Die Unbehausten
In Tommy Wieringas internationalem Bestseller „Dies sind die Namen“ geht es um Flucht, Exil, Menschlichkeit und einen neuen Sinn
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweisePontus Beg, dem 53 Jahre alten Polizeikommissar in der 39.000-Seelen-Stadt Michailopol irgendwo östlich der Karpaten – einem „massigen Mann mit ergrauendem Haar auf Brust und Schultern“ und zwei Füßen, von denen der eine immer kalt, der andere hingegen warm ist –, fehlt es eigentlich an nichts. Job und Wohnung sind ihm sicher, für seine sexuelle Zufriedenheit sorgt Pontus’ Haushälterin Sita, beim Bürgermeister des Städtchens, dem korrupten Semjon Blok, hat er einen Stein im Brett. Woher also die Unruhe, die ihn umtreibt, das Gefühl, tief in seinem Inneren ein anderer zu sein als der, den er für seine Mitmenschen darstellt? Doch eines Tages stößt er auf ein Lied aus seiner Kindheit. Die Mutter hat es ihm immer wieder vorgesungen, dann hat er es für eine Weile vergessen. Nun ist es wieder da. Fremde und doch seltsam vertraute Worte, die sich als zu einem jüdischen Schlaflied gehörig erweisen.
Tommy Wieringa (geboren 1967), der für Dies sind die Namen 2013 mit dem renommierten niederländischen Libris-Literaturpreis für den besten fiktionalen niederländischsprachigen Roman des abgelaufenen Kalenderjahres ausgezeichnet wurde, veröffentlichte sein erstes Buch mit 28 Jahren. Weitere Romane, Erzählungen, Reisebücher und Hörspiele folgten. Als Journalist arbeitete er, der heute zu den bekanntesten Autoren in seiner Heimat zählt, für namhafte Tageszeitungen und Journale. Seit 2009 erscheinen seine Werke auch auf Deutsch, übersetzt von Bettina Bach, die 2014 für die Übersetzung eines Textes von Arjan Visser mit dem Else Otten Übersetzerpreis der Niederländischen Stiftung für Literatur und des Flämischen Fonds für Literatur geehrt wurde.
Mit Dies sind die Namen greift Wieringa das Problem auf, welches Europa im Moment am heftigsten umtreibt. Indem er seine Geschichte von der inneren Unbehaustheit des Polizisten Pontus Beg verflicht mit dem tragischen Schicksal einer kleinen Gruppe von Menschen auf der Flucht, denen sich Beg eines Tages gegenübersieht, macht er seinen Lesern bewusst, dass in einer globalisierten Welt niemand mehr an keinem Ort ein exklusives Daseinsrecht nur für sich allein durchzusetzen vermag. Der fiktive Schauplatz irgendwo im postsowjetischen Osteuropa, an dem fünf ausgezehrte Flüchtlinge und ein für sie verantwortlicher Beamter, der gerade dabei ist, sich in seine wahre Identität einzuleben, aufeinandertreffen, könnte deshalb überall sein. Denn von beiden Seiten, denen, die hier seit jeher leben, und denen, die die Not aus ihren Heimatorten weg und auf fremden Boden getrieben hat, ist Veränderung, nicht Abgrenzung gefordert.
Im ständigen Wechsel mit den Kapiteln, in denen Tommy Wieringa Pontus Beg seiner jüdischen Herkunft gewahr werden und ihn unter Anleitung des letzten Juden von Michailopol, eines alten Rabbiners, die Gebräuche seiner Vorfahren langsam für sich entdecken lässt, verfolgt der Roman den Weg der Flüchtlingsgruppe, die am Anfang aus dreizehn Personen besteht, von denen in Begs Stadt aber nur noch fünf – drei Männer, eine hochschwangere Frau und ein Junge – ankommen. Von gewissenlosen Schleppern um ihr Geld gebracht und irgendwo im Niemandsland, noch weit weg von der ersehnten Grenze, ausgesetzt, irren die halb verhungerten, unterschiedlichen Nationalitäten angehörenden und durch die Not zusammengezwungenen Flüchtlinge monatelang durch unwirtliche Landschaften. Es fehlt ihnen an allem. Und je länger der Exodus dauert, desto mehr schwindet auch die Solidarität unter den Flüchtenden und es brechen Konflikte auf. Die Stärkeren überleben auf Kosten jener, denen die Kräfte ausgehen. Bleibt einer tot am Weg liegen, teilen sich die Übrigen, was er noch an Verwertbarem am Leib trägt.
Als das kleine, verzweifelte Häufchen schließlich Michailopol erreicht und sich jenseits der ersehnten Grenze wähnt, schlägt ihm keine Sympathie entgegen, sondern Misstrauen und Unverständnis bestimmen den Umgang mit den Fremden. Was tun mit den ausgezehrten Gestalten? Wohin sie zurückschicken? Und wie sich und seine Habe schützen, wenn die fünf nur die Vorhut einer Menschenflut darstellen, die für sich einen neuen Anfang sucht? In dem Ort, in dem Korruption und Gewalt herrschen, landen die Flüchtlinge deshalb erst einmal im Gefängnis. Weder können sie sich ausweisen noch verständlich machen, ihr heruntergekommener Zustand ist furchterregend und als man bei einem von ihnen den abgeschnittenen Kopf eines Schwarzen findet und an diesem Spuren von Gewalteinwirkung, wird sogar eine Untersuchung des hier offenkundig vorliegenden Verbrechens eingeleitet.
Allein Pontus Beg erkennt, dass sich in der Odyssee der fünf in Michailopol Gestrandeten sein eigenes Schicksal spiegelt und dass sich hier etwas wiederholt, das auf den Anfang der Geschichte des Volkes, dem anzugehören ihm Schritt für Schritt mehr Kraft und Zuversicht verleiht, verweist. Die Flucht der Juden aus Ägypten und der gegenwärtige Exodus der von Hunger und Gewalt Bedrohten aus ihren Heimatländern – sind das nicht zwei Seiten ein und derselben Medaille? Und was sind die Flüchtigen, über die zu richten er sich nicht anmaßen will, denn anderes als „eine Gruppe Menschen, die in gewissser Weise die Reise der Wüstengeneration neu erlebt habe, mit nichts als dem leeren Himmel über sich. Heute seien sie auf der Flucht vor Armut und Unterdrückung, die Wüstengeneration sei vor der Sklaverei in Ägypten geflohen.“
Dies sind die Namen ist ein Roman, der das Flüchtlingsdrama unserer Tage in neue gedankliche Zusammenhänge einordnet. Er macht die geistige Unbehaustheit seiner Hauptfigur, des Polizeikommissars Pontus Beg, zum Pendant der weltlichen Unbehaustheit einer Gruppe vor Not und existentieller Bedrohung über die Erde Flüchtenden. Beide – die sich auf der Flucht Befindenden und die, bei denen sie um Asyl bitten – sind deshalb gar nicht so verschieden. Sowohl die einen als auch die anderen sind auf der Suche nach etwas, das ihrem Leben einen neuen Sinn verleihen könnte. Beg entdeckt dieses Etwas im Glauben – und versucht das Gefundene am Ende des Romans an den Jüngsten der Flüchtlinge, dessen er sich angenommen hat, weiterzugeben.
|
||