Vorbemerkung
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVor genau sechzig Jahren starb an der französisch-spanischen Grenze in Port Bou der Schriftsteller und Philosoph Walter Benjamin. Müde von der jahrelangen Flucht vor den Nationalsozialisten und in Verzweiflung über die eigene, ihm ausweglos scheinende Lage nahm er sich mit einer Überdosis Morphium das Leben. Walter Benjamins Tod ist in unserer Erinnerungskultur inzwischen zu einem Sinnbild geworden für das Schicksal des Intellektuellen, der angesichts der Übermacht des Bösen nach langem Kampf zerbrechen muss. "literaturkritik.de" widmet seinen Schwerpunkt im Dezember 2000 dem Autor Walter Benjamin, der ohne Frage zu den einflussreichsten und bedeutendsten Kulturphilosophen des 20. Jahrhunderts gehört. Ohne das Werk des deutsch-jüdischen Schriftstellers hätten die Kulturwissenschaften heute ein anderes Gesicht.
Sicherlich, die hohe Zeit der Benjamin-Rezeption ist vorüber. Zum einen haben sich die politischen Rahmenbedingungen verändert, zum anderen hat sich ein leichter Verdruss eingeschlichen: ein Verdruss an den immergleichen Themen und Motiven, wie sie in hundert und aber hundert Aufsätzen, Abhandlungen, Dissertationen und Monographien zu Walter Benjamin analysiert und traktiert worden sind. Gerade in diesen beiden Aspekten scheint jedoch auch die Chance einer zukünftigen Benjamin-Philologie zu liegen: sich unbelastet von den bisherigen Auseinandersetzungen und Querelen, die die Benjamin-Rezeption stets begleitet haben, unbelastet auch von den Erwartungen derjenigen, für die Benjamin zu einer "linken Ikone" geworden war, dem Werk und der Person Benjamins zu widmen und so einen ungetrübten Blick auf die Stärken, aber auch auf die Schwächen des Autors zu gewinnen.
Wobei freilich zu bedenken bleibt, dass sich gerade die vermeintlichen Schwächen des Autors Benjamin im nachhinein als seine Stärken herausgestellt haben. Zu Lebzeiten hat Walter Benjamin kaum schriftstellerische Wirkung entfalten können, seine Schriften lösten keine öffentlichen Debatten aus, er erhielt als Autor und Kritiker keine breitere Anerkennung. Dafür gibt es mehrere Gründe: Benjamins Produktion war thematisch heterogen und sprachlich nur schwer zugänglich, vor allem aber blieb sie im eigentlichen Sinn fragmentarisch. Seit den 30er Jahren hat Benjamin seine, wie er es nannte, "unendlich verzettelte Produktion" öfters als "Trümmer- und Katastrophenstätte" und seine Projekte als "zerschlagene Bücher" bezeichnet. Dass diese Selbsteinschätzung jedoch nicht nur negativ aufzufassen ist, sondern dass sie ausdrücklich die poetologische und philosophische Methodik Benjamins umschreibt, konnte kürzlich ein weiteres mal Detlev Schöttker in seiner wichtigen Studie "Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins" nachweisen. Klar gegliedert in vier Teile, die sich dem Werk zu Lebzeiten, dem postum hergestellten Werk, dem Fragment und der literarischen Konstruktion sowie der Erinnerung und der historischen Konstruktion widmen, entsteht in Schöttkers Analyse aus der Beschreibung der Benjamin-Rezeption ein Bild seines Denkens und Schreibens. (Seit Jahren wartet man auf den von Detlev Schöttker angekündigten Metzler-Einführungsband zu Benjamin: als eine solide und verständliche Einführung kann auch diese Studie dienen, die aus einer Habilitationsschrift hervorgegangen ist.) Vor allem aber kann Schöttker zeigen, dass das Trümmerhafte, Verzettelte und Zerschlagene, von dem er seit Anfang der dreißiger Jahre sprach, um den Zustand seines Werks zu charakterisieren, nicht nur eine Metapher für das fragmentarische Prinzip seiner Schriften, sondern auch das Fundament ihrer anhaltenden Wirksamkeit gewesen ist.
Einen detaillierten Überblick über diese Wirkung kann man sich nun in den drei Bänden des "global benjamin" verschaffen, einer zweitausendseitigen Kongressdokumentation, die eine Art Kompendium der bisherigen Forschung bereitstellt. Das monumentale Werk ist im vorliegenden "literaturkritik.de"-Schwerpunkt ebenso rezensiert wie die beiden Bände mit dem Titel "Benjamins Begriffe", die erfolgreich den Versuch unternehmen, Benjamins geistige Physiognomie über eine Analyse seiner zentralen "Begriffe" zu erschließen. Im Abschnitt "Benjamins Grundlagen" findet sich zudem die Rezension des nun als Taschenbuch neu aufgelegten Klassikers der angelsächsischen Benjamin-Rezeption, Susan Buck-Morss' "Dialektik des Sehens".
"Benjamin im Kontext" widmet sich darauf hin jenen neueren Veröffentlichungen, die die Beziehungen Benjamins zu seinen Zeitgenossen analysieren. Ein exzellentes Beispiel dafür, wie produktive "Einflussforschung" heute aussehen kann, bietet Astrid Deuber-Mankowskys Studie "Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen". Einen ganz eigenen Weg schlägt wiederum Willem van Reijen ein, der mit seinem Buch "Der Schwarzwald und Paris. Heidegger und Benjamin" zugleich seine eigene "Forschungsgeschichte" schreibt. Benjamins "Mnemographie" be-schreibt hingegen Nicolas Pethes und leistet damit einen äußerst wichtigen Beitrag zur gegenwärtigen Debatte um die Krise des Erinnerns in der modernen Kultur und Ästhetik. Die Rezension zu Pethes' Buch findet sich, ebenso wie diejenige zu Thomas Schwarz Wentzers Studie über Benjamins "messianische Hermeneutik", im Abschnitt "Erinnerung und Geschichte".
"Benjamin brieflich" beschäftigt sich mit Neuerscheinungen zum Briefwerk Walter Benjamins. Vor allem gilt es hier auf den Abschluss der sechsbändigen Briefausgabe Benjamins aufmerksam zu machen, deren letzten drei Bände, die die Jahre von 1930 bis 1940 abdecken, einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Gehaltreich zeigen sich ferner die Briefe Margarete Steffins an Benjamin, die seit kurzem in einer von Stefan Hauck besorgten Ausgabe vorliegen. Zum Briefwerk Benjamins zählt im weiteren Sinne auch die Edition "was noch begraben lag", die zahlreiche unveröffentlichte Briefe an Benjamin enthält, sowie Dokumente und Berichte, die sich mit seinem Exil befassen. Diese Edition wird unter der Rubrik "Von Mitarbeitern" vorgestellt. Zur Biographie Benjamins könnte man wohl auch den multiperspektivischen Walter-Benjamin-Roman "Dunkle Passagen" von Jay Parini zählen. Denn Parinis 450 Seiten starker belletristischer Versuch basiert zum größten Teil auf dem Briefwerk Benjamins. Der Streit um die deutsche Übersetzung von Parinis Buch, dessen Auslieferung über Monate hinweg unterbunden worden war, beschäftigte die Presse in der ersten Hälfte dieses Jahres ausgiebig. Durften Zitat und Erfindung miteinander vermischt werden, das war die Frage, die die Rechteverwalter auf der einen und die deutschen Verleger von Parinis Buch auf der anderen Seite auszuhandeln versuchten. Grundsätzlich wird es dabei jedoch auch um die uneingestandene Frage gegangen sein: durfte man so mit Benjamin und seinem Werk umgehen.
Wer sich freiwillig dem ständigen Vergleich mit der Prosa Walter Benjamins aussetzt - und das muss der Autor eines biografischen Schriftstellerromans zwangsläufig - braucht einiges Selbstbewusstsein. Jay Parini allerdings ist Amerikaner und hat die katastrophalen stilistischen Brüche, die auf jeder Seite seines Werks entstehen, wohl nicht empfunden. Ja im englischen Original mit seinen englischsprachigen Benjamin-Zitaten entstehen diese Brüche gar nicht. Das heißt: selbst wenn das Original als Roman funktioniert hat, die Übersetzung bzw. Rückübersetzung funktioniert nicht. Aber hat das Original als Roman funktioniert? Für diejenigen, die den Autor Benjamin kennen und vielleicht gar schätzen, ist das mit erotischen Szenen überladene Buch - abgesehen von einigen gelungenen und sogar schönen Passagen - schlichtweg eine Qual: dümmlich, kitschig und naiv.
Der Schwerpunkt lädt jedoch nicht zu einer Auseinandersetzung mit diesem Buch, sondern mit Walter Benjamins Denken und Schreiben als solchem ein: mit einem Denken, das nach wie vor zu dem intellektuell anregendsten gehört, was die Weimarer Republik hervorgebracht hat, mit einer stilistischen und poetischen Dichte, die Benjamin zu einem der großen Autoren des vergangenen Jahrhunderts macht.
Geret Luhr
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