Von hier bis nirgends
Anna Seghers. Eine Biographie in Bildern
Von Silke Schmitt
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Deutsche, Jüdin, Kommunistin, Schriftstellerin, Frau, Mutter. Jedem dieser Worte denke man nach." Dieses Zitat ihrer Schülerin Christa Wolf begleitet durch den gesamten Bildband, und man lernt die vielen Gesichter der Anna Seghers kennen. Das Leben dieser sinnlichen Frau, mit streng geknotetem Haar und wachen, offenen Augen, wird dem Leser in ungewöhnlicher Art und Weise näher gebracht.
"Noch als ich studierte war ich ein sehr kindliches Wesen, ich war viel kindlicher, als ich hätte meinem Alter nach sein dürfen.". So beschreibt sich die in Mainz geborene Netty Reiling selbst, und anhand der Fotos kann man sie sich gut vorstellen: mit verträumten Blick betrachtet sie in ihrem Studierzimmer die Puppen und Miniaturen auf einer Kommode, ein anderes Bild zeigt sie in einem ostasiatischen Kostüm mit hochgesteckten Haaren und einer fast mystischen Ausstrahlung - Zeichen einer versteckten Kindlichkeit. Man wird entführt in ihr Leben und darf sie ein stückweit begleiten, um mehr von Ihrer Persönlichkeit zu erfahren.
Die drei wichtigsten Stationen ihres Lebens stellen das Raster des Buches bereit: von Mainz in die Hauptstadt Berlin (1900 - 1933), über das Exil in Frankreich und Mexiko (1933 - 1947) bis zur Rückkehr nach Deutschland (1947 - 1983). Aufgefüllt wird es durch Briefe, Erinnerungen, Interviews mit und über Anna Seghers sowie mit Leseproben aus ausgewählten Werken. Dadurch gelingt es den Herausgebern, das facettenreiche Leben dieser Persönlichkeit aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Andererseits wird dem Leser ohne Vorkenntnisse viel abverlangt, wenn fremde Namen ohne Erklärung im Text auftauchen. Die Verbindung zwischen Anna Seghers und diesenPersonen bleibt unklar oder wird erst in anderen Texten aufgelöst.
Die Schwarzweiß-Fotos zeigen viele Stationen aus dem Leben der Anna Seghers. Straßen und Plätze die sie besucht hat, Radierungen von Rembrandt, die sie in ihrer Doktorarbeit untersucht hat, den Umschlag eines Briefes, den ihre Mutter Hedwig Reiling an eine Freundin schickte, die Immatrikulationsbescheinigung und sonstige Dokumente. Dadurch wird der Bildband so persönlich. Ein Foto zeigt den Durchgang vom Kunstgewerbemuseum zum Museum für Ostasiatische Kunst, und der Betrachter kann visuell nachvollziehen, wie Anna Seghers wohl während ihres zweisemestrigen Aufenthaltes in Köln dort entlang geschlendert ist, um an ihren kunstgeschichtlichen Studien im Ostasiatischen Museum zu arbeiten.
Fotos mit ihrem Ehemann Laszlo Radványi, den Kindern Ruth und Pierre, mit Freunden der Familie und Anna Seghers auf Schriftstellerkongressen oder Großveranstaltungen bieten einen konkreteren Einblick in ihre Privatsphäre. Am beeindruckendsten sind jedoch die vielen Potraitaufnahmen: eine äußerst selbstbewusst wirkende, schöne Frau, die ernst, nachdenklich, debattierend oder charmant lächelnd, eine unerklärliche Ausstrahlung besitzt. Der Betrachter kann das fortschreitende Ergrauen ihrer langen, dunklen Haare und die immer faltigeren Wangen beobachten - Fotos, die viel Wärme und Persönlichkeit preisgeben.
Welche Stellung Anna Seghers in Schriftsteller-Kreisen eingenommen, welche Freunde im Exil zu ihr gehalten haben und wie sie auf ihre Umwelt gewirkt hat, wird mit jeder Zeile klarer. Am eindrucksvollsten werden die Jahre im Exil nachgezeichnet, in denen die Radványis oft am Existenzminimum leben mussten. Ihre Flucht vor der Gestapo, die Trennung von ihrem Mann und das Gefühl, nirgends wirklich zu Hause zu sein, wird durch die persönlichen Tagebuchseiten, durch Hilferufe an Freunde, anhand von Texten ihrer Kinder Ruth und Pierre Radványi und durch Menschen, die ihr in dieser Zeit nahe standen, mehr als deutlich:
"Mutterseelenallein: mir schien das ergreifende, urdeutsche Wort auf Anna zugeschnitten; auf ihre Einsamkeit, ihre Unruhe, ihre Ängste, ihr zögern und ihren Entschluß, die Kinder, ihre Kinder einzuholen, sofort, um jeden Preis, und koste es das Leben."
Die enge Beziehung zu ihren Kindern, mit denen sie ganz alleine auf der Flucht war und ihr Bestreben in dieser Zeit, ein halbwegs "normales" Leben zu führen lässt mich Bewunderung aussprechen. So schreibt ihre Tochter 1985: "Vom letzten Geld schickte sie uns zu Beginn des Krieges Schwimmen lernen. Es könnte ja sein, daß wir einmal auf einem Schiff fahren müssten. Der Krieg holte uns ein, unser Vater wurde interniert."
An einer anderen Stelle erzählt sie: "Wir wurden immer zur Schule geschickt. Sogar auf Martinique, der Antilleninsel, fragte sie den Kommandanten unseres Lagers, das sich auf einer Halbinsel befand, ob er uns bei seiner täglichen Fahrt mit dem Motorboot in die Schule mitnehmen würde."
Der oft zitierte Satz von Anna Seghers: "Man sollte einander nicht verlieren in diesen tobsüchtigen Zeiten." erhält durch die Erinnerungen und Bilder eine neue Brisanz. Man bekommt vermittelt, was es heißt, in "tobsüchtigen Zeiten" leben zu müssen.
1947 kehrt die Autorin wieder nach Deutschland zurück und lebt später in Ost-Berlin. Oft wurde ihre zuviel Regime-Treue und Anpassungsvermögen vorgeworfen. Vor allem mit dem Roman "Entscheidung" war harte Kritik verbunden. Reich-Ranicki schreibt 1962: "Ich halte dieses Buch - und habe das damals geschrieben - für ein erschütterndes Dokument der Kapitulation des Intellekts, des Zusammenbruchs eines Talents, der Zerstörung einer Persönlichkeit. Warum sollte man einen Verleger daran hindern, den hiesigen Leuten zu zeigen, was aus Anna Seghers, die einst Meisterwerke deutscher Prosa schrieb, in der DDR geworden ist?"
Wie es mit ihr angefangen und was letztlich aus ihr geworden ist, wird in diesem Bildband aus verschiedenen Perspektiven betrachtet: von denen, die Anna Seghers liebten, die ihr nahe standen und von jenen, die sie hassten.