Hitler - keine Biographie
Eine Geschichte der Geschichtsschreibung von John Lukacs
Von Bernd Christmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDass sein Buch von 1997 "Hitler - Geschichte und Geschichtsschreibung" keine Biographie sein soll, wird Lukacs nicht müde zu betonen. Vielmehr soll es eine Geschichte der Geschichte der Geschichtsschreibung und vor allem der Biographien über Hitler sein. Eine Beschreibung, die auf den ersten Blick abschreckt, sind doch allein mehr als 100 Biographien über Hitler veröffentlicht worden, von allen anderen Werken ganz zu schweigen.
Dies alles in einem Buch von knapp 300 Seiten zu erfassen scheint nicht nur utopisch. Im Endeffekt ist der Titel des Buches auch - glücklicherweise - nicht ganz zutreffend.
Lukacs hat sich auf eine wohlbegründete Auswahl von Autoren beschränkt, deren Darstellungen entweder als besonders gelungen oder besonders mangelhaft erachtet werden oder die in ihrer Einstellung zu Hitlers Stellung in der Geschichte exemplarisch sind. Denn eben dies ist der eigentliche Zweck dieses ganz außergewöhnlichen Buches: Hitler einen Platz in der Geschichte zuzuweisen. Und hier beschränkt sich Lukacs nicht nur aufs bloße Zitieren und Wiederkäuen von anderen Autoren, sondern lässt eine Fülle eigener Ansichten einfließen. Und es gelingt ihm, in wenigen, knappen und klaren Sätzen, teilweise völlig überraschende Aspekte aufzudecken.
So deckt er Unterschiede zwischen Hitlers Herrschaftsprinzip und anderen autoritären Regimen auf, die in der Masse der Literatur über totalitäre Staaten völlig undifferenziert behandelt werden. So scheut er sich nicht zu behaupten, dass Hitler im eigentlichen Sinne gar kein Diktator gewesen sei und sich auch selbst nicht als solcher gesehen habe.
Sehr eloquent und überzeugend arbeitet er hochmoderne Strukturen des Nationalsozialsmus heraus und entlarvt ihn als eine Demokratie im negativsten Wortsinn: Eine Diktaur der Mehrheit. So relativiert er auch sein doch sehr deutliches Bekenntnis zum Hitlerismus. Die stilistische Begabung des Autors ist auf jeden Fall eine der ganz großen Stärken dieses Buchs. Keine unüberschaubaren Sätze, keine übertrieben wissenschaftliche Sprache und deutliche Hervorhebung wesentlicher Passagen. Dazu noch ein sehr guter, leider umständlich notierter Anmerkungsapparat.
Ebenfalls lobenswert ist die sehr sinnvolle Kapiteleinteilung, die allerdings auch beim Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses schon erste Fragen aufwirft. Wie kann es sein, dass das Kapitel "Hitler und die Juden" lediglich 14 Seiten einnimmt, da es doch gerade innerhalb eines solchen Werkes eine zentrale Stellung haben sollte. So verwundert es auch nicht, dass sich dieses Kapitel beim Lesen als der insgesamt schwächste und uninformativste Buchabschnitt entpuppt.
Auch der späte Erscheinungstermin dieses Buches auf dem deutschen Markt macht sich schmerzlich bemerkbar, da aktuellere Veröffentlichungen wie Kershaws neue Biographie oder auch das kontroverse Werk Goldhagens nicht berücksichtigt werden können. So ist dieses überaus lesenswerte Buch traurigerweise mit dem Makel des Zuspätkommens behaftet. Davon abgesehen ist es jedoch, für einen Großteil der Forschung, ein absolutes Standardwerk.