Im Text verschüttet

„Ein anderes Blau“: Benjamin Steins poetologische Grenzübergänge

Von Friederike SchruhlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Schruhl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

München 1995: Während der Bauarbeiten an einer neuen U-Bahnlinie kommt es am Bahnhof Trudering zu einem schweren Busunglück. Nach einem Wassereinbruch bildet sich ein Hohlraum unter der Bushaltestelle, die sich direkt neben dem Bahnhof befindet. Drei Busse halten. Zwei fahren noch rechtzeitig davon, ein Bus stürzt in die Tiefe. 36 Leute können sich retten, für drei Personen kommt jede Hilfe zu spät; sie bleiben verschüttet. Da der eingebrochene Bus die Gefahrenstelle stabilisiert und die umstehenden Häuser vor dem Einsturz bewahrt, kommen die Bergungsarbeiten nur langsam voran. Die drei Leichen können erst acht Monate nach dem Unglück geborgen werden.

Dieses reale Ereignis ist der Ausgangspunkt für Benjamin Steins Roman Ein anderes Blau. Wenige Monate nach dem Unfall, während die Bagger versuchen, die Trümmer beiseite zu schaffen und die Bergungsarbeiter nach den Verschütteten suchen, zieht der Autor von Berlin nach München. Gerade wurde sein Romandebüt Das Alphabet des Juda Liva veröffentlicht, da beschließt er eine Stelle als Redakteur bei einer Computerzeitschrift in Vaterstetten bei München anzunehmen. Jeden Morgen fährt Stein von Trudering mit der S-Bahn zu seiner Arbeitsstelle nach Vaterstetten und abends wieder zurück. Täglich geht er an dem Unglücksort vorbei. Im Nachwort der 2015 im Verbrecher Verlag erschienenen, komplett überarbeiteten Neuauflage von Ein anderes Blau (2008)beschreibt Benjamin Stein seine Beobachtungen am Unglückort als wichtigen Bezugspunkt für sein „poetische[s] Denken“: „Waren die Verunglückten, solange sie nicht geborgen und beerdigt waren, wirklich tot? Das fragte ich mich. Und wenn sie zwar nicht mehr lebten, aber doch auch noch nicht tot waren, wo befanden sie sich dann? In einem Zwischenreich? Waren sie sich ihres Zustandes bewusst?“

In Steins Text werden fünf Personen vorgestellt, die in Verbindung mit dem Unglück stehen: Richard und Nadia sind die Verschütteten. Daniel und Nina wohnen in der unmittelbaren Umgebung des Bahnhofs in Trudering. Eva ist die Lebensgefährtin von Richard. Ihre „Stimmen“ fungieren als Erzähl- und Wahrnehmungsinstanzen des Textes. Abwechselnd berichten sie im inneren Monolog von ihren jeweiligen Perspektiven auf das Unglück. Der Autor selbst nennt es „Poetik der polyphonen Ich-Erzählung“. Dabei handelt es sich um eine Prosa, die an der „Grenze zur Lyrik“ liegt. Die Zuordnung seines Textes zur „Lyrik“ begründet der Autor damit, dass dieser „keineswegs von Anfang bis Ende gelesen werden“ müsse, sondern dass die einzelnen Monologe auch für sich stehen könnten: „Einen Roman wollte ich diesen Text nicht nennen, auch nicht Erzählung. […] Ich sehe ihn eher als einen Lyrik-Band, den man immer wieder an einer beliebigen Stelle aufschlagen kann, um ein paar Seiten zu lesen.“

Allerdings finden sich im Text nur wenige Indizien, die für eine Zuordnung zur Lyrik sprechen. Es gibt keine gravierenden Abweichungen von der Alltagssprache, keine graphischen Auffälligkeiten, keine Semantisierung der syntaktischen Ebene. Der Text besitzt vielmehr postdramatisches Potenzial: Ein anderes Blau ist durch die Auftritte der unterschiedlichen Figuren strukturiert, die zwar selten direkt miteinander kommunizieren, aber doch in Verbindung zueinander stehen. Vor allem die Monologe zwischen den Verschütteten Nadia und Richard geben Auskunft über die gemeinsame Erfahrung des Verschüttetseins. Sie begegnen sich in einem Zwischenreich zwischen Leben und Tod. Ihre Körper sind begraben von den Trümmern der Bushaltstelle, doch ihre „Stimmen“ finden zueinander.

Richard tritt als erster auf: „Ich weiß nicht, wie wir hierhergekommen sind. […] Erst glaube ich, man hätte uns einbetoniert. Aber dann merkte ich, dass ich mich bewegen konnte, und auch das Mädchen bewegte sich in seinem Glockenmantel. Es schien sogar, als würde es tanzen. Das machte mich glücklich.“ Dann bemerkt Richard Blut an Nadias Mund und erkennt, dass auch sein „Herz seit Stunden nicht mehr geschlagen hat“. Nadia wehrt sich gegen das Sterben und entgegnet Richard: „Du kannst das gern Blut nennen, was mir vom Kinn tropft. Es schmeckt bitter wie Liebe und macht mich trunken, denn ich lebe.“ Doch am Ende des Textes werden sie beide sterben: „Was wir zurücklassen, ist nicht mehr als ein Gewirr von Stimmen und eine große Unsicherheit, ein paar unerklärliche Ereignisse und einige Notizen in der Zeitung.“ Vielleicht könnte eine szenische Aufführung diesem besonderen Text zu mehr Beachtung verhelfen.

Titelbild

Benjamin Stein: Ein anderes Blau. Prosa für 7 Stimmen.
Verbrecher Verlag, Berlin 2015.
107 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783957320827

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