Bildnis der Mutter als junge Frau
Werner Rohners einfühlsames Romandebüt „Das Ende der Schonzeit“ liegt nun als Taschenbuch vor
Von Julian Ingelmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLuisa erwartet vom Leben nicht besonders viel: „Wenn ich noch zehn Jahre weiterrauchen kann, bin ich zufrieden.“ Ihr Wunsch bleibt unerfüllt, denn im Alter von 49 Jahren stirbt sie an Krebs. Sie hinterlässt eine überforderte Schwester und ihren verzweifelten Sohn Joris. Dieser kehrt zehn Jahre nach dem Tod seiner Mutter nach Zürich zurück. Seine Heimatstadt konfrontiert ihn mit Erinnerungen an unerfüllte Versprechen und verflossene Liebschaften, aber auch mit aktuellen Familienproblemen: Eines Tages entdeckt er in einer Zeitung ein Foto, auf dem er seinen verschollenen Vater David zu erkennen glaubt. Joris macht den Mann ausfindig und nimmt Kontakt mit ihm auf, doch die Kommunikation gestaltet sich schwierig. David entpuppt sich als linksradikaler Welterklärer, der die Devise „Alles ist politisch“ zwar noch im Rentenalter auf den Lippen trägt, im Privatleben jedoch vor allem durch Unzuverlässigkeit auffällt. Wo Joris eine Bezugsperson sucht, findet er nur einen Schwätzer. Dennoch freunden sich die beiden Männer an, wodurch Joris auch seiner Mutter näherkommt: Er begreift, dass Luisa schon vor seiner Geburt als eigenständige Person existierte, dass sie eigene Überzeugungen und eigene Träume hatte – und dass sie im politischen Untergrund aktiv war.
Diesen Erkenntnisprozess zeichnet Werner Rohner in Das Ende der Schonzeit eindrucksvoll nach. Das Romandebüt des Schweizer Schriftstellers, der zuvor Dramen und Erzählungen veröffentlichte, erschien ursprünglich im Oktober 2014. Die Literaturkritik lobte es überschwänglich, die Preisgremien bedachten es mit zahlreichen Nominierungen und Auszeichnungen. Die Stadt Zürich sprach Rohner für den Roman eines ihrer hochdotierten „Werkjahre“ zu. Nun liegt Das Ende der Schonzeit als Taschenbuch vor und kann noch immer begeistern – zumindest diejenigen Leser, die im komplexen Erinnerungsstrom den Überblick behalten.
Das ist zunächst gar nicht so einfach, denn der Roman beginnt chaotisch. Auf den ersten Seiten springt Rohner zwischen den Vergangenheiten seines Erzählers hin und her: Er berichtet von Begebenheiten in Wien, Berlin und Zürich, präsentiert Joris mal als Kind, mal als Erwachsenen und wechselt unvermittelt zwischen Gedankensplittern aus Schulzeit, Studium und Berufsleben. Zwar offenbart der Autor so schon früh die verschiedenen Facetten seines Protagonisten, doch folgen die einzelnen Episoden keinem erkennbaren roten Faden. Der Anfang des Romans wirkt daher vor allem fahrig und unkonzentriert.
Erst allmählich kann der Leser aus den einzelnen Steinchen ein Erinnerungsmosaik zusammensetzen. Nach und nach lässt sich das Erzählte in eine Ordnung bringen: Die Chronologie der Ereignisse wird ebenso klar wie die Beziehungen der Figuren untereinander. Im Verlauf des Romans drosselt Rohner sein Erzähltempo und nimmt sich zunehmend Zeit für die einzelnen Szenen, was ihm erlaubt, die Stärken seiner Erzählkunst auszuspielen. Das zeigt sich etwa in den sparsam eingesetzten Dialogen zwischen Mutter und Sohn. Die fallen zwar in der Regel wortkarg aus, sind aber dennoch vielsagend. Auch die Figuren gewinnen im Verlauf des Romans an Tiefe, wie sich besonders am Protagonisten erkennen lässt. Der Leser lernt Joris als trauernden Sohn, als liebenden Partner und als besorgten Cousin kennen. So lässt sich auch Joris’ Verzweiflung gut nachvollziehen: Immer wieder hinterfragt er sein eigenes Verhalten, immer wieder versucht er, die Handlungen seiner Mitmenschen zu verstehen – und doch scheitert er bei der Interpretation der Welt.
Besonderes Lob gebührt Rohner für seine Darstellung der Krebserkrankung, die als Dreh- und Angelpunkt des Romans fungiert. Er fokussiert nicht auf das Leid seiner Figur und verzichtet darauf, sich an ihren Qualen zu weiden. Der Autor schreibt keine Betroffenheitsliteratur. Er reiht auch nicht Krankenakte an Krankenakte, um Luisas Leidensgeschichte zu erzählen, sondern erkundet, wie die Diagnose das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn beeinflusst. Rohner beweist ein feines Gespür dafür, wie der Krebs alles ändert – und wie doch irgendwie alles beim Alten bleibt.
Ähnlich einfühlsam beschreibt er die Partnerschaft zwischen Joris und seiner Freundin Rebekka. In nur wenigen Sätzen zeigt Rohner, wie eine Leidenschaft aufflammt, eine Beziehung alltäglich wird und eine Liebe einschläft. Hier beweist der Autor sowohl seine große Menschenkenntnis als auch sein Talent dafür, Beobachtungen in wohlgewählte Worte zu fassen. Ohnehin überzeugt die Sprache dieses Romans: Das ausbalancierte Verhältnis von langen Nebensatzreihen und Parataxen sorgt für einen ganz eigenen Rhythmus, der Ton ist gleichermaßen ausgefeilt wie alltagsnah. Rohners Sprache ermutigt dazu, den sperrigen Einstieg zu überwinden und verleitet zu einem positiven Fazit: Das Ende der Schonzeit ist ein Buch, auf das sich der Leser einlassen muss, das aber vor allem Lust auf mehr macht.