Was sie schon immer über die sexuelle Revolution wissen wollten

Von der Entmystifizierung der '68er

Von Stefanie PhilippRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Philipp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die sexuelle Revolution steht derzeit nicht hoch im Kurs" - so lautet der erste Satz aus "Die neuen Sexfronten" - und sogleich wirft sich Mariam Lau ins Geschehen und resümiert, polemisiert ein halbes Jahrhundert Aufklärungsgeschichte. Sie analysiert die Auswirkungen der Theorie auf die Praxis und der Praxis auf das wahre Leben und kommt zu dem Schluss, dass das Privateste zunehmend verrechtlicht, problematisiert und vor allem politisiert wird.

Das gefällt: mit einem Schmunzeln um die Mundwinkel, das manchmal zu einem breiten Grinsen wird, schießt die Autorin böse um sich, gegen das Kommunenleben der 70er, die Feministinnen der 80er und die TV-Erotik-Show-Queens und Drag-Queens der 90er.

Der Exkurs in die Geschichte der sexuellen Revolution und Aufklärung beginnt mit der Veröffentlichung des sogenannten Kinsey-Reports (1948) in Amerika. Mariam Lau berichtet aus der Kindheit und dem Leben Kinsey's. Bereits an diesem Punkt kommt allerdings Sigmund Freud als Pop-Ikone der Psychoanalyse zu Wort, der eigentliche "Erfinder" der sexuellen Befreiung. Ob der Leser Pfadfinder-Spiele wie "circle jerk", "bei dem man sich, im Kreise stehend, gegenseitig masturbierte" als Indiz für angebliche homoerotische bzw. homosexuelle Neigungen Kenseys sehen möchte sei dahingestellt. Freud hingegen wird von der Autorin immer wieder ins Spiel gebracht. Die Darstellung der Methoden und des Aufbaus von "Sexual Behavior in the Human Male", so der Orginaltitel des Kinsey-Reports, gestaltet sich äußerst amüsant und liest sich aus heutiger Sicht tatsächlich wie ein überspitzter Woody Allen.

Die nächste Etappe bringt uns in die Dekade der 60er Jahre. John Rock, einer der Erfinder der im Jahre 1960 genehmigten Anti-Baby-Pille und gut-gläubiger Katholik, hat die "Befreiung der Pille vom katholischen Natürlichkeitswahn", so die Autorin, nicht mehr erlebt. Da hätte er vermutlich auch noch sehr alt werden müssen.

Doch nun wird es wirklich spannend für den "zu-spät-geborenen Leser", denn Mariam Lau wendet sich der deutschen Seite der Aufklärung zu. Die als "Gräfin Dönhoff der sexuellen Befreiung" beschriebene Beate Uhse tritt auf den Plan -und die Hintergründe ihres Imperiums werden durchleuchtet: vom Druck der ",Schrift X' gegen Bezahlung von fünf Pfund Butter aus Braderup" bis hin zum geplanten Börsengang. Die Recherchen zum Versandhaus Uhse müssen Frau Lau besonders inspiriert haben: "Form und Design der Dildos nähern sich inzwischen denen pharaonischer Grabbeigaben an, golden, silber oder antikisierend".

Oswald Kolle, Herbert Marcuse und Wilhelm Reich sind drei weitere Stationen auf dem Weg zur attestierten Lustlosigkeit der Neuzeit. Und dann das langersehnte Kapitel über die Schlüsseljahre und -personen der, zumindest aus heutiger Sicht, gemeinhin eigentlichen Sexuellen Revolution. Die 68er! Schon allein die Überschrift lässt in hysterisches Gelächter ausbrechen: "Phantastisch leben: Die Kommune 1".

Was ich Mariam Lau übel nehme ist die Tatsache, dass sie durch ihren glaubhaft sarkastischen und intelligenten Stil, das Geschehene zu berichten, meine "deutsche Antwort auf John Lennon und Yoko Ono Uschi Obermaier und Rainer Langhans" tatsächlich entmystifiziert hat. Schenkt man der Autorin Glauben, und aus nicht nachvollziehbaren Sympathien tue ich das, so waren die Protagonisten der "make-love-not-war-Generation" auch nur Menschen mit "Orgasmusproblemen". "Der gescheiterte Jurastudent Rainer Langhans" etwa, dessen Problem sich nach enttäuschter erster großer Liebe beim Eintritt in die K1 nach Frau Lau so anhörte: "Nicht der Rainer ist krank, sondern die Gesellschaft, in der er lebt". Politisierung der Sexualität, Unebenheiten auf dem Weg der Persönlichkeitsfindung der Kommunarden und "Das sexualisierte Kind" sind also die Stationen der 70er.

Die "tristen Siege der neuen Frauenbewegung" scheinen die Autorin geradezu zu sprachlichen Gemeinheiten herauszufordern. Aber Alice Schwarzer, "Emma" und die Feministinnen auf der einen Seite und konservative "Heterofrauen" als Gegenspielerinnen sind nun mal ein gefundenes Fressen für Mariam Lau, die Oliver Kalkhofe in nichts nachsteht.

Als abschließende geistige Leckerbissen finden sich in "Die neuen Sexfronten" Antwortversuche auf Zeitgeist-Fragen wie: "Was macht das ,schwule Leben' so attraktiv für Heteros?", "Warum wirkt Lilo Wanders so traurig - auch ,angesichts der heißen Sexpraktiken aus aller Welt'?" und "Was hat das Gelingen oder Scheitern der sexuellen Revolution mit dem Spinatkochbuch von Verona Feldbusch zu tun?"

Für die "Neuen Sexfronten" hätte ich mir etwas weniger Freud und dafür mehr Lau gewünscht, muss doch die Autorin mit ihrer provokant erfrischenden Sprache und nahezu virtuosen Haltung zum Feminismus und anderen Phänomenen nicht hinterm Berg halten.

Titelbild

Mariam Lau: Die neuen Sexfronten. Vom Schicksal einer Revolution.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2000.
224 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3828600816

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