsentiert wird. Über weite Strecken ist er wenig anregend, ja geradezu enttäuschend, und doch ist er aufschlussreich, ja geradezu ein kleines Lehrstück. Er verrät einiges über die lange freundliche, aber nie ganz unproblematische Beziehung zwischen beiden, über die mit ihr verbundenen Spannungen, Zerwürfnisse und Versöhnungen, die allerdings am Ende nicht besonders versöhnlich stimmen. Das alles hat natürlich mit den höchst unterschiedlichen Charakteren zu tun, aber über sie hinaus auch mit dem schwierigen Verhältnis von Literatur und Kritik, für das es keine prästabilierte Harmonie gibt. Es lässt sich, in diesem Fall, als eine wechselhafte, mitunter dramatische Geschichte erzählen, die mehr als einmal in die Krise gerät und am Ende noch eine unerwartete Wendung nimmt.

2. „Warum sind Sie so faul?“

Als Reich-Ranicki 1974 den Briefwechsel erst eigentlich eröffnete, nach dem vermutlich antwortlos gebliebenen ersten Schreiben, hatte er gerade die alles in allem einflussreichste Position im deutschen Literaturbetrieb seiner Zeit erreicht: Er war 1973 Leiter des Literaturblatts der FAZ geworden. In kurzer Zeit verhalf er ihm mit viel Energie zu neuer Bedeutung, außer durch seine eigenen, oft genug spektakulären Kritiken vor allem mit der Anwerbung namhafter Mitarbeiter, die aus verschiedenen, nicht zuletzt politischen Gründen bislang nicht für die FAZ geschrieben hatten. Peter Rühmkorf war einer von ihnen. Der als Linker auftretende und als Linker wahrgenommene Dichter befand sich 1974 allerdings in einer schwierigen Phase. Das Gedichteschreiben, sein ureigenstes Metier, hatte er vor Jahren aufgegeben und sich auf antikapitalistische Theaterstücke verlegt, die mühsam und immer nur kurz den Weg auf die Bühne fanden. Aufsehen erregt hatten zuletzt 1972 seine unorthodoxen, für manche überraschend früh erschienenen Erinnerungen unter dem Titel „Die Jahre die Ihr kennt“.

Mit seinem Werbebrief gewann Reich-Ranicki für das Feuilleton der FAZ einen weiteren renommierten Autor, dessen Bekanntheit und dessen Marktwert, nicht zuletzt durch seine Unterstützung, noch steigen sollten. Rühmkorf trug die Zusammenarbeit eine Verbesserung nicht nur seines Einkommens, sondern auch seiner Preisbilanz ein. Schon zwei Jahre später erhielt er, wohl auch durch Reich-Ranickis Fürsprache, den Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Es war nicht das letzte Mal, dass sich Reich-Ranicki „im stillen“, wie er 1985 schreibt (11.10.85), für Rühmkorf verwendete. Reich-Ranicki wurde sein prominentester Laudator – wie auch Rühmkorf sich bei verschiedenen Gelegenheiten, Geburtstage inbegriffen, öffentlich zu Reich-Ranicki äußerte.

Gleichwohl ist ihr Briefwechsel zu einem nicht unerheblichen Teil Geschäftspost. Nur gelegentlich geht er darüber hinaus. Fast immer setzt Rühmkorf dann andere Akzente. So erklärt er etwa aus Anlass der Laudatio, die Reich-Ranicki über ihn bei der Verleihung des Erich-Kästner-Preises gehalten hat, kurz sein Selbstverständnis als Dichter in der Tradition der Romantik:

Weiß nicht mehr, ob ich ihnen schon mal sagte, schon mal schrieb (aber ich glaube, nicht), daß Sie bei mir das gesamte romantische Syndrom in nuce haben: Poesie plus Kritik, Ironie plus Parodie, Volks- und Kinderverse, dann noch das Mittelalter – und erst neulich, wo ich mich an Kunstmärchen heranexperimentierte, geht mir selbst erst das volle Spektrum richtig auf. Keinerlei Kontinuum scheinbar viele Jahre lang, und am Ende runden sich die Tortenstücke ganz plausibel zur Rosette. (8.3.79)

Reich-Ranicki erwidert auf solche ins Grundsätzliche gehenden poetologischen Äußerungen kaum einmal, auch nicht bei anderen Themen. 1979 kommt Rühmkorf auf die vieldiskutierte, gerade im Deutschen Fernsehen gesendete amerikanische Serie „Holocaust“ zu sprechen. Er gratuliert Reich-Ranicki dazu, in einer Fernsehrunde zur Serie „so eisern und klar“ sich geäußert zu haben – und nennt die Serie „in ästhetischem Sinn sittenwidrig“ (2.2.1979). Reich-Ranicki geht darauf mit keinem Wort ein.

Auch über den Literaturbetrieb lassen sich beide kaum aus. Selten nur gibt einer von ihnen eine Bosheit über einen Kollegen zum Besten. Rühmkorf etwa nennt 1984 Harald Hartung, der ihn rezensiert hatte, „son Armen Ritter“: „trockenes Brötchen, das sich im Wasser wälzen muß, um Eindruck von Taufrische zu erzeugen“ (30.10.84). Reich-Ranicki wiederum quittiert Rühmkorfs Angebot, über ein Gedicht von Michael Krüger für die Frankfurter Anthologie zu schreiben, mit der Bemerkung, er habe in seinem Leben „noch keinen einzigen Vers von diesem netten Autor gelesen, der mich davon überzeugt hätte, daß er zur Zunft der Lyriker gehört“ (28.7.83).

Ansonsten ist der Briefwechsel frei von literarischem Klatsch und von Vertraulichkeiten aller Art. „Freunde“, schreibt Stephan Opitz treffend im Nachwort, „waren sie nicht.“ Tatsächlich sind die Briefe, die gewechselt wurden, eher freundlich als freundschaftlich. Die Rollen sind dabei klar verteilt: Reich-Ranicki wirbt um seinen Mitarbeiter, unterbreitet ihm Vorschläge, geht auf dessen eigene bereitwillig ein, in der Hoffnung, Texte von ihm zu erhalten. Die jedoch kommen nicht so schnell, wie er sie sich wünscht, und manche verabredeten kommen gar nicht. Die erste Erfahrung, die Reich-Ranicki mit Rühmkorf als möglichem Beiträger gemacht hat, wiederholt sich. Sie wird zu einem Leitmotiv der Korrespondenz.

Das Katz- und Maus-Spiel von Redakteur und Autor entfaltet mit der Zeit seine eigene Dramaturgie. Reich-Ranicki fragt nach, mahnt und drängt. Rühmkorf gibt sich willig, entzieht sich aber Mal um Mal, schützt andere Terminarbeiten vor, auch allerlei Schwierigkeiten in der Sache oder andere Widrigkeiten wie Reisen und Krankheiten. Reich-Ranicki gibt sich abwechselnd geduldig und ungeduldig, lässt mitunter Monate verstreichen, bevor er mahnt, anfangs eher theatralisch, dann zunehmend verstimmt. Das ändert nicht viel, und so wächst langsam seine Ratlosigkeit, bis hin zur Verzweiflung.

Schließlich wird es Reich-Ranicki zu bunt. „Was soll das ganze Angebot?“, fragt er schon am 7.7.1975, als Rühmkorf ihm gerade neue Vorschläge unterbreitet hat. „Ich brauche nicht Ihre Ausführungen, sondern Ihre Manuskripte“ (7.7.95). Ein knappes halbes Jahr später behilft er sich mit Ironie: „Gott hat für die Erschaffung der Welt sechs Tage gebraucht, und wie viel brauchen Sie für eine Kritik? Doch diese wird gewiß vollkommener sein als jene“ (7.1. 76,). Doch der Autor lässt sich weiter bitten und greift zu guter Letzt auch zu Wortspielen, wenn er immer noch nichts zu bieten hat. Als Reich-Ranicki etwa drei Monate auf eine Besprechung von „Die Lyrik des Expressionismus“ wartet, schreibt Rühmkorf ihm: „Der Expressionismus liegt vor mir wie ein aufgeschlagenes Buch – a l s  e i n –.“ (29.10.76)

Irgendwann, als auch sein grimmiger Humor nichts mehr bewirkt, platzt Reich-Ranicki der Kragen:

So geht das nicht weiter. Sie liefern nichts, kommen mit immer neuen Vorschlägen, denen wiederum immer neue Ausreden folgen. Unsere Gespräche sind überaus angenehm, aber die Leser der F.A.Z. haben davon gar nichts. Seit einem Jahr ist bei Ihnen der Ehrenstein-Band. Wie lange noch sollen wir warten? Warum sind Sie so faul?“ (28.10.78)

Reich-Ranicki fordert Rühmkorf auf, ihm eines seiner „mittlerweile traditionellen Klagelieder zu ersparen“ (1.6.81) – und beklagt sich selbst immer wieder: über ihn. „Wenn ich noch einige so schwierige Mitarbeiter hätte, würde ich zusammenbrechen“, stöhnt er 1979 (25.4.79). Im folgenden Jahr schimpft er: „Die Zusammenarbeit mit Ihnen wird allmählich qualvoll“ (27.10.80). Wieder ein Jahr später schreibt er knapp: „Sie mißfallen mir immer mehr“ (10.2.81). Noch zwei Jahre später stellt er ärgerlich und zugleich resigniert fest: „mit Ihnen hat man doch immer Kummer“ (25.5.83).

Rühmkorf reagiert nicht gerade reuig. Wenn er keine Ausreden vorbringt, hebt er den Wert seiner meist noch nicht fertigen Arbeiten hervor. Eine nennt er „ein Stück Grundlagenforschung, von dem auch die Unis und die Schulen und die ihrer eigenen Massenhaftigkeit nie ganz bewußten Kollegen was haben sollen“ (5.8.77). Ein andermal versichert er Reich-Ranicki, er betreibe gerade „literarische Kern-Fusion“ (17.10.79). Eine seiner Interpretationen annonciert er ungeniert als „Kostbarkeit“ (2.9.83). Gern entschuldigt er sich damit, „daß solches intensive Eindringen in die Materie natürlich seine Zeit fordert“ (13.1. 85).

Nach und nach wird der Ton jedoch gereizter. Rühmkorf wird nun selbst ungehalten: „auch Sie sind ein Quälgeist“ (30.10.80), lässt er Reich-Ranicki 1980 wissen. Im nächsten Jahr bescheidet er ihm: „diese Hetze geht so nicht weiter, es ist wie Schule alles, und zu Schule habe ich kein Verhältnis, alles sperrt sich“ (22.2.81). Schließlich wird auch er böse: „Sie mahnen wieder mal mitten in die Arbeit hinein; was glauben Sie denn, das ich hier seit Wochen hin und herwälze?!“ (14.11.85)

3. „Meinungsverschiedenheiten“

Das geht Jahre so, bis es zum offenen Konflikt kommt, dreimal im Ganzen. Bei ersten Mal handelt es um eine Arbeit, die Rühmkorf sich selbst auferlegt. Zu Reich-Ranickis 60. Geburtstag plant er, von Walter Jens zur Mitarbeit an der Festschrift eingeladen, als „,Rehabilitation’“ des oft geschmähten Kritikers „eine subjektive Neigungsbekundung“ (23.12.79), die er sich von einer „dramaturgisch geschickte(n) Anordnung meiner Geschäftsbriefe an Sie“ erhofft. Reich-Ranicki zeigt sich von der Idee nicht sonderlich begeistert und wehrt alle Beratung mit dem Hinweis ab, dass er „auf Art und Thema der einzelnen Beiträge“ zu seiner Festschrift „keinen Einfluß habe und auf keinen Fall haben möchte“ (27.12.79). Rühmkorf fühlt sich daraufhin missverstanden, bittet noch einmal um das, „was Sie an gedruckten Bösartigkeiten (über Sie – sich – gegen Sie – wie sagt man?) gesammelt haben“, und gibt schon einmal, etwas trotzig, seine Enttäuschung zu Protokoll: „Sie kriegen von mir, was Sie wollen – aber der Spaß ist jetzt raus, leiderleider“ (23.12.79). Für die Festschrift trägt er dann zwei seiner Briefe an Reich-Ranicki und ein Gedicht bei.

Zum nächsten großen Konflikt kommt es sechs Jahre später – nachdem es schon vorher eine von beiden Seiten mühsam beigelegte Verstimmung gab: Reich-Ranicki hatte Rühmkorfs Vorschlag abgelehnt, für die Frankfurter Anthologie über ein Gedicht Arno Schmidts aus „Das steinerne Herz“ zu schreiben. Doch dieses Mal geht es um Verse von Peter Rühmkorf. Anfang Mai 1986 schickt er Reich-Ranicki sein Gedicht „So müde, matt, kapude“, in dem er, zugleich anspielungsreich und deutlich, vom Verhältnis der Deutschen zu den Juden spricht. Kaum zwei Wochen später sendet Reich-Ranicki das Gedicht zurück, mit einem ironischen und in seiner Ironie fast schnöden Kommentar:

Das Gedicht ist charmant, aber leider nicht ganz überzeugend, vor allem nicht ganz verständlich, was natürlich an den vier immerhin professionellen Literaturredakteuren liegen mag, die Ihre Verse so aufmerksam wie andächtig gelesen haben. Da, wie ich höre, auch andere danach gieren, Ihre Texte zu drucken, werden Sie die Rücksendung mit gnädigem Lächeln quittieren. (21.5.1986)

Rühmkorf schweigt zunächst, offenbar getroffen, vielleicht konsterniert über die Weigerung Reich-Ranickis, sich auf das Gedicht einzulassen. Erst sieben Monate später, am 18.12., reagiert er. In einem langem „p.s.“ schildert er Reich-Ranicki die Entstehung des Gedichts, weil es ihm, wie er betont, „so herzlich-heftig um das Verstehen und Verstandenwerdenwollen geht“ (18.12.86). Das darf man auch so verstehen, dass es ihm bei dem Thema des Judenhasses besonders darum zu tun ist, von Reich-Ranicki verstanden zu werden. So wird er dann deutlich – deutlicher wohl, als es dem Adressaten lieb ist. Rühmkorf erzählt davon, wie er im Fernsehen Claude Lanzmanns Dokumentarfilm „Shoah“ gesehen habe – und danach die Tagesschau:

Da tauchen sie nämlich zufällig alle auf, unsere Herren Geschichtsphilosophen aus Oggersheim und Gnadenwinkel, also die Herren Kohl und Wörner und Geisler und Strauß, und – was soll ich Ihnen sagen – es war genau das nämliche gnadenlose Geschwätz wie ich es eben von den KZ-Kommandanten und Kapos und Sonderzugführern und Begleitpersonen gehört hatte, schmierig, wendig, populistisch-positiv (Ein Optimismus, der im Zweifelsfall über Leichen geht), und in diesem aussichtslosen Augenblick sah ich plötzlich auch IHN, den immer mitanwesenden Ahasver und Schmerzensmann, riesig den Himmel füllend, eigentlich nur einen weit ausgespannten Kaftan mit einem goldenen Stern drauf, und das Bild wollte mir dann nicht mehr aus dem Auge. (18.12. 86)

Reich-Ranicki hat auf diese auch für Rühmkorf freimütige Selbstinterpretation nicht reagiert. Mehr als ein Jahr später, im Februar 1988, kommt er noch einmal beiläufig und lakonisch kurz auf die Sache zu sprechen – allerdings nur auf die Ablehnung des Gedichts, „das uns nicht ganz überzeugt hat. Das ist nun einmal so, daß ein Autor, der ein Manuskript einer Zeitung zuschickt, damit rechnen muß, daß es aus diesem oder jenen Gründen nicht akzeptiert wird“ (2.2.88). Rühmkorf antwortet dieses Mal umgehend und verweist, geradezu abgeklärt, auf „immerhin mögliche Verständnisschwierigkeiten zwischen Hochliteratur und Großkritik“: „hier kommen ja gelegentlich zwei Schwingungskreise nicht zur Deckung“ (2.2.88). Bei diesen „kulturhistorisch überhaupt nicht neuen Reibereien zwischen Kunst und Kritik“ finde er „beunruhigend“ nur „diese äußerste Mimosenhaftigkeit aufseiten des Machtmonopols“ (2.2.88). Reich-Ranicki lässt sich nun mit der Antwort zwei Wochen Zeit und geht wieder nicht auf die Sache ein. Der Brief, schreibt er, habe ihm „eine große Freude bereitet“. „Das muß man schon sagen: Sie schreiben ein ungewöhnlich originelles und schönes Deutsch.“ (18.2.88) Dieses Kompliment war tatsächlich eine überraschende Pointe – aber war es listig oder nur hilflos?

Reich-Ranickis Schweigen über Rühmkorfs Gedicht ist schwer zu ergründen. Hat er den Versen wirklich nichts abgewinnen, sie tatsächlich nicht verstehen können? Fürchtete er, einen geschätzten, aber ohnehin schon schwierigen Mitarbeiter mit entschiedenem Widerspruch endgültig zu verlieren? Wollte er sich einfach nicht politisch von dem ‚roten Rühmkorf’ vereinnahmen lassen? Oder war das Thema für ihn zu schmerzlich? Wünschte er vielleicht einfach nicht, dass ein anderer in dieser Sache auch für ihn sprechen wollte? Auffällig bleibt in jedem Fall, dass der meinungsfreudige und streitbare Kritiker die „Meinungsverschiedenheiten“ (3.10.99) mit seinem Mitarbeiter nicht ausgetragen hat. Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss Rühmkorf klar gewesen sein, dass er in Reich-Ranicki weder ästhetisch noch politisch einen Verbündeten hatte. Schon 1979 hatte er ihr Verhältnis „kommerziell-kameradschaftlich“ (23.12.79) genannt. Es „kameradschaftlich“ zu halten, wurde nun schwieriger.

Das Schweigen Reich-Ranickis, so hartnäckig es war, bedeutete jedoch nicht das Ende der Beziehung. Noch einmal läuft der Geschäftsbetrieb vielmehr wieder an, fast als wäre nichts gewesen, bis dann 1995 plötzlich der endgültige Bruch einzutreten scheint. Zum 75. Geburtstag Reich-Ranickis hatte Rühmkorf noch eine Rede gehalten, für Ende September war im Gegenzug die Buchpremiere von „Tabu I“ mit Reich-Ranicki als Moderator geplant. Doch dann, am 27.8., drei Tage nach dem Verriss von Grass’ Roman „Ein weites Feld“ im Literarischen Quartett, schreibt Rühmkorf Reich-Ranicki einen scharfen Brief, in dem er mit ihm abrechnet und bricht: „Mit Ihrem Auftritt im letzten ‚Quartett’ haben Sie einen Graben zwischen der Schönen Literatur und ihrer zur ideologischen Lehrmeisterin verklärten Kritik aufgerissen“ (27.8.95). Reich-Ranickis skandalträchtiges Verhalten sei nichts als „das autoritäre Niederschreien eines schwierigen Buches und der in ihm vertretenen Meinungen“ gewesen. Die gemeinsame Veranstaltung sagt Rühmkorf ab: ein Scheidebrief.

Abermals schweigt Reich-Ranicki. Der Brief, von Rühmkorf an Reich-Ranickis Privatanschrift gesendet, ist für Jahre das letzte Wort zwischen ihnen. Mit diesem Knalleffekt als Bekenntnis hätte das Beziehungs-Drama zwischen Autor und Kritiker zu Ende sein können. Aber Rühmkorf lenkt ein, nicht sofort, erst nach gut vier Jahren. Er entwirft Anfang Oktober 1999 ein Versöhnungsschreiben an Reich-Ranicki – und schickt ihm dann zum 80. Geburtstag auf einer handbemalten Postkarte ein versöhnliches und versöhnlich stimmen sollendes Gedicht:

Gestatten einen Lungenzug
Aus langer Friedenspfeife.
Fünf Jahre Fehde sind genug,
wie ich die Welt begreife.
Zum Frieden ist es nie zu spät,
na wollen wir’s mal hoffen,
daß diese Prise Calumet
nicht einfach so vorüberweht,
und wenn die neue Zehn angeht,
noch alte Wunden offen.
(30.5.2000)

Doch Reich-Ranicki, der gut drei Wochen später antwortet, ist nicht bereit, einfach zu vergessen, was vorgefallen war – und damit nimmt die Geschichte der beiden eine letzte Wende. Reich-Ranicki nennt Rühmkorf nämlich den Preis für ihre Versöhnung, indem er aufrechnet, was sie für einander getan und bedeutet haben:

Als ich 1973 zur FAZ kam, habe ich Sie (man kann sagen: kontinuierlich und intensiv) beschäftigt, unterstützt, gelobt, gefördert und so weiter. Sie haben gut gearbeitet und wurden gut entlohnt, besser als andere. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte haben Sie viele Preise erhalten, die ihnen alle gebührten – nur wissen Sie nicht, daß ich da in einigen Fällen zu Ihren Gunsten mitgewirkt habe und manches in Wege geleitet und auch erreicht habe. Ich bedauere es nicht – und ich habe nie mit Dankbarkeit gerechnet.

Aber vor fünf Jahren haben Sie mich verletzt und beleidigt – mit unschönen, boshaften und mit einigen ziemlich üblen Bemerkungen, auch Unterstellungen: in Ihrem Tagebuch und in Ihrer Rede aus Anlass meines Geburtstags und, wenn ich mich recht entsinne, noch anderswo. Ich erwarte nicht, daß Sie zurücknehmen, was Sie damals verzapft haben. Nur sollten Sie jetzt etwas über meine Arbeit schreiben – nicht unbedingt liebevoll, doch freundlich und respektvoll. An passenden Anlässen fehlt es ja nicht (24.6.2000).

Zum ersten Mal stellt Reich-Ranicki, durch den Erfolg seiner Autobiografie auf dem Gipfel des Ruhms, Bedingungen. Er wirbt nicht mehr, er fordert, verletzt und der Verletzungen müde.

Knapp ein halbes Jahr später war die Bedingung erfüllt: Zu dem von Hubert Spiegel herausgegebenen Band „Welch ein Leben. Marcel Reich-Ranickis Erinnerungen. Stimmen, Kritiken, Dokumente“ trug auch Rühmkorf einen offenbar bestellten Text bei, der am 21.10.2000 in der FAZ erschienen war – unter dem Titel „Zwanglose Postalie in Sachen M.R.-R“. Ob der Titel ironisch gemeint war – so wie der an Spiegel adressierte Brief auch nicht frei von starken Urteilsworten ist –: Rühmkorf hat dieses Mal ‚geliefert’, was Reich-Ranicki wollte. Da spielte es keine Rolle mehr, dass der ihn früher bei Gelegenheit in die hehren Grundsätze der Literaturkritik eingeweiht und ihm „Gefälligkeitsrezensionen, die wir nicht haben wollen“ (25.4.79), strikt untersagt hatte. So finden Rühmkorf und Reich-Ranicki ein letztes Mal zusammen.

4. „Verständnisschwierigkeiten“

„Verständnisschwierigkeiten“ mag das Schlüsselwort für diesen Briefwechsel sein, der erstaunlicherweise nie zu einem Dialog über Literatur geworden ist. Der Redakteur verstand seinen Mitarbeiter nicht, der Kritiker verstand den Autor nicht, und der Autor verstand nicht, dass der Redakteur und Kritiker ihn nicht verstand oder nicht verstehen wollte, was ihn aber nicht daran hinderte, ihn immer wieder zu drucken. Die Verständnisschwierigkeiten kristallisieren sich um das Leitmotiv des Briefwechsels: die Unzuverlässigkeit des Mitarbeiters Rühmkorf. Reich-Ranicki blieb sie offenbar ein Rätsel, zumal er den freien Schriftsteller gut bezahlte. Seine Erklärungen dafür waren einfach: Er warf, wohl nur anfänglich ironisch, Rühmkorf Faulheit und „Weltfremdheit“ (27.10.80) vor. Den Vorwurf der „Faulheit“ wies der jedoch weit von sich: „Daß ich so gar nicht rezensorisch tätig werden kann, hat alles andere als Untätigkeitsgründe, Sie wissen es doch und dürfen nicht einmal zum Spaß das Wort ‚Faulheit’ nennen“ (17.10.79). Tatsächlich war Rühmkorf all die Jahre ein fleißiger Schreiber, von dem zwischen 1975 und 2000 allein ungefähr 20 Bücher erschienen sind, zahllose Rundfunkarbeiten nicht mitgerechnet, und der in dieser Zeit ungefähr 100 Artikel für die FAZ schrieb.

Rühmkorfs Säumigkeit dürfte eher ein Zaudern aus Ambivalenz gewesen sein. Ihm war offenbar von Anfang an nicht ganz wohl bei dem Gedanken, für die FAZ zu schreiben. Schon sein Wort von der „FAZ-Fron“ (23.5.79), erst recht das von der „erstmalige[n] Kollaboration mit einem konservativen Meinungsträger“ (13.7.76) deuten darauf hin. Beide Bemerkungen dürften Reich-Ranicki nicht gefallen haben. Seine politischen Vorbehalte legte Rühmkorf schließlich offen, als Reich-Ranicki 1983 eine Interpretation eines Gedichts von Arno Schmidts für die Frankfurter Anthologie ablehnte, ausdrücklich seiner Länge wegen. Rühmkorf wollte das nicht glauben. „Machen wir uns nichts vor und fassen  I h r e Schwierigkeiten ins Auge“, versucht er selbstbewusst den Spieß herumzudrehen. „Der Wind, wir wissen es, hat sich gedreht […]. Da kommt es bei offensichtlichen Geringfügigkeiten plötzlich zum Spruch. Und wie sollte es nicht, liegen doch die alten Blöker und Blockierer immer noch auf der Lauer“ (26.5.83). Die „alten Blöker“ war ein Wortspiel – mit dem Namen des früheren FAZ-Redakteurs Günther Blöcker. Auf diesen Vorwurf hat Reich-Ranicki schnell und entschieden reagiert: „Das ist alles ist barer Unsinn“, schreibt er am 2. Juni. „Im Rahmen zumindest jenes Teils dieser Zeitung, den ich verwalte, also der Literatur, hat sich absolut nichts geändert. Sie können offenbar nicht begreifen, was Freiheit und Toleranz bedeuten.“ (3.6.83)

Rühmkorfs Ambivalenz scheint aber nicht allein politisch motiviert gewesen zu sein. Zweifellos hat er Reich-Ranicki gequält mit seinen ewigen Versprechungen, denen keine Texte folgten, seiner Unpünktlichkeit und der „Längenüberschreitung“ (21.8.77) seiner Artikel. Das kann ihm nicht entgangen sein, wenn er es nicht sogar beabsichtigt hat. Alle diese auffälligen Verhaltensweisen scheinen jedoch Teile einer Strategie der Widerborstigkeit zu sein, die es nicht zu Verweigerung und Widerstand gebracht hat. Rühmkorf bedeutete mit den Schwierigkeiten, die er machte, Reich-Ranicki, dass er nicht einfach ein weiterer seiner Mitarbeiter sei, über dessen Zeit der Redakteur und Großkritiker einfach verfügen könne. Geradezu stereotyp gibt Rühmkorf ihm zu verstehen, dass er fast immer etwas Wichtigeres zu tun habe, als für das Literaturblatt der FAZ zu schreiben – und dass es in jedem Fall ein bedeutender Gewinn für die Zeitung sei, wenn er sich doch dazu durchringe. Das war nicht nur Werbung in eigener Sache, die Rühmkorf im Übrigen wortreich auf hohem rhetorischen Niveau beherrschte. Rühmkorf wollte offenbar von Reich-Ranicki zunächst und vor allem als Dichter wahrgenommen werden – und keineswegs als ein Kritiker oder gar als ein Rezensent unter vielen. Was Reich-Ranicki für ein Problem der Arbeitsmoral hielt, war für Rühmkorf eines seines Ethos, seines literarischen wie seines politischen. Wenigstens etwas davon scheint Reich-Ranicki zu verstehen, wenn er Rühmkorf wissen lässt, dass er ein so schönes Deutsch schreibe oder dass er „der letzte Epistolograph“ sei, der „wunderbare Briefe“ (19.11.82) schicke.

Offenbar wollte Rühmkorf, auch in seiner Person, die Grenze zwischen dem Autor und dem Kritiker nicht aufheben. In jedem Konfliktfall nahm er Partei für den Autor – für den Autor Rühmkorf, aber auch für den Autor Schmidt und den Autor Grass. Wieder und wieder scheint er zu argwöhnen, dass der Kritiker Reich-Ranicki dem Autor nicht – genügend – Gerechtigkeit widerfahren lasse – sei es, indem er ihn zum ständigen Rezensieren dränge; sei es, dass er politischem Druck nachgebe (oder ihn vorwegnehme); sei es, dass er eine „Wahrheit“ (18.12.86) nicht verstehen wolle, die auch für ihn schmerzhaft sein musste; sei es schließlich, dass er, ideologisch befangen, ein Buch autoritär ‚niederschreie’. Wenn Reich-Ranicki gelegentlich betont, was er tue, sei doch „für die deutsche Literatur nützlich“ (3.6.83), dann setzt Rühmkorf, in der Auseinandersetzung um den Roman von Grass, gegen diese Selbst-Überzeugung den Vorwurf, dass Reich-Ranicki einen „Graben“ zwischen Literatur und Kritik aufreiße, weil er die Kritik zur Lehrmeisterin – oder zur Herrin – der Literatur machen wolle. Doch indem Rühmkorf so den Kritiker Reich-Ranicki in Frage stellt, zweifelt er zugleich an der Kritik – im Namen der Literatur, die er gegen sie schützen will. Das war nicht nur verständlich, sondern auch lobenswert – und hätte geradezu bewundernswürdig sein können, wäre der Dichter standhaft geblieben.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Marcel Reich-Ranicki / Peter Rühmkorf: Der Briefwechsel.
Herausgegeben von Christoph Hilse und Stephan Opitz. Eine Edition der Arno-Schmidt-Stiftung in Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
336 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783835316201

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