Der gärende Most der Wahrheit
Ein neues erzählerisches Wunderwerk von Jörg Steiner
Von Rolf-Bernhard Essig
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren..." Das Einfache an der Bibel ist, dass sie alle Taten und Untaten motiviert: Der HErr beendet die Bruderliebe der Adamskinder, denn er sieht Kains Opfer nicht gnädig an und demütigt Kain vor seinem Bruder. Was Wunder, dass Neid in Wut und Wut in Mord mündet!
Komplizierter, undurchsichtiger verläuft das wirkliche Leben. Die Demütigungen treffen auch hier, die Wut regt sich, es wird gemordet, aber warum? Wann entsteht Hass, und was lässt ihn schließlich siegen über die Liebe? Wenige Menschen können so ineinander verbissen sein, so unrettbar verstrickt in die Existenz des anderen wie Geschwister. Die Literatur, das Märchen, der Mythos, sie kämen kaum aus ohne das unerhörte Spannungsverhältnis von Menschen, die ein Fleisch und doch einander feind und fremd und verhängnisvoll verbunden sind. Eteokles und Polyneikes, die Brüder Karamasow, Wolf und Todd Larsen. Nicht notwendig steht am Ende der Brudermord, immer aber eine große Tragik.
Im Alltag der Schweiz schildert Jörg Steiner solch ein Brüder-Geschick in seinem Prosastück "Wer tanzt schon zu Musik von Schostakowitsch". Niklaus Eisinger liebt ohne jeden Zweifel seinen zwei Jahre älteren Bruder Gottfried. Er verliert sich sogar häufig in ausufernden Rettungsphantasien: Dass seine hochherzige Organspende Gottfrieds Leben bewahren könne, dass er sein reiches Erbe dazu verwendete, ein brüderliches Leben in Harmonie und Abgeschiedenheit zu schaffen: "Nur wir beide, du und ich, wir fangen ganz neu an".
Der drängende Alleinanspruch auf Gottfried und die Sprache der Liebespaare verrät, dass die Gefühle von Niklaus eine gefährliche Intensität besitzen, und der Wunsch nach dem Neuanfang offenbart, wie sehr er unter dem bisherigen Verhältnis leidet. Schon als Kind drischt Niklaus Gottfried eine Crocket-Kugel an den Kopf, die den Bruder halb erblinden lässt. Er verpasst ihm den lächerlichen Spitznamen "Goody", der an ihm haften wird bis zu seinem plötzlichen Verschwinden. Er sägt vor der Apfelernte eine Leitersprosse an und schlägt dem unverletzt gebliebenen Gestürzten wild ins Gesicht. Er träumt einmal von einem gelungenen Mordversuch und genießt - im Traum - die Ruhe danach. Niklaus denunziert den Bruder bei einem Vorgesetzten, wodurch Goody seine Stelle verliert. Er bemüht sich vergeblich, Gottfrieds Freunde und Bekannte auf seine Seite zu ziehen oder Misstrauen gegen seinen Bruder in ihnen zu erwecken. Er manipuliert sogar die Bremse eines Wagens. Nie aber kommt er los vom Bruder. Einmal fragt ihn Gottfried: "Mein Leben, warum ärgert dich das?"
Auf die einfache Frage antwortet Steiners Text in erzählerischer Komplexität und poetischer Fülle. Wie man Rilkes Worte manchmal nur als Wohlklang, als Musik liest, ihren Sinn gar nicht mehr bewusst beachtet, so kann man sich an den leicht gebauten, schwebenden Sätzen Steiners berauschen: " ,Äpfel singen', hat er einmal gesagt, in einem Spätsommer, es ist lange her, in einem Frühherbst vor vielen Jahren. Der Bergwind in den Weiden am Weiher versprach den Kindern weitere sonnendurchwärmte Tage, und im schräg einfallenden Nachmittagslicht warf jeder einzelne Grashalm in der Wiese einen scharf umrissenen Schatten." Doch der hier Vergangenheit heraufbeschwört, sie zu fassen versucht, ist Niklaus Eisinger, dem sein Bruder ein Ärgernis war und der nun, da Gottfried verschwunden ist, von ihm und damit indirekt von sich selbst erzählt. Die Wahrheit über einen Menschen gibt es nur als individuelle und fließende Geschichte, wie es Gottfried anfangs sagt: "Daß die Wahrheit eine Geschichte ist, heute eine andere als morgen, ist nur natürlich. Das kann man nachprüfen, am Most zum Beispiel... die Früchte werden, wenn sie reif sind, zur Presse gebracht und zu Apfelsaft gepreßt, das ist dann Süßmost, den kann man trinken oder gären lassen, bis er sich zu saurem Most verwandelt, der viel gesünder ist als Süßmost, und so ist es eben mit der Wahrheit auch. Würde sie sich nicht verwandeln, wie alles, was lebt, müßte man sagen, die Wahrheit sei tot."
Dieses Konzept von Wahrheit provoziert Niklaus, wie ihn überhaupt alles an seinem Bruder gleichzeitig magisch anzieht und empört. Gottfried Eisinger erzählt sein Lebtag Geschichten, er ist "gesprächssüchtig", und die Leute hören ihm gerne zu, ob sie ihm nun glauben oder nicht. Sie lassen sich von ihm für Momente entrücken, wenn er Phantasiegirlanden um die Realität hängt. Dass ihm der etwas alberne Spitzname "Goody" nicht schadet, liegt auch an seiner gutmütigen Art; gerne gibt er nach, ist großzügig und verzeihend. Der Spott wird so zum Ehrennamen.
Den guten gegen den schlechten Bruder auszuspielen, verschmäht Steiner, man möchte sagen, selbstverständlich! Zu ernst nimmt er die Sehnsucht, die Sorge und die Liebe, die Niklaus treibt und fortreißt bis zu Mordanschlägen. Immer näher kommt er doch dem Bruder, gerät in den Einfluss von dessen wunderbarer Welt und tritt schließlich, zögernd und unsicher, in dessen imaginierte Existenz ein. Wie ist das, wenn man Schostakowitsch hört und dazu tanzt? Wie ist das, wenn man ein Leser ist, der Märchen liebt wie "Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen" oder "Die goldene Gans", der Seume nach Syrakus und Wenitschka auf der "Reise nach Petuschki" begleitet?
Leser wie Gottfried Eisinger sind Jörg Steiner zu wünschen: "Sich auf das Anfangen einlassen, das kann er als Leser. Leser verstehen etwas vom Anfangen, sie müssen dazu nicht verführt werden. Sie stehen nie über der Sache, alles geschieht für sie zum ersten Mal. Harmlos sind sie nicht." Harmlos ist auch Steiners Buch nicht. Unter der ruhigen Oberfläche des Erzählflusses gibt es Untiefen, gefährliche Strömungen, vielleicht sogar Wassergeister. Unauslotbar ist seine Kompositionskunst, wundervoll sein Sprachrhythmus und die Verbindung von intensiven Kindheitsbildern mit Mythos und Märchen, hochpoetisch die Kleinstadtalltags-Verzauberung, unterfüttert von einer Kriminalhandlung. Steiners neues Buch verliert auch nach dem dritten Lesen den Zauber des Anfangs nicht. Ein generöses Geschenk, das er uns Lesern da macht zu seinem 70. Geburtstag. Chapeau!