Schmutzige Geschäfte und ein schönes Kind

„Dornröschen“ ist der dritte Lew Archer-Roman von Ross Macdonald, der mit einer Neuübersetzung gewürdigt wird

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang von Ross Macdonalds siebzehntem Lew Archer-Roman aus dem Jahr 1973 bedroht eine Ölpest die kalifornische Pazifikküste. Eine Bohrinsel steht in Flammen und das ausströmende Öl treibt auf die Traumstrände zu. Eilig werden Gegenmaßnahmen ergriffen, doch schon wächst der Zorn der Bürger und die Frage nach den Verantwortlichen für die Katastrophe wird laut. Hat die Familie Lennox, die der Ölboom reich gemacht hat, bei den Sicherheitsvorkehrungen nicht die nötige Vorsicht walten lassen? Hat man Profit über Professionalität gestellt, Gewinn über Gewissen?

Als Macdonalds Detektiv Lew Archer – neugierig geworden, da er vom Flugzeug aus den sich anbahnenden Gau beobachten konnte –, am Ort des Geschehens in Pacific Point eintrifft, lernt er die Tochter von Jack Lennox, dem Eigentümer der Bohrinsel, kennen. Die mit dem Drogisten Tom Russo verheiratete Laurel macht einen verwirrten Eindruck auf ihn. Und dennoch wird er von der Schönheit der jungen Frau magisch angezogen und findet sich plötzlich inmitten einer Familie wieder, die mehr vom großen Geld als von großen Gefühlen zusammengehalten wird. Bald darauf erhält er einen Auftrag, der ihn immer tiefer in die Geheimnisse des Lennox-Clans hineinzieht. Einen Job, den er nicht ablehnen kann. Denn Laurel Russo ist nicht nur – kurz nachdem sie Archer kennengelernt hatte –, verschwunden, sie hat auch noch ein Röhrchen hochgefährlicher Schlaftabletten aus der Wohnung des Detektivs mitgehen lassen.

Im vorletzten Roman um seinen Serienhelden Lew Archer, der in eine Reihe gehört mit Hard-boiled-Detektiven à la Mike Hammer (Mickey Spillane), Philip Marlowe (Raymond Chandler) und Sam Spade (Dashiell Hammett), sich durch ehrliches Mitgefühl mit den vom Leben Benachteiligten und sein ausgeprägtes psychologisches Gespür aber auch deutlich von ihnen allen unterscheidet, zieht Ross McDonald noch einmal sämtliche Register. Schnell wird klar, dass es sich im Fall der verschwundenen Laurel Russo keineswegs um eine Entführung handelt, sondern dass die Wurzeln des Unheils, das die Familie in der Gegenwart heimsucht, tief in der Vergangenheit zu finden sind. Und wie an einem Seil, das tief hinabhängt in den dunklen Schacht der Vorgeschichte, hangelt sich Archer von Gespräch zu Gespräch der Wahrheit entgegen.

Das Ganze kommt erstaunlich (für manchen Leser vielleicht sogar zu) actionfrei daher: Insgesamt fallen auf den knapp 400 Seiten 2 Schüsse – keinen davon gibt Macdonalds Held ab –, Fäuste werden nur andeutungsweise geschwungen, Verfolgungsjagden finden keine statt und von zwei brutalen Morden erfährt man erst im Nachhinein. Wer daraus auf Spannungsarmut schlösse, würde freilich sowohl die inneren Gesetze der Romanwelt von Ross Macdonald als auch den Charakter seines Helden verfehlen.

Am Ende findet Archer jedenfalls nicht nur die verlorengegangene junge Dame wieder, sondern deckt auch das Motiv für die verschiedenen Gewalttaten auf, die im Zusammenhang mit Laurel Russos Verschwinden stehen. Und auch wenn der Weg zur Lösung des Falls hier und da ein wenig arg labyrinthisch erscheinen mag und man bei den vielen Hausbesuchen, die Archer zu machen hat, gelegentlich die Übersicht zu verlieren droht, so bietet Ross Macdonald auf den letzten Seiten noch einmal alles auf, um seine Leser zu überraschen.

Das Nachwort von Donna Leon hingegen bringt kaum neue Erkenntnisse. Die Dame, deren Romane im selben Verlag wie Macdonalds Klassiker erscheinen, soll aber wohl ohnehin nur dafür sorgen, dass die Thrillerklientel von heute einen frischen Zugang zu Texten findet, die ein wenig Patina angesetzt haben. Wirklich notwendig ist ihre Laudatio nicht. Aufmerksame Leser werden ziemlich schnell feststellen, dass Ross Macdonald auch uns Menschen des 21. Jahrhunderts noch ziemlich viel zu sagen hat. Denn Öl- und Umweltkatastrophen gehören nach wie vor nicht der Vergangenheit an und obwohl die Dinge zwischen den Geschlechtern im ‚zivilisierten Teil der Welt‘ inzwischen wesentlich entspannter laufen – das Geld ist viel zu häufig noch der Leim, der aneinander kittet, was längst getrennt sein sollte.      

Titelbild

Ross Macdonald: Dornröschen. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Karsten Singelmann.
Diogenes Verlag, Zürich 2015.
389 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783257300338

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