Aspekte der Fontane-Rezeption bei Günter Grass

Ein Vortrag vom Februar 1996 über den Roman „Ein weites Feld“

Von Jutta OsinskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jutta Osinski

Gewiß haben sich einige von Ihnen über mein Thema gewundert. Aber Grass‘ neuer Roman „Ein weites Feld“, dem ich meine Ausführungen widme, hat mir so gut gefallen, daß ich das zum Ausdruck bringen und begründen möchte. Wir sollten die Literaturkritik nicht den Feuilletons überlassen. Dort ist der Roman so oft verrissen worden, daß die Rezensionen wohl viele potentielle Leser, wenigstens in den alten Bundesländern, von der Lektüre abgehalten haben. Deshalb will ich ihn zunächst vorstellen, um dann über eine Kritik der Kritik zu den Aspekten der Fontane-Rezeption zu kommen, welche mir die ästhetische Qualität des Romans auszumachen scheinen.

Die Handlung, sofern man von einer solchen sprechen kann, erstreckt sich über knapp zwei Jahre, von Dezember 1989 bis Oktober 1991. Entfaltet werden Bilderbögen, in denen die Geschichte der deutschen Vereinigung zur Wendezeit als Ausverkauf der DDR dargestellt ist. Der Zusammenhang ergibt sich aus den Perspektiven der Romanfiguren, die miteinander reden, einander schreiben  oder einem Erzählerkollektiv – „Wir vom Archiv“ – berichten. So entsteht ein mosaikartiges Gesamtbild, das die deutsche Einheit als nicht geglückt vorführt. Zentral sind die Perspektiven Theo Wuttkes, Hoftallers und des Erzählerkollektivs, aus dem zuweilen ein weiblicher Ich-Erzähler hervortritt. Theo Wuttke, erst Lehrer, dann Kulturbundredner der DDR, ist Aktenbote im Berliner „Haus der Ministerien“, wo schließlich die Treuhand untergebracht wird. Sein Spitzname ist Fonty, denn er hat, wie Herbert Glossner bemerkt, jedes geschriebene Fontane-Wort allzeit zitierbereit und imitiert den Unsterblichen, wie er Fontane nennt, von der Kleidung über das Äußere bis zur Handschrift und zum berühmten „Bummelton“. Fonty ist als Wiedergänger Fontanes gestaltet, wie zahlreiche biographische und familiäre Details beweisen: Er ist genau 100 Jahre später als sein Idol, am 30. Dezember 1919, ebenfalls in Neuruppin geboren; seine Frau Emmi Wuttke und seine Tochter Martha sind Emilie und Mete Fontane nachgebildet; sein Vater ähnelt Fontanes Vater, und vieles mehr. Hoftaller, bekanntlich übernommen aus Hans-Joachim Schädlichs Roman „Tallhover“, ist Fontys sogenannter „Tagundnachtschatten“, ein Spitzel, der jedoch, anders als bei Schädlich, nicht unsympathisch wirkt. Das Erzählerkollektiv – „Wir vom Archiv nannten ihn Fonty“, beginnt der Roman – entspricht einer literarischen Verschlüsselung des Fontane-Archivs in Potsdam.

Das Leben Fontanes, das Material des Archivs und Fontanes Werke und Briefe werden über die Fonty-Fontane-Konstellation so in den Erzählzusammenhang integriert, daß die Vermittlung von Geschichte und Zeitgeschichte als ein Hauptthema des Romans erscheint. Hans Kügler hat es in „Diskussion Deutsch“ 144 (1995) ausgeführt: Was für uns Geschichte ist – z.B. Fontanes Erleben und Beschreiben der Reichsgründung 1870/71 zuerst als nationalen Aufbruchs, dann als sozialer und ideologischer Erstarrung, begleitet vom Hervortreten einer neuen Bourgeoisie –, wird im Nacherleben Fontys zum zeitgeschichtlichen Muster; was für uns Zeitgeschichte ist – in diesem Fall die Herbstereignisse 1989 zunächst als hoffnungsvoller Aufbruch, dann die allmähliche Desillusionierung –, erhält in der Wahrnehmung Fontys eine historische Tiefendimension. Das Prinzip des Romans, Geschichte und Zeitgeschichte ineinander zu spiegeln, ist in Grass‘ Werk nichts Neues: Erinnert sei an den „Butt“ von 1977, in dem der Ich-Erzähler treppab in die Geschichte und stets wieder treppauf in die Zeitgeschichte läuft, oder an das „Treffen in Telgte“ von 1979, in dem eine Zusammenkunft von Barockdichtern auf der Folie von Treffen der „Gruppe 47“ dargestellt wird. Wie in diesen Werken, so gelingt es Grass auch im „Weiten Feld“, durch das Spiegelungsverfahren Geschichte und Zeitgeschichte zu relativieren; hochtönendes Gerede von heute wird als mutierte Phrase von gestern durchschaut. Das betrifft für die Wendezeit vor allem die nationalistische Einfärbung des Einheitsgedankens und den allgemeinen Glauben an den Segen der D-Mark. Inhaltliche Schwerpunkte des Romans lassen sich demgemäß leicht finden. Der Massenjubel in der Sylvesternacht 1989/90 um das neu geöffnete Brandenburger Tor z.B. wird auf Fontanes Darstellungen des siegreichen Durchmarsches des preußischen Heeres bezogen und so als falsches Pathos mit nationalistischen Untertönen entlarvt; oder Birgit Breuel, die nach der Ermordung Rohwedders neue Chefin der Treuhand, erscheint als Wiedergängerin Frau Jenny Treibels, die Sentimentalität und Kommerz geschickt miteinander verbindet. Daß allerdings weder die historischen Erfahrungen noch die Perspektive Fontanes als eines Beobachters seiner eigenen Zeit bruchlos von Fonty wiederholt werden können, versteht sich auch für Kügler von selbst; dafür ist die dargestellte zeitgenössische Situation viel zu komplex.

So hat Grass einen zeitkritischen, politischen deutsch-deutschen Roman geschrieben – und als politischer ist der Roman auch allgemein rezipiert worden. In den neuen Bundesländern wird er begeistert gelesen und sein Autor gefeiert, im Westen hat man das Buch niedergemacht. Es bietet also offensichtlich kontroverse Lektüremöglichkeiten, und die scheinen abzuhängen vom jeweiligen politischen und moralischen Standort, den man selbst hat. Christoph Dieckmann nannte seinen Artikel in der „Zeit“ vom 1. Dezember 1995 „Das letzte Westpaket“ und begründete im selben Wochenblatt, in dem Iris Radisch zuvor den Roman als „unlesbar“ getadelt hatte, warum „Ein weites Feld“ im Osten geliebt werde: als Verteidigung des Lebens in der DDR. Und wie die Ost-Leser inhaltlich-politische Momente herausgreifen und gutheißen, so greifen auch West-Leser inhaltliche Momente heraus – um sie zu kritisieren. Ich erwähne nur den Streit um Fontys Diktum von der „kommoden Diktatur“ oder Reich-Ranickis Empörung über die „Raffkes und Schofelinkis“, die bei jeder deutschen Einheit hervorträten. Man hat den Roman also weitgehend auf seine politisch-moralischen Inhalte reduziert. Und dabei passierte nicht selten das, was wir Studierenden der Literaturwissenschaft schon im 1. Semester auszutreiben versuchen: die Verwechslung von Autor, Erzähler und Romanfigur. Es ist nämlich die bekannte politische Haltung des Autors Grass, die mit der politischen Dimension seines Buches identifiziert und entweder geteilt oder abgelehnt wird; die Bewertung des Romans hängt offensichtlich davon ab, wie man Grass‘ Ansichten einschätzt. Vor allem Reich-Ranicki, der diese Ansichten ablehnt, charakterisiert in seinem „Spiegel“-Verriß vom 21. August 1995 Fonty als politisch dumm und attestiert entsprechend dem Roman politische Dummheit und ästhetisches Mißlingen. Das ist eine unentschuldbare Verengung der literaturkritischen Perspektive. Denn er vergißt zu erwähnen, daß andere Figuren andere und zu Fonty gegensätzliche Meinungen zur deutschen Einheit haben. So gibt es Fontys illegitime französische Enkelin, eine wahre Lichtgestalt, für die die Nation und die nationale Einheit etwas Normales und Wünschenswertes sind und die ihren Großvater typisch deutschen Grübelzwängen ausgesetzt sieht. Daß Kritiker wie Reich-Ranicki solche Relativierungen nicht bedacht haben, liegt nicht zuletzt an den öffentlichen Äußerungen des Autors selbst. Grass wurde in den vielen Interviews zum Roman nicht müde, zu politisieren. Daß er die Wendezeit, die Arbeit der Treuhand, das neue nationale Bewußtsein der Deutschen mit Skepsis betrachtet und mit Kritik nicht spart, geht schon aus seinen Essays „Deutscher Lastenausgleich“ und „Ein Schnäppchen namens DDR“ von 1990 hervor; zu nennen ist auch der Sonettenband „Novemberland“ von 1993. Grass hat sich immer als politischer Autor verstanden und so selbst dafür gesorgt, daß sein neuer Roman im entsprechenden Sinn diskutiert wird.

Verblüffend an der bisherigen Rezeption finde ich den ganz unreflektiert gebrauchten Literaturbegriff, der fast allen Rezensionen zugrunde liegt. Reich-Ranicki etwa mit seinen apodiktisch-normativen Forderungen an die Erzählkunst wirft Grass eine „Textmischung“ aus eigenen und Fontanes Werken und Briefen vor, durch die ein „riskantes Durcheinander“ entstanden sei, weil Fontanes Sätze als solche nicht kenntlich gemacht sind. Als ob noch nie und nirgends über Intertextualität nachgedacht worden wäre! Obendrein habe Grass die Berufung auf Fontane gar nichts genutzt, weil ihm nicht gelungen sei, was das Vorbild gekonnt habe: Gedankliches ins Sinnliche zu übertragen, es zu veranschaulichen. Als ob ein Roman immer mimetisch erzählen müsse! Eine Figur Fonty gebe es gar nicht, nur diesen Namen – als ob eine literarische Figur im psychologischen Erleben faßbar sein müsse! Der Rückgriff auf Fontane zur Darstellung von Zeitgeschichte zeuge von Unsicherheit in der Handhabung literarischer Mittel, vom Mangel an Kraft, Mut und Risikobereitschaft, die Wendezeit zum Hintergrund einer Geschichte zu machen. Das wäre ohne den Umweg über Fontane gelungen, so aber sei Grass gescheitert. Denn Erzählen sei doch, und nun zitiere ich Reich-Ranicki wörtlich, „die Gegenwart erleben und das Erlebte vergegenwärtigen.“ Erzählt aber werde gar nichts – es fänden sich nur Behauptungen und unoriginelles Geplapper über Fontane.

Abgesehen davon, daß die Grass-Begeisterung im Osten den Kritiker widerlegt – denn wenigstens ein Teil der Deutschen findet Erlebtes ja offensichtlich durchaus vergegenwärtigt –, kann Erzählen auch etwas anderes heißen als Reich-Ranicki behauptet. Nicht Erlebtes muß Literatur vergegenwärtigen; sie kann auch anschaulich machen, wie Wirklichkeit überhaupt erlebt wird – lückenhaft und aus vielen Perspektiven. Außerdem muß Literatur nicht vorrangig auf Geschichte und Politik verweisen; sie kann sich zunächst einmal auf andere Texte beziehen – in unserem Fall eben auf Werke und Briefe Fontanes, auf Schädlichs „Tallhover“ und auf Archivmaterialien. Bevor man also den bisherigen politischen und moralischen Wertungen weitere hinzufügt, bleibt zu bedenken, wie im Roman andere Texte wirksam werden und so eine ästhetische Wirklichkeit begründen, in der Literatur (Fontane) – und äußere Realität (Geschichte und Zeitgeschichte) selbst als ein Intertext erscheinen. Das klingt nur kompliziert, bedeutet aber einfach, daß alle Aussagen im Roman und alle Ebenen zunächst einmal Text und nichts anderes sind. Der Roman fiktionalisiert das Faktische, also Politisches und Historisches, und faktualisiert das Fiktionale, z.B. Fontanes Figuren, derart, daß niemand mehr weiß, was eigentlich Fakt, wahre Wirklichkeit, ist. Wie kann es um die Darstellung von real Erlebtem gehen, wenn niemand in der Lage ist zu bestimmen, welche Realität Erlebtes überhaupt hat? Wer setzt das Faktische? Fonty nicht und Emmi Wuttke nicht, Hoftaller oder Fontane nicht und auch nicht Grass oder gar Reich-Ranicki; wir vom Archiv, wir Fußnotensklaven, die mit Karteikarten arbeiten und Textzusammenhänge verzetteln, natürlich schon gar nicht. Aber wir können doch eins: die unauflösliche Verbundenheit von Fiktion und Faktischem als Phänomen literarischen Sprechens selbst reflektieren und die Organisation von Texten analysieren statt diese an Vorstellungen von dem, was ein Roman zu sein habe, zu messen und abzuwerten. Aspekte der Fontane-Rezeption bei Grass sind also als intertextuelle Zusammenhänge vorzustellen, und ich gehe davon aus, daß wir nichts anderes zu untersuchen haben als Texte – seien es biographische, dokumentarische, ästhetische oder politische. Ich beginne mit „Zunge zeigen“ und begebe mich dann von Indien aufs „Weite Feld“ der Fontane-Bezüge.

Alles begann mit einem Traum. „Ein Paar träumt mir“, heißt es in „Zunge zeigen“, „Ute und der alte Fontane unterm Birnbaum in unserem Garten. Und mich träume ich hinterm geschlossenen Fenster, entrückt, aber doch nah genug, um zu begreifen: da ist was, da tut sich was, und zwar schon seit Jahren. Sie hat was mit einem vielzitierten Kollegen von dir, ein Verhältnis, in dem du nicht vorkommst […]“. Fontane taucht auf als Schriftsteller-Phantasie, die erotisch konnotiert ist; er wird zum Begleiter des Paares und verkörpert eine Art von vertrautem Kollegenblick, mit dem Grass sich auseinanderzusetzen beginnt. Teil seiner Beschäftigung mit Geschichte und Zeitgeschichte Indiens bleibt die kritische Reflexion der eigenen Wahrnehmung im Spiel mit der fingierten Perspektive Fontanes, dessen Englandbegeisterung und ambivalente Preußenliebe vor den indischen Verhältnissen auf dem Prüfstand stehen. Der Dialog oder besser: Trialog zwischen dem Paar und dem Erträumten erweitert die politische Dimension der Reiseeindrücke. Die imaginierte Perspektive eröffnet aber zugleich, wie Karl-Heinz Fingerhut zutreffend betont, den Blick auf die Autoreferentialität von Literatur, die eben weder Geschichtsschreibung noch zeitkritische Essayistik ist: als Organisationsprinzip der Darstellung erscheint ja ein literarischer Dialog der Autoren über die Zeiten hinweg, und dieser Dialog ist eigentlich ein Monolog, ein Entfalten von Fiktionen. So betrachtet, fungiert Fontane weniger als Autor mit eigener Identität denn als Bedeutungsträger – als Name für einen Blick auf die Wirklichkeit, der es dem Erzähler politisch wie ästhetisch und literarhistorisch erlaubt, das Eigene im Fremden und das Fremde im Eigenen wahrzunehmen und der Kritik zu unterziehen. Eben das scheint mir auch die Funktion Fontanes im „Weiten Feld“ zu sein, wo er nicht einmal mehr einen Namen hat; sondern aus dem Text entziffert werden muß. Nirgends dort ist ja von dem Autor die Rede. Er erscheint nur als Kürzel in der Widmung des Romans: „Für Ute, die es mit F. hat“, und wird sonst stets der „Unsterbliche“ genannt. Die Bezeichnung „Der Unsterbliche“ ist doppelsinnig. Sie ist einmal Ausdruck der Verehrung; zum andern bezieht sie sich auf das Weiterleben Fontanes in der Gestalt Fontys. Unsterblich ist Fontane nicht als historischer Schriftsteller, über den Literaturlexika informieren und dessen Werke und Briefe im Archiv gesammelt sind. Unsterblich ist er nur unter dem Aspekt seiner Wirkung in der Gegenwart. Darunter aber ist zunächst einmal nichts anderes als die Romanwirklichkeit zu verstehen, in der Fonty Fontanes Perspektive fingiert durch ein Leben im Zitat. Und damit begebe ich mich mitten in das „Weite Feld“ als einen Intertext, dessen politische Dimension erst durch die Vermittlung von Perspektiven und durch das Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit zustande kommt.

Der historische Fontane erscheint im Roman nur als Denkmal, als ganzfigürliches Monument, das Fonty die „sitzende Bronze“ nennt; sie steht in Neuruppin. Eines Tages besuchen er und Hoftaller das Städtchen und suchen auch das Denkmal auf, um, wie es für Fonty ausdrücklich heißt, „sich in Vergleich zu bringen“ (S. 583). Die dem Denkmalbesuch gewidmeten Romankapitel verdienen ein näheres Hinsehen. Nach einer detaillierten Beschreibung der „sitzenden Bronze“ fragt der Erzähler, ob das denn wirklich Fontane sei; schließlich wisse man, daß der Bildhauer auf den Sohn Theo, der seinem Vater ähnlich gewesen sei, als Modell zurückgegriffen habe. Es geht also um das Verhältnis von Original und Abbild und um die Frage, ob man im Abbild das Original erkennen könne. Dieses Thema nun wird kunstvoll entfaltet. Das anwesende Archiv liebt Fonty, weil er, ich zitiere, „in seiner greisenhaften Schönheit unter uns weilte, während die Bronze auf der Steinbank entrückt saß; er war lebendig, während uns der Unsterbliche nur noch Fußnoten, Querverweise und sekundären Schweiß abforderte“ (S. 586). Aber es sorgt sich auch, denn nun passiert folgendes: Hoftaller, sein „Tagundnachtschatten“, zwingt Fonty, zum Denkmal heraufzuklettern und genau die Pose der „sitzenden Bronze“ zu imitieren – er will ihn als sein Beobachtungsobjekt also zum Abbild des Abbildes machen, zum Objekt zweiter Ordnung sozusagen. Der Zwang, jede einzelne Geste nachzuahmen, wird zur Demütigung; „auch Fonty spürte das Überlebensgroße, nun, da er Arm an Arm saß. Neben ihm dominierte das Original. Zwar mangelte es nicht an Ähnlichkeit, doch wirkte die verkleinerte Ausgabe wie ein geschrumpftes Modell“ (S. 590). Eben diese Konstellation: Hoftaller als Subjekt, Fonty als Objekt, die „sitzende Bronze“ als überlebensgroßes Vorbild, kehrt sich auf dem Höhepunkt der Szene um: Fonty weigert sich, trotz Hoftallers Aufforderung herabzusteigen, und beginnt, vom Denkmal herab zu sprechen. Ich zitiere: „Nörgelnd nahm er Anstoß an der ohnehin bekannten Tatsache, daß nicht der Unsterbliche, sondern dessen Sohn […] Modell gesessen habe […]. Ganz ungeistig witzlos sei die Ausstrahlung der Bronze. Alles wirke bieder und ledern. Der ganze Kerl stecke im Leihkostüm“ (S. 594). Fonty wird zum Original und erklärt das Denkmal zum Abbild eines Abbildes, er wird zum Subjekt, das redet, während Hoftaller zur Pose erstarrt. Und Fonty wird zum Autor-Subjekt, indem er des „Unsterblichen“ Artikel „Die gesellschaftliche Stellung der Schriftsteller“ von 1891 zitiert und auf die Gegenwart bezieht: Immer noch seien die Schriftsteller nicht anerkannte Existenzen; immer noch sei die Zensur eine ebenso nichtswürdige wie belebende Institution; Furcht müsse man haben vor der Literatur, denn sie habe detektivischen Charakter, usf. Das bedeutet: Über das Spiel mit Positionen wird im Zitat nicht der historische Autor lebendig, sondern die historische Perspektive eines Schriftstellers, in der sich die Situation der Gegenwartsliteratur spiegelt. Der letzte Satz, vom Archiv nachgetragen, lautet: „Das bessere Mittel heißt: größere Achtung vor uns selber “ (S. 600). Diese Achtung vor sich selbst hat Fonty in der Umkehrung der Konstellation bewiesen; sie gehört zum „Unsterblichen“, und sie ermöglicht einen Blick auf die Wirklichkeit: „In West wie Ost stellten Schriftsteller andere Schriftsteller an den Pranger. Um nicht beschuldigt zu werden, beschuldigten sie. Wer gestern noch hochgefeiert war, sah sich heute in den Staub geworfen. Gesagtes ließ sich mit Nichtgesagtem verrechnen“ (S. 600). Aus der fingierten Perspektive des Unsterblichen, einem historischen Text, den sich Fonty als fiktionale Figur aneignet, werden Wahrnehmungsmuster von Schriftstellern erkennbar, nicht die Wirklichkeit als solche. Der Kunstcharakter des Erzählten liegt nicht zuletzt darin, daß eben dies auch noch veranschaulicht wird: Mitten in die Denkmalszene hinein tritt nämlich ein Besucherpaar: Er mit Baskenmütze, Pfeife rauchend in gebeugter Haltung, hängendem Schnauzer, sie mit krausen Haaren, sehr viel jünger, fotografierend. Hoftaller und Fonty neben der „sitzenden Bronze“ sind ihnen Luft; sie sehen sie nicht, obwohl sie fotografieren und genau beobachten. Ich zitiere: „Und zum Beweis rief der Pfeifenraucher: ‚Guck mal, neben unserem Freund ist viel Platz. […] So, nur noch die Inschriften, das reicht dann.‘ Einen halben Film wird sie Bildchen nach Bildchen abgeknipst haben. […] Dann verschwanden sie endlich in Richtung Stadt: ein ungleiches Paar, das einen ganz anderen Roman lebte. Wir aber haben noch lange über Fiktion und Wirklichkeit nachdenken müssen und Fonty […] wird sich seinen Teil gedacht haben; auch er neigte dazu, was ihm nicht paßte, zu übersehen und tatsächliche Lücken mit den Kindern seiner Laune aufzufüllen“ (S. 592).

Wenn man bedenkt, was hier in Anspielung auf Grass und seine Frau Ute selbst geschieht, läßt sich vielleicht sagen, daß die Wirklichkeit gerade nicht mimetisch zu erfassen ist; das Faktische – hier die Präsenz Fontys und Hoftallers – bleibt ein blinder Fleck für denjenigen, der es fotografieren will. Es bleibt ein Fehlen, eine Lücke, die es aufzufüllen gilt. Aufgefüllt aber werden Lücken mit Fiktionen – und deren Erkenntniswert für die Wirklichkeit ist weitaus höher als das sogenannte Faktische. So gesehen, beruht der Roman auf einer Ästhetik der Lücke, und das läßt sich an den Beispielen Fontys, des Archivs und Hoftallers demonstrieren – an den Beispielen der Perspektiven also, die maßgebend sind.

Fonty lebt Fontanes Welt nicht nur nach, sondern er schreibt sie auch fort; er kopiert nicht nur, er führt weiter. So erscheint die Biographie Wuttkes einerseits zwar als Abbild eines historischen Vorbilds. Das aber schreibt Fonty andererseits um, und zwar als dargestellte Figur wie auch in dem, was er sagt: er imaginiert sich seinen „Unsterblichen“, und er erkennt Wirklichkeit im Muster seiner Imaginationen. So erkrankt er z.B. wie der historische Fontane am Nervenfieber und wird über der Arbeit an seinen eigenen autobiographischen „Kinderjahren“ wieder gesund. Seine „Kinderjahre“ aber sind „doppelt gewebt“: In seiner Studierstube, die bis auf den Läufer der Stube Fontanes in der Potsdamer Str. 134c nachgestaltet ist (S. 243), geht er auf seinem rotchinesischen Teppich – Fontane hatte einen türkischen – auf und ab und erfindet die Geschichte beider Väter. „Manchmal“, ich zitiere, „verwechselte er sie. […] Jedenfalls kam es vor, daß Fonty den einen meinte, wenn er vom anderen sprach, indem er beiden nur Gutes nachrief.“ (S. 253) Schreibend erzeugt Fonty die Biographien beider Väter, des fremden und des eigenen, schreibend produziert er die eigene Lebensgeschichte, indem er schon vorhandene Texte fortsetzt. Und er deutet Fontanes Werke neu – indem er andere, befriedigendere Schlüsse für sie entwirft und so das historisch und ideologisch begrenzte Vorbild durchbricht: „Nach neuester Handlung mußte Lene Nimptsch nicht den biederen […] Gideon Franke heiraten, sondern kriegte ihren Botho von Rienäcker, der auf die adlige, aber strohdumm kichrige Käthe pfiff. […] Noch radikaler ging er mit Effi um: ‚Zweifelsohne! Es ist die Mutter, die kupplerisch diese üble Geschichte eingefädelt hat. Sie soll am Ende büßen […], während der alte Briest mit Tochter und Enkelkind eine weite Reise macht […], nach China, damit der Spuk ein Ende findet.“ (S. 703) Sogar Hoftaller, heißt es, war beeindruckt von dem „etwas verspäteten Perspektivwechsel des Unsterblichen“ (S. 704). Solche Szenen verdeutlichen, welche Funktion Fonty eigentlich hat: Er ist der alles belebende Geist der Literatur, die Seele des Textzusammenhangs sozusagen, durch den erst der Unsterbliche wirken kann. In eben dieser Funktion, die Reich-Ranicki gerade deshalb verkannt hat, weil er traditionell-psychologisch gezeichnete Figuren erwartet, ist Fonty bloßer Bedeutungsträger wie Fontane – eine Chiffre in diesem Fall für den Geist, ohne den der Buchstabe tot wäre – für den Geist, ohne den Fontanes Leben und Werk nichts als totes Archivmaterial wären.

Fonty ist im Archiv gern gesehener Gast; im Besuchersessel sitzend, gibt er Einzelheiten aus des Unsterblichen Leben zur Kenntnis, die neugierig aufgenommen werden. Aufgabe der Mitarbeiter ist es, Materialien zu sammeln und zu sichten, zu überprüfen und zu vergleichen, und dabei ergeben sich immer wieder Lücken in bezug auf das, was Fakt ist: Nach Fontys Verschwinden zum Schluß des Romans heißt es: „Schon nach wenigen Tagen fehlte uns Fonty sehr. Es war, als gilbten unter unseren Fingern ganze Stöße kostbarer Papiere, als mangelte uns sein belebender, staubaufwirbelnder Atem, als müßten wir ihn beschwören, damit er uns wieder leibhaftig werde, es war, als mahne uns, kaum war er weg, die Pflicht an, sogleich und als Kollektiv die Geschichte des Verschollenen niederzuschreiben.“ (S. 764) Genau das unternimmt das Archiv ja, so daß die zitierte Passage auch als poetologische Selbstreflexion im Roman zu verstehen ist: Fonty, das Medium, durch das der Unsterbliche fortlebt, ist zugleich der Geist, mit dessen Hilfe das Archiv Lücken füllt, Varianten notiert, Erkenntnisse gewinnt. Als er andere Ausgänge für Fontanes Romane erfindet, sind sich die Zeugen z.B. sicher, „das Entstehen einiger Werke in bisher nicht überlieferten Textvarianten zu erleben.“ (S. 702) Das bedeutet: Das Erzählerkollektiv ist auf die Perspektive Fontys angewiesen – auf die Möglichkeit und auf die Kraft, den lebendigen Geist und nicht den toten Buchstaben zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen.

In diesem Zusammenhang wird das Spiel mit Fiktion und Faktischem auch auf den literaturwissenschaftlichen Aspekt der Fontane-Rezeption ausgedehnt. Wissenslücken über Fonty sollen durch Anfragen bei Charlotte Jolles in London gefüllt werden, und wiederholt erscheint Hans-Heinrich Reuters Fontane-Monographie als Quelle biographischer oder werkgeschichtlicher Informationen. Nebenbei sei bemerkt, daß die Germanistik der alten Bundesländer schlecht wegkommt: Walter Müller-Seidels Fontane-Buch findet keine Beachtung, ebenso wenig die Arbeiten von Nürnberger und anderen. Reuter war ja bekanntlich ein DDR-Germanist, und Jolles wird als Emigrantin hochgeachtet. Dem entspricht, daß mit der Figur der Kölner Studentin Martina Grundmann ein hübscher satirischer Seitenhieb auf die westdeutsche Literaturwissenschaft geführt wird: Martina hat nichts von Fontane gelesen, aber, ich zitiere, „Sekundärliteratur kriegen wir mit, jedenfalls so viel, daß man den Durchblick hat und ihn einordnen kann, wie unser Prof. sagt, ungefähr zwischen Raabe und Keller“. Fonty versucht darauf, ihr „den immerhin möglichen Gewinn beim Lesen von Originaltexten anzupreisen.“ (S. 296f.) Gegen Martina Grundmann steht Madeleine Aubron, die französische Enkelin Fontys und ebenfalls Germanistikstudentin. Sie hat eine literarhistorische Ausbildung alter Schule genossen und kennt sich in der Biographie des Unsterblichen ebenso gut aus wie in dessen Werken. Und sie ist als eine von Fontys Art dargestellt – ausgestattet mit der Fähigkeit, Texte, Fakten, die Wirklichkeit, wie sie ist, aus der Perspektive von Imaginiertem zu durchdringen und so den Erkenntniswert von Fiktionen für die Wirklichkeit zu bestätigen. Zusammen mit Fonty sitzt sie z.B. in einem kleinen, häßlichen Bistro in der Potsdamer Straße und starrt auf einen unschönen Betonbau mit der Nummer 134c; Fontanes Wohnung gibt es überhaupt nicht mehr, und das Haus stand auch nicht an dieser Stelle; es existiert nur noch in der Einbildung. „Hauptsache, die Hausnummer stimmt“, sagt Fonty, und: „Mögen meine Fußnotensklaven ihr papiernes Lächeln aufsetzen, ich sage: ein erlaubter Trick. […] Die Dichtung darf alles. […] Jedenfalls fällt uns zu 134c mehr ein als bloß ledernes Archivwissen.“ (S. 436)

Auch Madeleine will Lücken füllen, Wissenslücken, und besucht darum regelmäßig das Archiv. Da dieses selbst aber nun Lücken zu füllen hat und auf Fonty angewiesen ist, werden alle Perspektiven auch zu Beobachterperspektiven: Die Figuren erscheinen als Beobachter und Beobachtete. Zur Ästhetik der Lücke und der perspektivischen Konstruktion gesellt sich der Vorrang des Sehens, des Nachspionierens und wechselseitigen Nachforschens, bei dem die Subjekt-Objekt-Relationen mehrfach vertauscht werden. So fungieren die Erzähler vom Archiv z.B. wie Hoftaller als Spitzel, um Kenntnisse über Fonty-Fontane zu sammeln und Lücken füllen zu können. „Wir mußten ins Grüne“, heißt es. „Gleich Hoftaller war uns Außendienst vorgeschrieben. Wie Spanner hockten wir im Gebüsch […]. Man löste sich ab. Man gab das Belauschte weiter: Notate für später.“ (S. 414) Perspektiven und konkrete Blicke werden zur Bedingung für wechselseitige Spiegelungen von Bildausschnitten, Gesehenem, Beobachtetem, das unterschiedliche Wahrnehmungsmuster erkennen läßt. Ein solches Muster liefert Fonty im Geist des Unsterblichen; ein anderes das Archiv im Geiste Fontys; ein drittes aber liefert Hoftaller, der in einer sehr problematischen Symbiose mit Fonty gestaltet ist. Er ist dessen alter ego; die beiden gehören zusammen. Das wird überdeutlich am stets wiederkehrenden Motiv des einen Schattens, den beide werfen, an dem Aufeinanderangewiesensein und nicht zuletzt an Fontys Wahnvorstellung, er habe Hoftallers Zähne im Mund. Die Wahnvorstellung kann erst dadurch behoben werden, daß Emmi Wuttke so tut, als ob sie die Zähne im Glas wieder ausgetauscht habe. Die Textorganisation läßt keinen anderen Schluß zu als den, daß Hoftaller wie die anderen weniger als Figur mit konkreter politischer  Verweisung denn als Bedeutungsträger im Text gestaltet ist: Er veranschaulicht die Perspektive einer Überwachung, die zugleich als bedrückend erfahren und verinnerlicht ist; er hindert Fonty an eindeutigem Verhalten, z.B. an der Flucht nach England, aber er pflegt ihn auch oder trägt ihn huckepack. Er  wirkt lähmend und belebend gleichermaßen. Er ist fast immer dabei, von niemandem geachtet, aber für alle selbstverständlich präsent – er verkörpert „die mindere Form der Unsterblichkeit“ (S. 597), ist also ebenso unsterblich wie der Unsterbliche. Das heißt: Grass‘ Korrektur an Schädlichs Tallhover, der sich zum Schluß ja umbringt, könnte einen Grund in der literarästhetischen Funktionalisierung der Spitzel-Perspektive haben. Dazu passen die überdeutlichen Motivverflechtungen mit der Beobachtertätigkeit des Archivs und der von Fonty dargelegten detektivischen, aufdeckenden Funktion von Literatur. Hoftaller als Spitzel füllt Wissenslücken, wie es die anderen Figuren tun – aber Hoftaller allein ist nicht von eigenem Geist, er schreibt nichts fort, er schreibt nichts um – er bleibt stets angewiesen auf die Wirklichkeitsentwürfe und Fiktionen anderer. Er führt eine Parasitenexistenz, teils abgelehnt, teils auch wieder benötigt; einzig die französische Enkelin schickt ihn mit Bestimmtheit fort, wenn seine Anwesenheit ihr unangenehm ist. Unter ideologie- und politikkritischem Aspekt kann man die ambivalente Figurencharakteristik als mißlungen, gar, unter bezug auf die reale Stasi, als moralisch verwerfliche Verharmlosung betrachten; ebenso könnte man die Ambivalenz als realistische Widerspiegelung der sozialpsychologischen Bedeutung sehen, die die Stasi in der DDR nicht nur für Schriftsteller hatte, und darüber hinaus als Symptom einer deutschen Verinnerlichung von Überwachungsinstanzen. Unter dem Aspekt der Textkonstruktion aber wird Hoftaller als ambivalent lesbare Chiffre verstehbar: als Fontys Beschatter ist er derjenige, der Fäden spinnt, Verbindungen herstellt, Vergangenes aufdeckt, die Gegenwart auskundschaftet – kurz, der auf seine Art ebenso biographische Lücken zu füllen sucht wie das Archiv und Madeleine. Damit komme ich zum grundlegenden Strukturprinzip des Romans. Es liegt im Spiel mit der Biographie Fontane-Fontys; über das Spiel konstituiert sich der Text.

Im Mittelpunkt steht Fontanes Roman „Irrungen, Wirrungen“, der von der Liebe zwischen Lene Nimptsch und Botho von Rienäcker handelt. Botho, der Adlige, heiratet schließlich standesgemäß Käthe von Sellenthin, während Lene dem kleinbürgerlichen Konventikler Gideon Franke das ja-Wort gibt; die Liebe scheitert also an den Standesgrenzen. Dieser Roman nun wird im „Weiten Feld“ biographisch gedeutet: Er enthalte verschlüsselt das Erlebnis Fontanes mit einer jungen Dresdenerin; der Liebe entsprangen zwei uneheliche Kinder. Nun hatte Fontane tatsächlich ein Verhältnis mit einer unbekannt gebliebenen Frau; davon zeugen zwei Briefe an Bernhard von Lepel vom 1. März und vom 7. April 1849. Der deutlichere Brief ist der vom 1. März; Fontanes Familie hat ihn anfangs unterdrückt, so daß er erst am 29.12.1929 in der Vossischen Zeitung veröffentlicht wurde. „Denke Dir“, schreibt Fontane, „zum zweiten mal Vater eines illegitimen Sprößlings. […] Meine Kinder fressen mir die Haare vom Kopf, eh die Welt weiß, daß ich überhaupt welche habe.“ Es folgt ein Wortspiel über die Früchte der Feder – penna – und die Früchte des Penis –, das Grass sich gewiß nicht hätte entgehen lassen, wenn ihm die Briefe im vollen Wortlaut bekannt gewesen wären. Die im „Weiten Feld“ verarbeiteten Stellen lassen aber vermuten, daß er sein Wissen nur der kleinen rororo-Monographie von Nürnberger verdankt. Mehr als das, was man den beiden Briefen entnehmen kann – Fontane bittet Lepel um finanzielle Unterstützung –, ist nicht bekannt. Grass‘ Roman jedoch füllt die Lücke: Die Geliebte des Unsterblichen sei eine Magdalena Strehlenow gewesen; und über diese ist Hoftaller, Zitat, „mit Fakten zur Stelle“. (S. 417) Die Strehlenow nämlich sei eine Demokratin gewesen, bis zu ihrem Tod 1904 habe sie den Ideen der 1848-er Revolution angehangen. Sie sei in Sachsen politisch verfolgt und mit Clara Zetkin bekannt, wenn auch nicht befreundet gewesen. Aus der Strehlenow sei Lene Nimptsch geworden, weil die Liebenden beim Rudern Gedichte von Nikolaus Niembsch von Strehlenau, Lenau also, rezitiert hätten. Der Verbindung entsprang 1843 ein Kind namens Mathilde, und diese Mathilde soll 1864 einen aus Westpreußen stammenden Referendar namens August Wuttke geheiratet haben, der bald nach der Geburt seines Sohnes Friedrich, Fontys Großvater, an Lungenentzündung starb. Und Hoftaller legt dem Archiv eine Kopie des Trauscheins vor, demgemäß Friedrich Wuttke im Dreikaiserjahr eine Hugenottin Marie Duval geheiratet habe. Dieser Ehe entsprang dann Max Wuttke – des Unsterblichen Urenkel und Fontys Vater. (S. 685)

Die Stammbaum-Rekonstruktion, die Hoftaller unternimmt, zeigt sehr deutlich, wie Imagination und Wirklichkeit so miteinander verbunden werden, daß die faktische Macht von Fiktionen und das Fiktive des Faktischen hervortreten: Eine Magdalena Strehlenow hat es in der Fontane-Biographie nie gegeben, während sie im Text als reales Vorbild für Lene Nimptsch erscheint und als Ururgroßmutter Fontys fungiert. Das Spiel mit der Biographie aber geht noch weiter. Denn die Botho-Lene-Geschichte aus „Irrungen, Wirrungen“ wird für Fonty, der ja im Zitat lebt und aufs Wort genau das ist, was er sagt (S. 10), zum Muster für sein Liebesverhältnis mit einer Französin, das er während des 2. Weltkriegs in Lyon hatte. Madeleine Blondin war seine Geliebte, wie Magdalena Strehlenow die Geliebte Fontanes war. Hoftaller findet heraus, daß Fonty in Frankreich eine illegitime Tochter zeugte, und Hoftaller ist es, der Fonty mit seiner Enkelin Madeleine zusammenführt. Diese nun kennt „Irrungen, Wirrungen“ sehr gut; Großvater und Enkelin unterhalten sich beim Rudern über den Roman. (S. 425ff.) Der Höhepunkt des Gesprächs macht sichtbar, worum es im „Weiten Feld“ beim Spiel mit Fiktion und biographischer Wirklichkeit immer auch geht: Um ein Spiel mit Texten, dem nicht zu entkommen ist. „Gideon ist besser als Botho!“, rufen beide immer wieder; mal „klang das lustig, mal verzweifelt, schließlich sogar höhnisch“. Die Antwort aus anderen Booten oder von der Liegewiese läßt nicht auf sich warten: „Wer is besser? – Stimmt watt nich, Opa?“ (S. 430) Die Stelle bezieht sich allem Anschein nach auf Franz Mehrings Deutung von „Irrungen, Wirrungen“, die bei Reuter referiert wird und die Grass zur Kenntnis genommen haben dürfte. Mehring sieht in der Ehe Lenes mit Gideon Franke einen Sieg des Kapitalismus und der Entfremdung über die Gefühle und zeichnet Gideon als keineswegs positive Figur. Wenn also Fonty und Madeleine mal lustig, mal verzweifelt, schließlich sogar höhnisch über den See rufen, daß Gideon besser sei als Botho, wird klar, daß es hier um Bewertungen der Gegenwart geht. Es geht um den Sieg des Materiellen über das Gefühl und um die verschiedenen möglichen Perspektiven, aus denen dies zu sehen ist.

So öffnet sich die politische Dimension des Romans im Spiegelkabinett der Textbezüge. In diesem Rahmen wäre dann auch das furiose Romanfinale zu verstehen: die Treuhandfeier zur 1000. Abwicklung, zu der Birgit Breuel als Frau Jenny Treibel einlädt. Fonty hält die Festrede, legt wieder einmal sein Manuskript beiseite und steigert sich in eine Begeisterung hinein, in der er das gesamte ihm zur Verfügung stehende Personal aus Fontanes Romanen und Novellen Paternoster fahren läßt; der Paternoster ist ein zentrales Symbol im „Weiten Feld“, auf das ich hier nicht näher eingehe. Fonty geht über zur Schilderung all der Brände in den Werken Fontanes und entflammt sich selbst und das Publikum dabei so, daß, ich zitiere, „wir die von draußen kommenden Sirenentöne als zum Vortrag gehörend verstanden. Man glaubte, die Berliner Feuerwehr sei auf Geheiß des Unsterblichen im Großeinsatz und mache mit bei Fontys Flammenspiel; da riß jemand von außen die Tür zum Notausgang auf und rief: ‚Das mußte ja so kommen; die Treuhand brennt‘.“ Aber „da das Publikum die brennende Treuhand als Ende des Vortrags verstand, war prasselnder Beifall die Folge. […] Gerne war man in Wunschkostümen beim Fest dabei gewesen – jeder in seiner ersehnten Rolle –, und mit freudig zustimmenden Rufen hatte man schließlich gehört, daß der lichterlohe Ausklang des Festes von der Wirklichkeit beglaubigt worden war.“ (S. 757f.) Es stellt sich heraus, daß nur der Paternoster abgebrannt ist – aber nicht darauf kommt es hier an. Es geht um die zündende, entflammende, Wirklichkeit erzeugende statt abbildende Bedeutung von Literatur, die Fonty verkörpert. Und der sagt prompt im alten Bummelton: „Sind wohl alle übergeschnappt. Ist doch Fiktion alles und nur in einem höheren Sinn wirklich. Klatschen immer zu früh. Hätten den Schluß des Treuhandfestes abwarten sollen, bei dem der Unsterbliche persönlich auftritt.“ (S. 758)

Vor dem Hintergrund meiner Ausführungen erklärt sich nun auch der Titel des Romans; er ist, wie wir alle wissen, eine Lieblingswendung des alten Briest. Dieser benutzt sie immer dann, wenn er sich nicht festlegen will. Und in eben dem Sinne ist sie auch bei Grass gebraucht: Die Geschichte der deutschen Einheit ist ein weites Feld, dessen Grenzen nicht zu fixieren sind. Ein Ende des weiten Feldes liegt für Fonty allein darin, daß er das Weite sucht – in den Cevennen, wohin ihn seine Enkelin bringt. Unverkennbar ist zum Schluß Fontys eigene Unsterblichkeit als die eines Er-schriebenen, über den Wirklichkeit erschrieben statt beschrieben wird. Am Ende heißt es in einer autoreferentiellen Stelle: „Es war, als sei uns jeglicher Sinn abhanden gekommen. Fonty, der gute Geist, fehlte. Und nur, indem wir Blatt auf Blatt füllten, ihn allein oder samt Schatten beschworen, bis er wiederum zu Umrissen kam, wurde er kenntlich, besuchte er uns mit Blumen und Zitaten […].“ (S. 780)

So wird Fonty zum guten Geist nicht nur der Literatur schlechthin, sondern dieses Romans selbst. Dessen Leistung besteht darin, Bedingungen von Wirklichkeitsdeutungen zu zeigen. Das westliche wie östliche Vergessen von Geschichte und die Ideologisierung von Zeitgeschichte werden literarisch unterlaufen. Weniger in den Inhalten liegen die Parallelen zu Fontane, als im Spiel mit Wahrnehmungsmustern. Da mag manch einer die politische Moral vermissen und nach der Verantwortung des Autors fragen.

Darauf wäre zu antworten: Unter formalästhetischen Gesichtspunkten kann Literatur weder politisch noch moralisch bewertet werden. Aber wenn sie nicht bestrebt ist, Wirklichkeit mimetisch zu verdoppeln, vielmehr Wahrnehmungsmuster konstruiert, dann leistet sie einen Beitrag, starre Positionen zu unterminieren und eine Offenheit herzustellen, die auch politisch und moralisch nur wünschenswert sein kann. In diesem Sinne kommt einem der Text manchmal klüger als sein Autor vor.

Die politische Haltung Grass‘ ist bekannt und spiegelt sich selbstverständlich auch im Roman wider. Doch zunächst einmal hat der Schriftsteller sein Schreiben zu verantworten. Selbst das wird noch immanent reflektiert: nach dem Mord am Treuhandchef Rohwedder, der als sympathischer Mensch charakterisiert ist, bringt Fonty, ich zitiere, ins Archiv „nichts als Schweigen mit“; er sitzt „verloren oder, besser, wie aus dem Text gefallen“ im Besuchersessel. Aber dann tröstet er sich, indem er sein Idol Walter Scott zitiert, also in den Text zurückkehrt: „Während Walter Scott an ‚Woodstock‘ schrieb, starb Lady Scott; er ging eine Stunde im Garten auf und ab und schrieb dann ein Kapitel. So muß es sein.“ (S. 644) Daß das Geschriebene dann moralisch und politisch verschieden beurteilt werden kann, liegt auf der Hand. Selbstverständlich werden Birgit Breuel, die sich als Jenny Treibel portraitiert sieht, oder der Bundeskanzler, gegen den als „regierende Masse“ polemisiert wird, das Buch anders beurteilen als Ost-Leser, die ihre eigenen Desillusionierungsprozesse wiedererkennen. Der Roman läßt die unterschiedlichsten Lektüren zu. Eben das macht seine Qualität aus.

Abschließend kann man fragen, wie Grass‘ Fontane-Rezeption denn vor dem Hintergrund der neuen Literaturtheorien zu bewerten ist, die den Tod des Autors postulieren. Ich erinnere nur an Foucaults Essay „Was ist ein Autor?“ von 1969, in dem die Biographie des Autors als eines konkreten Verfassers von Werken für unwichtig erklärt wird; stattdessen sei der Autorname eine Funktion im Feld diskursiver Zuweisungen und Wertungen von Literatur. Ich vereinfache: nicht der Autor spielt eine Rolle, sondern Texte, die Räume eröffnen. Ebenso bekannt ist Roland Barthes Schrift „Der Tod des Autors“ von 1977. Betont wird vor allem, daß der Autor nicht mit dem realen historischen Individuum, das sein Werk verfaßte, gleichgesetzt werden darf. Die Rede vom „Tod des Autors“ ist zu verstehen als eine Spielart der dekonstruktivistischen Attacke gegen Ursprungskonzeptionen, gegen den Glauben, daß man Literatur auf Intentionen  oder auf bestimmte Sinnzentren zurückführen und so deuten könne. Fragt man sich, was aus dem dekonstruktivistischen Kampfruf bei Grass und in der Gegenwartsliteratur überhaupt geworden ist, so kann man ihn als widerlegt betrachten: Der Autor ist keineswegs tot, sondern biographische Interessen feiern fröhliche Urständ. Ich weise nur auf den Roman „Besessen“ von Antonia Byatt hin, der monatelang auf den Bestsellerlisten stand und in dem es in einer Art Philologenkrimi darum geht, Leben und Lieben eines viktorianischen Dichters zu rekonstruieren. Und wenn Grass die Biographie Fontanes zum Muster seiner Fonty-Figur macht, kann, rezeptionsästhetisch betrachtet, vom Tod des Autors ebenfalls keine Rede sein. Ohne eine ziemlich genaue Kenntnis der Biographie Fontanes und seiner Werke, also auch der Unterschiede zwischen historisch-biographischen Fakten, Fiktionen, dem Autor und seinem Roman-Personal kommt man der Konstruktion von „Ein weites Feld“ nicht auf die Schliche. Andererseits aber, von dieser Konstruktion aus betrachtet, aus textheoretischer Perspektive also, ist der Autor doch tot – denn der Roman führt Fontanes Biographie nicht als solche vor, sondern als Wirkung, als Effekt eines Verstehens von Texten. Der Autor Fontane entsteht sozusagen erst im Prozeß der Romanlektüre – er wird im Raum des Intertexts als Autor-ität konstruiert.

Es geht nicht darum, ob ich mich für eine biographistische oder für eine dekonstruktivistische Lektüre entscheide, denn Fontane kann sowohl als Urheber seiner Werke wie auch als literarisches Produkt angesehen werden. Wie sagt Fonty, bevor er abtaucht? „Zweifelsohne werde ich mir selbst nun zum jüngsten Kind meiner Laune“ (S. 779). Und ehe ich das nun noch einmal mit der Ästhetik der Lücke in Verbindung bringe, verlasse ich das „Weite Feld“ – sofern man etwas Endloses verlassen kann, ohne mit Fonty das Weite zu suchen.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag erschien zuerst in: Fontane-Blätter 62 (1996), S. 112-126. Wir danken der Verfasserin für die freundliche Genehmigung zur Nachpublikation in dieser Ausgabe von literaturkritik.de. Der Duktus des am 1.2.1996 in Marburg gehaltenen Vortrages wurde im Druck beibehalten. Die Seitenangaben hinter den Zitaten beziehen sich auf die Erstausgabe von Günter Grass: Ein weites Feld. Steidl Verlag, Göttingen 1995.