Exil in Fernost

Ein Sammelband zur jüdischen Emigration in Shanghai 1938-1947

Von Patrik von zur MühlenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrik von zur Mühlen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Shanghai gehörte wahrscheinlich zu den exotischsten und fremdartigsten Fluchtorten, in die es Flüchtlinge aus dem Dritten Reich verschlug. Die Stadt, die unter internationaler bzw. französischer Verwaltung stand und während des Krieges von Japanern besetzt wurde, war dabei ein eher unfreiwilliges Refugium, in das die überwiegend jüdischen Emigranten aus Deutschland, Österreich und anderen Ländern nur deswegen flohen, weil andere mögliche Zufluchtsländer weitgehend versperrt waren. Diese Rolle von Shanghai ist wiederholt untersucht und erforscht worden. Dennoch gibt es immer wieder neue Quellenfunde, durch die überraschende Details zutage gefördert werden. Der infolge zahlreicher Barrieren schwierige Zugang zum Thema erfordert einen hohen Arbeitsaufwand und überdies die Zusammenarbeit von Forschern unterschiedlicher Herkunft und Ausbildung. Dokumente in chinesischer und/oder japanischer Schrift und Sprache sind nun einmal nur wenigen europäischen Forschern vertraut. Trotz der inzwischen umfangreichen Literatur über Shanghai bringt der geplante Sammelband in vierzehn Aufsätzen eine Reihe neuer Themen zur Sprache, die von der Forschung bisher vernachlässigt oder übersehen wurden. In starkem Maße werden hierbei die politischen und sozialen Lebensbedingungen, die interethnischen Beziehungen zwischen meist deutsch-jüdischen Emigranten und anderen Bevölkerungsgruppen in Shanghai sowie die Präsenz des Deutschen Reiches in Ostasien thematisiert. Dabei greift der Band in einzelnen Aufsätzen weit in die Geschichte der Stadt zurück, legt seinen Schwerpunkt jedoch auf Shanghai als Fluchtziel solcher bedrohter jüdischer Flüchtlinge, denen seit 1938 andere Fluchtorte nicht mehr zur Verfügung standen.

Neben einführenden oder das Thema in einen breiten Kontext einordnenden Artikeln (Steve Hochstadt, David Kranzler, Christiane Hoss) behandeln drei Beiträge die interethnischen Beziehungen zwischen den meist mitteleuropäischen Flüchtlingen und anderen Volksgruppen - den alteingesessenen jüdischen Gemeinden überwiegend orientalischer Herkunft (Barbara Geldermann), der einheimischen chinesischen Bevölkerung (Pan Guang) und den alteingesessenen deutschen Juden (Astrid Freyeisen). Ein Artikel befasst sich mit Geschlechterbeziehungen im Shanghaier Exil (Helga Embacher/Margit Reiter), ein anderer mit kulturellen Aktivitäten der Emigranten (Michael Philipp), ein weiterer mit der Rück- und Weiterwanderung nach 1945 (Georg Armbrüster) und - thematisch etwas deplaciert, aber gleichwohl von Interesse - ein vierter mit den Konsequenzen der NS-Rassenpolitik für deutsch-chinesische "Mischehen" und Partnerschaften in Deutschland (Dagmar Yü-Dembski). Die restlichen Beiträge behandeln die Rolle Japans und des Dritten Reiches in Ostasien und die Auswirkungen auf die Lage der Shanghai-Emigranten. Hierzu gehören Artikel über die Ausbürgerung der Emigranten (Christiane Hoss), über Antisemitismus und Judenpolitik der Japaner (Gerhard Krebs), über die NS-Zeitschrift "Der Ostasiatische Beobachter" 1933-1940 (Christian Taaks) und die Rolle des Korrespondenten (und später berühmt gewordenen Publizisten) Klaus Mehnert in Shanghai und seine dort herausgegebene Zeitschrift "The XXth Century" (Michael Kohlstruck).

Mit Ausnahme des einleitenden Essays von David Kranzler tragen die Aufsätze wissenschaftlichen Charakter, stützen sich auf neuere Forschungen und beruhen großenteils auf sorgfältiger Quellenarbeit. Neuartig ist der dokumentarische Anhang, der dem geplanten Buch als CD-ROM beigefügt ist. Darunter befindet sich eine amtliche japanische Namensliste vom August 1944 in englischer Sprache mit den Namen von fast 14.800 Shanghai-Emigranten, die aufgrund der relativ genauen Personenangaben umfassende statistische und soziologische Nachforschungen ermöglicht. Den gleichen Zweck erfüllt eine von der in Shanghai tätigen jüdischen Hilfsorganisation SACRA 1943 erstellte Statistik. Eine Ergänzung dazu liefert der gleichfalls auf der CD-ROM enthaltene Bericht des deutschen Generalkonsulats von 1940 über die Shanghai-Flüchtlinge.

Die meisten Shanghai-Emigranten verstanden sich als "rassisch" Verfolgte, die infolge ihrer bitteren Erfahrungen mit ihrer früheren Heimat weitgehend gebrochen hatten und somit Fragen der politischen und sozialen Verfassung, einer Reform von Verwaltung und Gerichtsbarkeit, Presse und Schulwesen sowie der politischen Kultur der Herkunftsländer mit wenigen Ausnahmen kein Interesse entgegenbrachten. Dennoch wird an vielen Details erkennbar, wie stark sie ihrer alten Heimat verhaftet waren und ihre mitteleuropäische Sozialisation in die Emigration mitnahmen. Wie sehr sie allerdings in Ostasien mit den Verhältnissen, denen sie hatten entfliehen wollen, erneut konfrontiert wurden, machte die Berührung mit nationalsozialistischen Auslandsaktivitäten bzw. die leidvolle Erfahrung mit der japanischen Besatzungsmacht deutlich. Mehr als diese teilweise schon in früheren Forschungen untersuchten Fragen fesseln die Aufsätze über "Rand- und Nebenthemen", die hier erstmals behandelt werden. Ein insgesamt lohnendes Buch.

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Georg Armbrüster / Michael Kohlstruck / Sonja Mühlberger (Hg.): Exil Shanghai. Jüdisches Leben in der Emigration 1938-1947. Mit CD-Rom.
Hentrich & Hentrich Verlag, Teetz 2000.
272 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3933471192

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