Krieg der Wörter

Kultur, Kulturdifferenz, Kulturkonflikt

Von Jürgen WertheimerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Wertheimer

Lessing hat das Wesentliche mit wünschenswerter Deutlichkeit zur Darstellung gebracht. Vor mehr als 200 Jahren erklärte er was Kultur - nicht ist und was sie ist: nämlich "Konstrukt", "Konzept", "Konvention", "Kopie", "Fälschung".

Die Kulturtheoretiker und Kulturphilosophen des 18. Jahrhunderts waren offen und konsequent. In besonderem Maße galt dies für "Nathan den Weisen", ein Stück, das in vollem Bewusstsein um sein provokatives Gedankenpotential geschrieben wurde. Gedankliches Epizentrum des Textes ist die immer wieder als Dokument klassisch-humanistischen Denkens interpretierte ,Ringparabel?. In ihrem Zentrum steht die Frage nach der ,Wertigkeit? dreier religiöser Systeme - Judentum, Christentum, Islam, wobei zu Beginn der Debatte der traditionelle Ansatz, wonach "doch eine nur / Die wahre sein [könne]" formuliert wird (III,5). Wenig später geht Nathan mit den falschen Voraussetzungen ins Gericht und untergräbt dabei nicht nur den Absolutheitsanspruch aller fundamentalistischen - orthodoxen Wahrheitsmodelle, sondern auch jede naiv-gläubige Wahrheitserwartung:

"[...] er will - Wahrheit. Wahrheit!

Und will sie so - so bar, so blank -, als ob

Die Wahrheit Münze wäre!" (III,6)

Wahrheit als konstruierte Maßeinheit des eigenen Weltbildes, Wahrheit als Strategie, als Taktik, ja Wahrheit auch als "Falle" -, all dies erscheint Nathan plausibler als ein ungebrochener Anspruch auf die Wahrheit. Die Reflexion über die erkenntnistheoretische Begründung von Wahrheit ist Präliminarie für den Kulturvergleich im Hintergrund und die angeführte Parabel ein Versuch, die Absurdität gutwilliger Eindeutigkeit transparent und bildhaft zu machen.

Nathan erzählt eine Geschichte, in deren Mittelpunkt ein wertvoller Ring steht, den sein Besitzer sich nicht entschließen kann, einem seiner Söhne zu vermachen. Um die Entscheidung zugunsten eines Erben (bzw. zuungunsten der anderen) zu vermeiden, werden kunstvolle Kopien nach dem ,Muster? des Ringes angefertigt. Nach dem Tode des Vaters glaubt folgerichtig nun jeder der drei Erben, legitimer Rechtsnachfolger zu sein, doch:

"Man untersucht, man zankt,

Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht

Erweislich -" (III,7)

Auf den Bereich der Kulturen übertragen heißt dies, scheinbar grundverschiedene Religions- und Kultursysteme, die sich bis zum Genozid bekämpften, als einander ähnlich zu sehen, jedenfalls sie als gleichwertig, kühner noch als gleich wertlos zu sehen.

Denn jede Kultur hat ihre innere Legitimation. Jede dieser Legitimationen aber ist Legende:

"Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte?

Geschrieben oder überliefert! - Und

Geschichte muss doch wohl allein auf Treu

Und Glauben angenommen werden? - Nicht? -

Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn

Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?" (V,7)

Lessings bzw. Nathans Argumentation erledigt gleichsam mit einem Zug ganze Bibliotheken essentialistischer, traditionalistischer Legitimationsdiskurse. Jede Legitimation ist gleichermaßen wertvoll wie wertlos. Wertvoll und verbindlich für sich und von innen her gesehen. Wertlos und unverbindlich von außen, objektiv gesehen.

"Eure Ringe sind alle drei nicht echt"

ist die Erkenntnis des die Klage der drei Söhne abweisenden Richters. Letztlich beinhaltet dieser kulturkritisch, ja dekonstruktivistisch anmutende Ansatz eine gleichermaßen riskante wie befreiende Distanz - auch der anscheinend vertrauten eigenen Kultur gegenüber. Eine Distanz, die nichts Gesuchtes, Pseudointellektuelles an sich hat, sondern die den Lebenswirklichkeiten zumeist adäquater ist, als jede Eindeutigkeit. Lessing zeigt dies in seinem Stück, wenn jede der Figuren an sich entdecken muss, dass diejenige Identität, von der sie bisher ausging, sich als trügerisch erweist, die des Antagonisten ebenso Konstrukt ist wie die eigene: Der christliche Templer muss erkennen, dass er Bruder eines Judenmädchens ist. Das Mädchen wiederum verwandelt sich von der Jüdin Reha zur Christin Blanda und alle beide entpuppen sich zugleich als partiell arabischen Ursprungs.

Diese Szenen der Pluriidentität sind für die Figuren irritierend, sogar verstörend. Sie lösen Probleme und schaffen zugleich neue. Und doch sind sie Ausdruck einer Lebensform, die ungeeignet ist, sich von jenen simplifizierenden Wahrnehmungsmodellen vereinnahmen zu lassen, die noch immer Ursache der meisten Konflikte zwischen Kulturen sind. Dieselbe Problematik wie für Lessings Figuren stellt sich heute dem Achtzehnjährigen, der von türkischen Eltern in Deutschland zur Welt gebracht wurde und seither hier (dort?) lebt. Sie stellt sich der Bosnierin, der man beizubringen versuchte, dass sie Serbin, christliche Serbin, und nicht wie ihr Mann bosnischer Muslim ist; es trifft auf den Katalanen zu, der sich entschließt, ganz Katalane zu sein und der mit Kastilien oder Spanien nichts zu tun haben will, ebenso für den türkischen Zyprioten, der sich mit dem griechischen Zyprioten blutige Schlachten liefert. Nimmt man Lessings Satz "Eure Ringe sind alle drei nicht echt" ernst und analysiert die darin enthaltene Prämisse der ,Echtheit? wirklich konsequent, ist man an der Schlüsselstelle jeder interkulturellen Konfliktform angelangt. Dies vor allem, weil mit dem Zweifel an der Kategorie der ,Echtheit? alle angestammten Sicherheiten schwinden. Wenn der Glaube an die Echtheit als Illusion entlarvt wird, bricht die Möglichkeit der einseitigen Parteinahme zusammen, werden die trügerisch-sicheren Schwarzweißbilder, die Stereotypen der Alltagsroutine transparent, wird ihre Kulissenhaftigkeit, ihr Kunst- und Künstlichkeitscharakter offenbar.

Die Folge solcher Erkenntnisse ist ,schlimmstenfalls? eine Minderung der Bereitschaft, sich auf einen Kreuzzug ,für? oder ,gegen? eine Sache einzulassen. Von Patrioten oder Parteigängern mag dies als Schwäche, als dekadenter Werterelativismus diskreditiert werden. Pragmatisch beinhaltet dieses Modell nichts weniger als die Tatsache potentielle Mitläufer oder Verführte, Unsichere oder Leichtgläubige davon abzuhalten werden, sich mit Bewegungen zu assoziieren, die, von wenigen vorgegeben, keinerlei Bedeutung für die eigene, individuelle Lebenswirklichkeit besitzen.

Subjektivismus? Werterelativismus? Mitnichten! Allenfalls das Transparentmachen jener Vorgänge, die dazu (ver-)führen, Werte als absolut gültig zu akzeptieren. Wie nötig dies, Lessing, Nietzsche und Rushdie zum Trotz, zu sein scheint, bestätigt ein Blick auf die sogenannte ,Wirklichkeit?. So ist die eben gespielte Version des soundsovielten Balkankrieges eine zynische und plastische Vergegenwärtigung dieser These auf nahezu plakative Weise. Sie belegt im übrigen auch die (selten eingestandene) bestürzende Indifferenz, mit der wir mit Konflikten dieser Art umzugehen gewöhnt sind, Intellektuelle, Berufspolitiker und Medienkonsumenten jeder Art eingeschlossen. Auch die Tatsache, dass die mit dem Begriff "Leitkultur" verbundenen verdeckten Sehnsüchte noch immer abrufbar, jedenfalls ernsthaft diskutierbar sind, kann nur befremden. Integrations-Debatte, Kulturkonflikte, "Clash of Civilisations" - stets bestimmt das jeweils plakativste Werk, die jeweils schlichteste oder krudeste These den Diskurs. Und die Zahlen-Daten-Fakten-Wirklichkeit wird noch immer vermittelt und gekauft, wie zu Zeiten des Kolportageromans. Doch im Zeitalter der massenkommunikativ hergestellten virtuellen Wirklichkeiten ist die literarisch, semiotisch hergestellte Wirklichkeitskopie, ist die Fälschung die Wirklichkeit. Wir aber laborieren noch immer mit Mimesiskonzepten aus dem Biedermeier des Realismus. Längst sind wir selbst auf der Seite der Wirklichkeiten-Hersteller. Jedenfalls derer, die begreifen, wie Wirklichkeiten hergestellt werden und woraus sie bestehen: aus Sprache, Zeichen, Bildern, Kunst-Gefühlen. Die virtuellen Wirklichkeitsmacher, die Hersteller von "Authentizität" und "Aura" sind heute besser durchschaubar als in den Anfängen der Ästhetik der "Reproduzierbarkeit" (Benjamin). Und man muss schon auf die eigenen Fälschungen hereinfallen wollen, um sich jetzt noch immer täuschen zu lassen.

In seinem Roman "Die Fälschung" (1979) beschreibt der früh verstorbene deutsche Autor Nicolas Born den letzten blutigen Bürgerkrieg in Beirut. Aus der Perspektive des deutschen Kriegsberichterstatters Laschen schildert Born den eskalierten Kulturkonflikt und die grausamen Massaker zwischen Falangisten, Palästinensern, Maroniten, Muslimen... Obwohl Profi, wendet sich der Berichterstatter entsetzt ab und übt Kritik sowohl am Prinzip der zynischen Berichterstattung über das Leid anderer, das kamerawirksam in Szene gesetzt wird, wie auch am Prinzip derartiger Auseinandersetzungen an sich. Im Gespräch mit einem palästinensischen Offizier äußert er massiv seine Zweifel an der Legitimation aller Parteien, die sich - jede für sich - im Recht fühlen und - jeweils die andere Seite - im Unrecht wähnen:

"Laschen winkte ab, er wollte solche Sätze nicht mehr hören. Ist es nicht wirklich komisch und tragisch, dass man solches Zeug überall zu hören kriegt. Alle Beteiligten haben etwas zu verbergen, zu entschuldigen, zu beschwichtigen. Alle sind falsch geworden und alles. Alle Rechtfertigungen sind nur noch tragisch und komisch. Was heißt es schon, irgendein historisches Recht zu haben und es zurückzugewinnen? Verwandelt es sich auf dem Wege nicht in sein Gegenteil?

Naturgemäß kann es zu keiner Annäherung der Standpunkte des Offiziers und des Journalisten kommen. Wir sagen "naturgemäß" und meinen "erfahrungsgemäß". In den Augen des Offiziers ist der Andere ein "Fatalist". In seinen Augen gilt es, ein Unrecht zu rächen und ein Recht wiederherzustellen. In den Augen des Journalisten hingegen gibt es kein solch eindeutig zu definierendes Recht, keinen Anspruch auf eine Wahrheit:

"Recht und Unrecht rotierten als Begriffe so schnell, dass sie ununterscheidbar waren, Recht und Unrecht waren bis zur Unkenntlichkeit vertauscht worden, gab es nicht, schien es nie gegeben zu haben. Nur Räume und Zeiten, eine Behauptung sollte die andere besiegen, eine Geschichte die andere."

Nathans Position - durch die Geschichte bestätigt - hat aller Evidenz zum Trotz keine Chance. Im Text des 18. Jahrhunderts gibt es für den Intellektuellen Nathan Beifall. Im Text des 20. Jahrhunderts für den Intellektuellen Laschen nur mehr Verachtung; schließlich verzweifelt dieser selbst und quittiert den Dienst. Im Kontext der Aufklärung hatte man vielleicht nicht an eine Wahrheit geglaubt, aber an die Kraft und Wirksamkeit kritischer Rede und kritischen Denkens. Im späten 20. Jahrhundert hat man sich diesen Glauben abgeschminkt. Der Skeptiker demaskiert und degradiert sich und wird zum Außenseiter und Clown einer Gesellschaft, die ihre Spiele mit ihren Wahrheitskonstrukten ungerührt weiterbetreibt.

Lessings wie Laschens Analyse ist zutreffend. Doch auch ihr Missverstandenwerden und Scheitern ist analog. Ungewohnt und ungewollt nach wie vor die These, "Kultur" als "System aus Zeichen" zu betrachten, in das man hineingerät, dessen Mechanik man erfahren, er- und durchleben muss.

In die eigene Kultur hat man sich ebenso gut einzuleben wie der jeweils "andere" sich in die "fremde" Kultur, die ihm aber die eigene ist. "Denn das Eigene will so gut gelernt sein, wie das Fremde", sagt Friedrich Hölderlin 1801 zutreffend zu dieser Erfahrung. Da Kultur gelernt werden muss, ist jede Akkulturation ein spezifischer sozialer Erfahrungsprozess ohne absolute, universale Verbindlichkeit. Auch "Wahrheiten", selbst Glaubenswahrheiten stellen sich so gesehen als eher durch den Zufall der Geburt den Vorgang der Erziehung geformt dar. Jede glaubensspezifische Sozialisation ist - um es zu wiederholen - gleich wertvoll (für den einzelnen) und gleich wertlos (für den anderen). Lessing illustrierte dies auf provozierende Art, und jeder muss erkennen, ein mehr oder weniger "gefälschtes Leben" geführt zu haben, im falschen Stück gewesen zu sein.

Gerade diese falschen Identitätsmasken werden im Fall sogenannter "Kulturkonflikte" jedoch besonders rabiat verteidigt. Welche Gesetzmäßigkeiten bestimmen diesen Rhythmus, welche Kräfte werden in konfliktgeprägten Szenarien wirksam und bestimmen über Leben und Tod von vielen? Und wie werden diese Kräfte aktiviert und kontrolliert?

Ich vertrete die These, dass Konfliktszenarien weitgehend als sprachliche Operationen zu verstehen sind und keineswegs als Ausdruck sogenannter "wirklicher" Gegebenheiten. Kulturen und insbesondere Konkurrenz- und Konfliktsituationen zwischen ihnen sind zumeist als textgefertigte Kunstprodukte zu verstehen. Wirklichkeit wird dabei begrifflich strukturiert - ja sogar mittels der Sprache überhaupt erst hergestellt.

Das Militär oder die UN-Truppen können zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln suchen, sie können mit Panzerwagen zwischen die Linien fahren, Zugänge sperren, Korridore sichern. Der Konflikt schwelt weiter. Moralische Instanzen, selbst Kirchen können appellieren, symbolische Zeichen setzen. Der Konflikt eskaliert trotzdem. Denn nicht das Militär oder die Moral entscheidet darüber, ob ein Konflikt eskaliert oder gebändigt werden kann, sondern - die Verwendung von Sprache. Die Kreation von Konflikten ist durchaus eine sprachliche Leistung. "Ethnische Säuberungen" haben nichts mit einer genetischen Reinigung von Menschen zu tun. Reinheit des Blutes ist ebenso absurd wie der Glauben an die Unverfälschtheit einer Kultur. Nur durch Begriffe kann man die einzelnen Kulturen voneinander trennen und sagen, hier ist x und dort ist y. Das Wort "Deutsch", "Serbisch", "Katalanisch" sagt nichts darüber, was das Deutsche, Serbische, Katalanische eigentlich ist, es behauptet nur eine Differenz des Deutschen zum Nicht-Deutschen, des Serbischen zum Kroatischen, des Katalanischen zum Kastillischen. Sprache kreiert und setzt Differenzen, schafft Grenzen, und Sprache kann Grenze sein.

Nicht die Verwendung von Waffen entscheidet über Massaker, sondern die Verwendung von Wörtern. Natürlich führen die Waffen und ihre Benutzer die Tötungen aus. Doch die Benutzung der Sprache entscheidet über Legitimation und Bedeutung der Taten. Eine Lizenz zum Töten auszustellen, ist ein sprachlicher Akt. In jedem Sprachakt gibt es Sender und Empfänger, und im besonderen Fall politischer Konstellationen entstehen dadurch Hierarchien: Sprachgeber und Sprachnehmer, Herren und Diener der Sprache und der Sache des Konflikts, des Kriegs. Es gibt, um es noch ein wenig deutlicher zu sagen, Sprachfälscher, und es gibt solche, die ihnen diese Fähigkeit abkaufen. Und die erst spät oder nie bemerken, dass sie Betrügern aufgesessen sind. Es sind die "Lords of words", zumeist auch die "Lords of war", die die Sprache "scharf" machen. "Reines Serbentum", "reines Kroatentum", "Ariertum", "Judentum" werden entdeckt bzw., genauer, Bilder von diesen ethnisch, völkisch, national oder religiös definierten Phantasien werden entworfen - und geglaubt, akzeptiert; es wird mitgemacht und man zerstört die eigene als "unrein" erachtete, aber lebendige Lebenswirklichkeit für den Popanz einer hohlen Idee. Die Wirklichkeit der Kulturvermischung wird für den Spuk einer eingebildeten Reinheit liquidiert.

"Lords of words" sind im wesentlichen Parteien und Gruppierungen, die machtpolitische, materielle oder individuelle Ziele nicht auf direktem Wege verfolgen, sondern sich dazu des Konstrukts von sogenannten "Kulturkonflikten" bedienen. Als interethnische Auseinandersetzung getönt, scheinbar "spontan" aus den Affekten des Volkes erwachsend, lassen sich dann Aggressionen von erstaunlicher Intensität wecken und steuern. Aggressionen, die paradoxerweise von den Beteiligten dann auch als die ihren erlebt werden, obwohl sie ursprünglich kaum etwas mit ihrer wirklichen Lebenssituation zu tun hatten. Und die meist sogar zur Selbstvernichtung führen.

Ich möchte hier nicht moralisierend oder "besserwisserisch" argumentieren. Aber in fast jedem Kulturkonflikt-Szenarium spielt der Vorgang der linguistischen "Fälschung" eine entscheidende Rolle. Zumeist professionelle Sprachgestalter (Philologen, Philosophen, Journalisten, Literaten) liefern Texte, in denen Konzepte ethnischer Reinigung oder kulturchauvinistischer bzw. rassistischer Tendenz in ein gedanklich kompaktes System, auf Begriffe oder auch in suggestive Bilder und emotional beladene Mythen transportiert werden.

Diese Texte wirken echt. Und sie stammen doch nur als "Fälscherwerkstätten". Sie entstehen aus Kalkül (oder Verblendung) - man denke an Hitlers "Mein Kampf" - aber sie erzeugen bei ihren Empfängern unter Umstände echte Gefühle: Hass, Aggression, Wut gegen die anderen. Die Folgen sind nicht nur aus der Geschichte schmerzlich bekannt. Um das Eskalieren von Konflikten zu verhindern, ist es deshalb lebensnotwendig, überlebensnotwendig, diese sprachlichen und damit gedanklichen und emotionalen Falsifikate als Falsifikate kenntlich zu machen.

Dies ist weder eine moralische noch eine ethische Forderung, sondern eine strategische, überlebenspraktische. Und die dafür notwendigen Verfahren bestehen weder aus moralischen Appellen noch aus gutgemeinten symbolischen Aktionen. Es handelt sich vor allem um ein Problem der Kommunikation. Es bedarf ausgefeilter, professioneller, effizienter Strategien, um den konfliktgenerierenden Prozess der mentalen Verfälschung qua Sprache mit Sprache zu unterlaufen, mit dem Ziel, die "Lords of Words" zu diskreditieren. Es bedürfte einer präventiven kommunikativen Kampagne, um kritisch zu intervenieren, wann immer Differenz "hergestellt" wird, kulturelle Bruchstellen "definiert" werden.

Auf welche Art könnte eine solche Genocide-Watch-Kampagne intervenieren? Das Internet könnte dabei eine nicht unwesentliche Rolle spielen, denn es geht darum, einen Gegendiskurs auf breiter Basis in Gang zu setzen.

Im bosnischen Krieg wurden öffentliche Gebäude mit chauvinistischen Graffiti beschmiert. Jede Dienststelle, Bushaltestelle, jedes Postamt trug die heroische Losung: "Hier ist Serbien!" Wenige hatten den Mut und die listige Intelligenz, diese verbalen nationalistischen Überhöhungen zu beantworten und auf ihre Unechtheit hinzuweisen. Etwa durch die Antwort: "Idiot, hier ist die Post!". Auch in diesem Falle kam der Protest zu spät, denn wenig später waren die Wand, das Postamt und die Kunden in die Luft gejagt...

Ein zweites Beispiel wurde jüngst von unerwarteter Seite vorgestellt. Es handelt sich um den Kollektionskatalog der Firma Benetton, der sich das israelisch-palästinensische Konfliktfeld als Hintergrund seiner Präsentation wählte, denn:

"Auch in Konfliktsituationen wollen Leute leben, kaufen, verkaufen und sich verlieben. Menschen, die Politik und Religion trennen, bringt das tägliche Leben und der normale Umgang miteinander wieder zusammen. Es gibt ein Land, in dem ganz normale Menschen die ganz alltäglichen Dinge tun, wie zum Beispiel Einkaufen. Dieses Land haben wir gewählt." (L. Benetton)

Wir, das heißt vor allem das Team um Oliviero Toscani, das versuchte, die Kamera den normalen, tagtäglichen, fast banalen Situationen der Beziehungen zwischen Palästinensern und Juden zuzuwenden, um so die einzelnen Menschen hinter den Hüllen der Stereotypen wieder zur Kenntlichkeit zu bringen. Das Ergebnis ist auf unprätentiöse Weise verblüffend. Gemischte Gefühle und ambivalente Wirklichkeiten werden kenntlich, komplexe Bezüge zwischen Zeichen, Bezeichnetem und zuordnendem Regelwerk werden ansatzweise wieder spürbar und diskutierbar.

Eine Ästhetik der Vermischung, eine Poetik der Ambivalenz, aufgebaut "von unten", zusammengesetzt aus Einzelstimmen, individuellen Lebensberichten, kommunikative Kollektoren der individuellen Erfahrung - dies könnten die Bausteine einer überlebensnotwendigen Grammatik der Unverführbarkeit sein. Ein erster Schritt in diese Richtung könnte über ein Internet-Forum auf der Basis dieses Texts gemacht werden. Eine Homepage unter der Adresse ,www.kulturkonflikte.de? ist im Entstehen begriffen. Über Reaktionen per E-mail an ,webmaster@kulturkonflikte.de? würde ich mich freuen.