Nichts ist frustrierender als Pornographie

Ralf Bönt über seine Romane "Icks" und "Gold" und sein Verhältnis zu Metropolen

Von Julia SchöllRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Schöll

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Autor erreichte Ralf Bönt erstmals 1998 ein größeres Publikum, als er auf dem Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb für die Präsentation von Auszügen aus seinem Roman "Gold" das 3sat-Stipendium erhielt. "Gold" erschien als Bönts zweiter Roman im Frühjahr 2000 im Piper Verlag. Der Roman berichtet neben einer Beziehungskiste (mit mehr als drei Ecken) von Politik, Macht und Geld im goldenen Zeitalter der Berliner Republik. Während die Figuren im Vordergrund ihre Abhängigkeitsbeziehungen pflegen, kommentiert im Hintergrund die Stimme eines kollektiven "Wir" die Handlung sowie die Geschehnisse in "D-Land", wobei sich verschiedene Stimmen mischen und übereinanderlegen. "Die Welt" nannte den Roman ein "gnadenlos präzise" ausgetüfteltes "Sprachpuzzle" (vgl. auch literaturkritik.de 2000-06-51.html).

Bereits letztes Jahr erschien, ebenfalls bei Piper, Bönts Roman "Icks", der ein erhebliches Presseecho auslöste. "Icks" ist der Monolog des gleichnamigen Helden, der im Flugzeug auf dem Weg nach New York seinem Sitznachbarn im Verlaufe unzähliger Gläser Whisky seine Lebensgeschichte erzählt - oder doch so etwas wie seine Lebensgeschichte. Aufgewachsen in der Öde der 70er und 80er Jahre in der "Leinenweberstadt" (unschwer als Bielefeld zu identifizieren, wo Bönt aufwuchs), erzählt Icks von seiner Rückkehr in die Heimatstadt und seinem ersten Besuch bei den Eltern seit zehn Jahren. Während er mit den Schatten der Vergangenheit und seinem eigenen Versagen kämpft, verpasst er in seiner neuen Heimat, Berlin, das Leben (sein kleiner Sohn lernt dort gerade laufen). Icks scheitert nicht nur an einer verpfuschten wissenschaftlichen Karriere, sondern auch an der Spießigkeit seines Elternhauses - die er erkennt, aber nicht überwindet - und seiner Unfähigkeit, anderen wirklich nahe zu kommen.

Julia Schöll traf Ralf Bönt, der heute in Berlin lebt, im herbstlichen New York, wo er als Gewinner des Stipendiums des German Book Office New York vier Wochen im Ledig-Haus in Upstate New York zu Gast war und anschließend auf Lesereise quer durch die Vereinigten Staaten ging.

Julia Schöll.: Gestern in der Lesung an der New York University sagten Sie, die Hauptperson Ihres Romans "Icks" stehe für x, die mathematische Unbekannte, während Icks von den meisten Rezensenten bisher mit Couplands "Generation X" assoziiert wurde. Hat er denn mit Coupland etwas zu tun?

Ralf Bönt: Ich habe Coupland damals gelesen, fand das aber nicht besonders toll, wobei ich immer zuerst auf Sprache achte. Hinzu kam, dass mir die Situation des Aussteigers nicht besonders nah war. Ich persönlich fühle mich überhaupt nicht dieser Generation X zugehörig. Mein Held Icks ist es vielleicht ein bisschen. Meine Assoziation beim Schreiben war aber wirklich die Variable x.

SCHÖLL: Und in welcher Hinsicht ist Icks eine Variable?

BÖNT: x ist ein leeres Symbol, das erst eine Bedeutung bekommt. Es ist eine Metapher für Icks, der feststellt, dass er, anders als er lange glaubte, nicht ein perfekter Individualist sein kann, sondern nur dadurch, dass er Teil einer Gesellschaft ist, zu einer Bedeutung kommt. Diese Bedeutung erlangt er nicht nur durch den soziologischen, sondern auch durch den historischen Kontext, nämlich den Mauerfall. Er ist quasi das Gegenbeispiel zu dem, was man mit dem Mauerfall assoziiert: Die Ossis kriegen Kohle. Hier wird der Wessi arbeitslos.

SCHÖLL: Ich muss gestehen, dass mich Icks als Person ziemlich genervt hat. Man kann die Situation so gut nachvollziehen, wie er auf seinen Nachbarn im Flugzeug einredet, der ihm nicht entkommen kann. Tatsächlich ist Icks fast den ganzen Roman über mit Jammern beschäftigt: Das Umfeld ist schuld an seiner Misere, die Eltern, der Mauerfall, sogar Auschwitz. Und am Ende? Gelingt es Icks schließlich, sich von all dem zu befreien? Hat er jemals die Chance, erwachsen zu werden? Oder anders gefragt: Wird die Leerstelle x jemals gefüllt?

BÖNT: Das ist im Buch offen gelassen, aber es ist bestimmt nicht so, dass alle anderen schuld sind. Denn nachdem er bei seinen Eltern war und zurückfährt, fängt er ja an, alles was er vorher gegen das Milieu und seine Eltern vorgebracht hat, gegen sich selbst zu wenden, den Hass zum Beispiel. Er behauptet, genauso zu hassen wie seine Eltern, und, was am schlimmsten ist, kalt zu hassen. Wenn es wenigstens ein heißer Hass wäre. Das bekommt er von seiner Frau im letzten Telefonat wieder zurückinjiziert, sodass er am Ende tatsächlich allein ist. Weder ist er zurückgefahren nach Berlin, um dabei zu sein, als sein Kind Laufen lernt - was ja durchaus ein touching moment ist -, noch hat er irgendwie versucht, Kontakt herzustellen zu diesen Personen. Und deswegen glaube ich, dass es richtig ist, zu sagen, dass dies eine Geschichte der Selbstzerstörung ist. Sie läuft von Anfang an darauf hinaus: Nachdem Icks alles totgetrampelt hat, was um ihn herum war, und seine Aggression mitnichten geringer geworden ist dadurch, bleibt nur noch er selbst.

Das ist vielleicht ein kompliziertes Bild, aber man kann sagen, dass die Erfahrung, in Geschichte eingebettet zu sein, für ihn so etwas wird wie ein Autoimmundesaster. Die Reise in seine Heimat infiziert ihn mit Wissen über sich und sein Land. Dieses Wissen kann er nicht aushalten, er will es zerstören, um zu überleben. Da es aber in ihm selbst, ja er selbst ist, wird die Abwehr zu einer Autoagression. Er richtet sich gegen sich selbst.

SCHÖLL: Man könnte am Ende ja auch annehmen, dass alles gut wird: Er geht zurück nach Berlin, seine Ehe läuft gut, der Job am Theater wird was...

BÖNT: Ja, und er baut das Haus! Der Hausbau ist sehr wichtig.

SCHÖLL: Und wird doch wie seine Eltern.

BÖNT: Ja, dann lädt er seine Eltern zum Kaffee ein.

SCHÖLL: Noch eine Frage zum leidigen Problem der Autobiographie. Sie haben sich immer dagegen gewehrt, dass "Icks" autobiographisch gelesen wird...

BÖNT: Ich habe jetzt aufgehört, mich dagegen zu wehren. Mittlerweile ist mir das vollkommen wurscht. Wenn jemand meinen will, es sei autobiographisch, dann soll er das meinen. Diese Frage finde ich vollkommen uninteressant.

SCHÖLL: Mir geht es auch nicht darum, herauszufinden, ob der Roman autobiographisch ist. Ich finde vielmehr interessant, dass Sie in einem Interview zu der Frage nach dem autobiographischen Gehalt sagten, es schmeichle Ihnen, dass der Roman so gedeutet würde. Inwiefern finden Sie das schmeichelhaft?

BÖNT: Weil es offenbar authentisch klingt. Es ist übrigens nicht verwunderlich, wenn Icks Ihnen auf die Nerven gegangen ist. Die Sache ist durchaus nicht frei von gender-troubles. Es wurde viel darüber geredet, ob "Icks" ein Männerbuch ist.

Aber zurück zu Ihrer Frage. Icks ist im wesentlichen eine Person, die behauptet, keine Erfahrungen gemacht zu haben, keine Biographie zu haben. Sie sagten, alles und alle seien schuld: Die Eltern sind schuld, die Mauer ist schuld, Clinton ist schuld. Wenn man es zuspitzen will, dann sagt er, sein Problem sei, dass er nicht in Auschwitz war. Er erzählt, dass er festgestellt hat, dass er gar nicht weiss, wo Auschwitz liegt. Er hat es im Atlas dann in Polen gefunden und festgestellt, er war mal in der Nähe, hat aber gar nicht gewußt, dass es dort ist. Auschwitz ist irgendwie ein Gravitationszentrum für das Milieu, in dem er lebt, in dem er aufgewachsen ist. Auschwitz ist eine der deutschen Wirklichkeiten. Es ist die Grabplatte: Da drunter liegt alles, beziehungsweise, da drauf steht alles. Und ganz überspitzt formuliert kann man sagen, sein Problem ist, nicht dort gewesen zu sein.

Das korrespondiert auch mit dem Initialtext, der von Imre Kertész ist: "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind". In diesem Buch monologisiert ein Protagonist, der in Auschwitz war. Er kann danach nicht mehr leben. Man kann also in keinem Fall leben und will doch. Das ist die Natur der deutschen Geschichte.

SCHÖLL: In Ihrem aktuellen Roman "Gold" geht es ja wieder um sehr deutsche Befindlichkeiten. Es gibt in dem Roman ein erzählendes "Wir", das weit über dem Geschehen steht und auf die agierenden 'Helden' herabschaut. "Wir" kommentiert das Geschehen und scheint alles im Griff zu haben. Wer ist "Wir"?

BÖNT: Wir sind "Wir".

SCHÖLL: Wir sind "Wir"?

BÖNT: "Wir" spricht das kanonisierte Reden und Denken aus. Im "Wir" sind gesellschaftliche Gruppen repräsentiert, die sich in ihren Denkbewegungen und Reaktionsmustern sehr einig sind. Im Verlauf des Buches trifft man auf Stimmen, die man vielleicht nicht erwartet hätte: auf das Trivial-Bürgerliche, das vereinigte Durchschnittsbürgertum, den Bankangestellten... und im ersten Kapitel gibt es nur ganz wenige Tritte in andere Sektoren. Aber im zweiten Kapitel wird das dann weiter aufgefächert, man trifft da auf Altgrüne, Dummfeministinnen... (er lacht) - allerhand pöbelndes Volk sozusagen. Und die haben alle etwas gemeinsam. Es ist immer die gleiche Art und Weise, wie sie gegen die vermeintlichen 'Helden' vorgehen.

Ich finde das nicht so schlimm, wenn das nicht jeder für sich so auflöst. Aber das "Wir" ist eigentlich die Hauptperson. Erzähler und Erzählte sind vertauscht.

SCHÖLL: Traditionell ist der Erzähler doch der, der danebensitzt und die Sache kommentiert.

BÖNT: Ich hasse den zentralen Erzähler, weil ich glaube, dass das eine objektive Zuschreibung ist. Ich glaube, dass der Erzähler sich immer irgendwie positionieren muss, und ich denke auch, dass der Erzähler erkennbar sein sollte. Das ist zumindest in der Arbeitsphase, in der ich die beiden Romane geschrieben habe, so gewesen. Und es ist kein Wunder, wenn die sich auf der Bühne dann ansammeln.

SCHÖLL: Es sind also viele Stimmen?

BÖNT:... und kein Zentrum.

SCHÖLL: Wie steht es eigentlich mit dieser kryptischen Figur des "Vorstands", der am Ende sogar von der eigenen Tochter ermordet wird. Er steht für deutsche Macht, auch Wirtschaftsmacht...

BÖNT: Und er verliest die politischen Reden zum Aschermittwoch und zum Heiligen Abend, die übrigens nicht, wie manche meinten, die Kohlsche Rede ist, sondern, wenn man es genauer anguckt, eine amerikanische Rede ist, eine Kongreßrede.

SCHÖLL: Und seine Tochter?

BÖNT: Die Tochter ist das einzige Bindeglied zwischen diesen beiden Welten. Sie versucht, sozusagen, zwischen dem Öffentlichen, Gemeinen und den vier Helden eine Verbindung herzustellen. Und das gelingt ihr nicht. Sie will das Maß einerseits vollmachen und es andrerseits halten, das Maß halten, indem sie den Vater tötet. Was natürlich nichts nützt; es kommt einfach ein Nachfolger.

SCHÖLL: Man hat das Gefühl, bei diesem Mord geht es gar nicht um den Vater, sondern sie will sich mit dem Vatermord in diese andere Gesellschaft 'einkaufen'. Sie versucht ja in die Geschichte reinzukommen.

BÖNT: Ja, so kann sie ihre Einsamkeit offenbar gegenüber den anderen aufheben.

SCHÖLL: Oder zumindest hat sie diese Illusion.

BÖNT: Das ist doch schon mal ganz schön, weil das ja implizieren würde, dass die anderen lieben und nicht nur Spielfiguren sind, die keinen Charakter haben. Wenn man nur die wörtliche Rede nimmt, wenn man allen "Wir"-Kommentar wegnimmt und sich die wörtliche Rede genau angucken würde, dann würde man merken, dass die Figuren absolute Charaktere sind.

SCHÖLL: Ich habe die Figuren durchaus als Charaktere verstanden. Jeder hat eine Geschichte, sie haben Katzen, sie haben Verhältnisse, sie scheitern... Ich finde schon, dass sie Charaktere sind. Was mich dann allerdings irritiert hat, war eine Bemerkung von Ihnen, dass Sie mit "Gold" einen Porno geschrieben hätten. Ein Porno zeichnet sich doch aber gerade dadurch aus, dass er keine Charaktere, sondern Typen agieren läßt.

BÖNT: Was ist denn eine Pornographie? Darauf müßte man sich vielleicht erst einigen. Pornographie hat doch immer damit zu tun, dass man versucht, eine Sehnsucht zu stillen, indem man auf einem verkürzten Landeplatz landet mit seinem Fallschirm. Deswegen ist der Porno auch so langweilig. Der Porno ist gar nicht zum Aushalten. Dieser - allerdings verständliche - Wunsch, diese verkürzten Anflüge auf die Landeplätze sind in der "Wir"-Stimme dauernd gegeben. Und weil diese verkürzten Landeplätze angeflogen werden, landet diese "Wir"-Stimme auch grundsätzlich im Ressentiment, aus Frustration selbstverständlich. Nichts ist frustrierender als Pornographie.

Dieser Roman ist in dem Sinne eine Pornographie, dass der Erzähler permanent versucht, die Figuren zu verkürzen auf etwas, was sie nicht sind. Also ist er nicht eigentlich eine Pornographie, und ich habe das nur der Zeitung gesagt, weil es so schön klingt und Sie mich danach fragen würden.

SCHÖLL: Aber die Figuren versuchen doch auch diesen Kurzanflug: Anna zum Beispiel versucht das große Abenteuer zu erleben, indem sie sich einen Stricher nimmt. Das ist doch auch eine verkürzte Landebahn...

BÖNT Das ist für sie aber doch ein weiter Weg: Erst muss sie die Tat gestehen, um sie dann tatsächlich umsetzen zu können. Sie muss quasi schon alle Konsequenzen in Kauf nehmen, um sich mit Energie vollzupumpen, es dann doch noch zu machen. Sie gesteht nur aus Wut über sich selbst, weil sie es nicht fertigbringt, es zu tun.

SCHÖLL: Warum will sie es denn überhaupt tun?

BÖNT: Nun, es gibt eben doch zwei, drei Frauen, die das gerne mal machen würden. Das hat was mit der Zeit zu tun, in der wir leben - diesmal nicht mit gender-trouble -, weil Kaufen doch durchaus etwas Erotisches hat.

SCHÖLL: Als Leserin habe ich gar keine Chance, an die Gestalten heranzukommen, ihr Handeln zu verstehen. Die Bewertung des Geschehens durch "Wir" schiebt sich immer dazwischen.

BÖNT: Man muss den Figuren zuhören können. Die Aufgabe ist sicherlich nicht leicht. Es ist schon der autarke Leser - den es ja nicht gibt - gefragt. Selbstverständlich ging es mir darum, genau dieses Spielchen zu spielen, genau das Gegenteil vom so genannten realistischen Erzählen. Wie ich sagte: Erzähler und Erzähltes sind miteinander vertauscht, und die Hauptperson ist keine der genannten. Ob man eine Chance hat, an diese Figuren ranzukommen, ist eine Frage der Fähigkeit, auf die wörtliche Rede tatsächlich einzugehen. Auch eine Frage der Fähigkeit, die Geschichten, die ja mehrfach erzählt werden, zu sieben und wieder zusammenzubauen.

SCHÖLL: In Ihren Büchern geht es immer auch um die Stadt New York: Icks ist auf dem Weg nach New York, als er seinem Nachbarn im Flugzeug seine Lebensgeschichte erzählt. Und in "Gold" ist New York eine Art Gegenwelt zu der deutschen Realität.

BÖNT: New York ist der Ort, zu dem der Berlin-Tourist unterwegs ist. Der - vom Nürnberger Stadtrand aus betrachtet - das alles ganz toll findet. Es ist der nächste Ort nach Berlin, sobald man weiß, welche Bars gerade angesagt sind, und an den Punkt kommt, wo man merkt, dass man sich in Berlin doch nicht richtig niederlassen kann und nicht richtig zuhause ist. Das dauert, glaube ich, drei, vier, fünf Jahre. Von da aus gibt es eigentlich nur noch einen Fluchtort, als Küste für alle Schwimmer ohne Schwimmweste.

SCHÖLL: Und was kommt nach New York?

BÖNT: Dann kann man sich entweder in New York festsetzen - was nicht jeder schafft - oder man geht wieder zurück an den Stadtrand von Nürnberg.

SCHÖLL: Vielen Dank für das Gespräch.

Titelbild

Ralf Bönt: Icks.
Piper Verlag, München 1999.
170 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 349204090X

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Titelbild

Ralf Bönt: Gold.
Piper Verlag, München 2000.
156 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3492040918

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