Traum und Kunst – Traum als Kunst

Zu einer ästhetischen ‚Beziehungsgeschichte‘ in Literatur, Film und bildender Kunst

Von Bastian ReinertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bastian Reinert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch,
daß er sein ganzes werktägiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.“
(Heiner Müller)

Die von Stefanie Kreuzer vorgelegte Studie zum Verhältnis von „Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst“, die eine überarbeitete Fassung ihrer 2012 eingereichten Habilitationsschrift darstellt, ist eigentlich vier Bücher in einem: Auf das erste ‚Buch‘, einem umfangreichen, theoretisch beeindruckend fundierten und materialgesättigten Kapitel zur wissenschaftlichen Traumtheorie und künstlerischen Traumdarstellung, folgen drei weitere Großkapitel in Buchumfang, die mit einer klaren typologischen Ausrichtung fiktionale Traumdarstellungen transmedial – also erstens literarisch, zweitens filmisch und drittens bildkünstlerisch – perspektivieren. Tatsächlich lädt die Anlage der Arbeit, wie die Autorin selbst betont, dazu ein, die einzelnen Teile unabhängig voneinander zu lesen, denn nicht nur steht der einleitende Theorieteil auf ganz eigenen Füßen, auch die Analysekapitel mit ihren Einzelstudien stellen wunderbar gelungene und in sich abgeschlossene Interpretationen dar, die auch ohne Kenntnis des gesamten Bandes mit viel Gewinn zur Lektüre empfohlen seien.

Der erste Teil der Arbeit also, der theoretisch-methodische, bietet eine in dieser Form ganz neue Typologie des Traumhaften in künstlerischen Darstellungen und ist damit zugleich eine literatur-, kunst-, kultur- und philosophiegeschichtliche Einführung zur Relation von Traum und Kunst überhaupt. Dass der Fokus dabei von Traumhaftem auf Traumaffines ausgeweitet wird (also auch Tagträume, Visionen, Halluzinationen und Phantasmen berücksichtigt werden), deutet die Materialfülle des Analyseteils bereits ebenso an, wie der breit gesteckte Theorierahmen, der die neurophysiologische und experimentell-psychologische Traumforschung genauso berücksichtigt wie philosophische und narratologische Wirklichkeitskonzeptionen. Damit unterscheidet sich Kreuzers Studie sowohl von Hans Ulrich Recks Traum (2010), einer gewichtigen Enzyklopädie zur Kulturgeschichte des Traums in vornehmlich ethnologischer und anthropologischer Perspektive, als auch von Hans-Walter Schmidt-Hannisas Untersuchung zu Traumaufzeichnungen und Traumtheorie in Pietismus, Aufklärung und Romantik (2000), die in der deutschsprachigen Forschung zum Gegenstand beide maßgeblich sind. Beiden ‚Vorkämpfern‘ erweist die Autorin für wichtige Anregungen zu ästhetischen wie medientheoretischen Fragestellungen mehrfach Referenz und schreibt den dort bereits begründeten Ansatz von der Interdisziplinarität des Traums in ihrer eigenen Untersuchung konsequent fort.

Das Phänomen des Träumens hat als eine jener grundlegenden anthropologischen Konstanten der Menschheitsgeschichte im Laufe der Zeit zu einem ziemlich disparaten Traumverständnis der unterschiedlichen Disziplinen geführt. Es ist das große Verdienst Kreuzers, dass sie diese vielen unterschiedlichen Bewertungen des Traumes nicht nur detail- und kenntnisreich vermittelt, sondern in den Einzeluntersuchungen immer wieder produktiv miteinander verknüpft und so ihre LeserInnen teilhaben lässt an den Freuden ihres eigenen Erkenntnisgewinns. Anders als der Traumdeutung Freudscher Prägung geht es Kreuzer nicht um das Aufdecken eines verborgenen Sinns in den Traumerzählungen (wie schon der frühen religiösen und mythischen Tradition, die im Traum ein Offenbarungsmoment sah), sondern um die Paralogik des Traums: um die Ergründung von Kreativität, eben um das Verhältnis von Traumwelten und Phantasiewelten und deren sprachliche beziehungsweise künstlerische Gestaltung. Zwar ist Träumen eine unwillkürliche und (bis auf Weiteres noch) unbeeinflussbare Bewusstseinstätigkeit, doch ihre Mitteilung ist umso stärker angewiesen auf einen Transformationsprozess, der die Rekapitulation des Traums als Erinnerungsarbeit erkennen lässt: Das Traumprotokoll bleibt damit stets Gedächtnisprotokoll und die Traummitteilung eine „nachträgliche Aneignung des Flüchtigen“. Um genau diese Aneignung, Annäherung, Versprachlichung, Übersetzung oder Transformation und deren inhärente Logik einer zwei Jahrtausende währenden Überlieferungsgeschichte des Traumes geht es der Autorin.

In einem kurzen Abriss wird diese Kulturgeschichte des Verhältnisses von Traum und Kunst zunächst mit Siebenmeilenstiefeln durchschritten, um dann in einem Dutzend Einzelkapiteln anhand von knapp 30 Beispielen aus Literatur, bildender Kunst und Film näher beleuchtet zu werden. Während Platon beispielsweise im Timaios noch davon ausgeht, dass Träume von Göttern geschickt werden, legt sein Schüler Aristoteles erste traumtheoretische, seinem Lehrer widersprechende Texte vor, in denen er bereits hervorhebt, dass der Traum eine notwendige Form der Regeneration erfülle, und liefert damit im Grunde schon die Ansätze des Traumverständnisses moderner, physiologischer Erklärungsversuche des Träumens, die neben der Konsolidierung von Gedächtnisinhalten den neurophysiologisch begründeten emotionalen Ausgleichseffekt des Träumens in den Vordergrund rücken. So ist gewissermaßen bereits mit Platon und Aristoteles die gesamte Bandbreite der unterschiedlichsten Auffassungen von der Funktion der Träume angedeutet – mit der Einschränkung freilich, dass der eigentliche Gegenstand der Studie, nämlich der Zusammenhang von Traumtätigkeit und künstlerischer Tätigkeit, erst mit Beginn der Neuzeit herausgestellt wurde. So bringt Albrecht Dürer als erster deutscher Künstler den Traum in einen direkten Zusammenhang mit seiner künstlerischen Kreativität und begründet damit zugleich den Topos von der Flüchtigkeit der Traumphantasie.

Im 18. Jahrhundert findet dann wiederum ein „Paradigmenwechsel“ (Schmidt-Hannisa) statt, der die individuelle Einbildungskraft des Träumenden betont, aber auch das Irrationale des Traumes zurückweist als kognitionsfeindliche Bedrohung, ja gar als Gefahr für die Vernunft überhaupt. Dennoch erkennt schon Immanuel Kant trotz aller Skepsis gegenüber dem Traum, die sich in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) findet, das Träumen als „unwillkürliche Dichtung“ an. Jean Paul wird dies aufgreifen und mit seiner Einschätzung, der Traum sei – verknappt gesprochen – der „ächte Dichter“, schließlich eine positive Neubewertung des Träumens in Gang setzen, die der Anerkennung der ästhetischen Qualität des Traumes von der Romantik bis in die Moderne den Weg ebnet. So hat die Traumbegeisterung der Romantik gleichsam den Grundstein gelegt für alle modernen Perspektiven auf den Traum. Schon Friedrich Schlegel hat – analog zur Willkürlichkeit des Traums – die „Willkür des Dichters“ proklamiert und sein Bruder August Wilhelm Schlegel ist zu der Einsicht gelangt, Dichtung sei im Wesentlichen „ein freiwilliges und waches Träumen“. Der Traum wurde so zu einer Alternativwelt und damit wiederum zu einem der bedeutendsten Topoi der romantischen Literatur überhaupt: bei den Brentanos ebenso wie bei den Grimms, bei Novalis, Joseph von Eichendorff und Ludwig Tieck und dann schließlich ganz prominent bei E. T. A. Hoffmann. Das Dichten folge, so bereits Jean Paul, keinem Regelwerk mehr, sondern ist dem Traum abgeschaut und abgehört – und damit so etwas wie eine Vision oder ein Tagtraum. Ganz so wie es Sigmund Freud später in seinem berühmten Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren (1908) ausführen wird, nachdem schon Friedrich Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie (1872) betont hatte, der Traum sei geradezu „Voraussetzung aller bildender Kunst, ja auch […] einer wichtigen Hälfte der Poesie“. Nicht von ungefähr spricht André Breton von der „Allmacht des Traums“ und sieht Jorge Luis Borges nicht erst die ästhetische Gestaltung (also die literarische, filmische Mitteilung) des Traums, sondern den Traum selbst als Kunst: als eine „komplexe literarische Gattung“.

Insgesamt wird diese hochkomplexe und vielschichtige Tradition traumhaften und traumaffinen Erzählens durch eine so simple wie einleuchtende Differenzierung Kreuzers überhaupt erst zugänglich: die Rede ist von der Analysekategorie ‚Traummarkierung‘. Diese wird durch eine dreigeteilte Typologie unterschieden in 1.) eindeutiges, 2.) unsicheres und 3.) mögliches Traumgeschehen. Zudem wird diese systematische Typologie-Trias jeweils nochmals dreigeteilt im Vergleich bildkünstlerischer, literarischer sowie filmischer Traumdarstellungen. Erst so kann man auch trotz des beinahe unüberschaubar scheinenden Materials nicht nur die Orientierung bewahren, sondern entsteht nach und nach mithilfe der chronologischen Anordnung der einzelnen Abschnitte ein genaueres Bild der jeweiligen Analysekategorie beziehungsweise ihrer besonderen Spezifik. Im Kapitel der erzählten Träume werden so unter anderem Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun (1819), Franz Kafkas Ein Traum (1917), Arthur Schnitzlers Traumnovelle (1925) und Ilse Aichingers Mondgeschichte (1952) miteinander verglichen; in der Kategorie des unsicheren Traumgeschehens, das irgendwo zwischen Träumen und Wachen angesiedelt ist, stehen Tiecks Der blonde Eckbert (1797), Kafkas Die Verwandlung (1915) und Aichingers Der Gefesselte (1951) im Dialog miteinander. Die bloß traumhaft strukturierten erzählten Welten werden anhand von Georg Büchners Leonce und Lena (1838), Ingeborg Bachmanns Ein Geschäft mit Träumen (1952), Hugo von Hofmannsthals Reitergeschichte (1899) und Aichingers Wo ich wohne (1955) analysiert.

Derselben Dreiteilung folgen auch die filmischen Analysen von Michel Gondrys Eternal Sunshine of the Spotless Mind (2004), Terry Gilliams Brazil (1985), Ingmar Bergmans Persona (1966), David Lynchs Mulholland Drive (2001) und Luis Buñuels Un chien andalou (1929) sowie in der bildenden Kunst Francisco de Goyas kleine, aber berühmte Radierung Der Schlaf der Vernunft erzeugt Ungeheuer (1797/98), Giovanni Battista Piranesis Zyklus von sechzehn Radierungen, die Erfundenen Kerker (1761), und schließlich Hieronymus Boschs Triptychon Die Versuchung des heiligen Antonius (um 1501).

Abschließend lässt sich – in etwas bemühter Abwandlung der eingangs zitierten Sentenz Heiner Müllers – nur noch sagen: das Problem der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist doch, dass sie ihr ganzes Leben versuchen, auf das akademische Niveau ihrer Träume zu kommen. Stefanie Kreuzer ist das mit dieser Studie, der man viele Leserinnen und Leser wünscht, ohne jeden Zweifel gelungen.

Titelbild

Stefanie Kreuzer: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
770 Seiten, 89,00 EUR.
ISBN-13: 9783770556731

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