Rekonstruktionen der zeitgenössischen Wahrnehmung

Texte und Kommentare zur nichtfaschistischen Literatur im Dritten Reich

Von Lutz WincklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Winckler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die innerdeutsche nichtfaschistische Literatur sah sich lange Zeit dem Vergleich mit der deutschen Exilliteratur ausgesetzt. Wie wenig sie dem selbstgewollten Anspruch einer "inneren Emigration" entsprach, haben zuletzt die Untersuchungen von Ralf Schnell (1998) gezeigt. Der unmögliche Vergleich führte die Forschung zugleich in einen Engpass, aus dem die Autoren des vorliegenden Werks die Literatur, ihre Leser und Erforscher hinausführen möchten. Der Titel "Zwischenreiche und Gegenwelten" verzichtet auf die legitimatorische Formel von der "inneren Emigration" und setzt, im Anschluss an Benjamins Wort von der "Zweideutigkeit", auf die Darstellung der Widersprüchlichkeit der in Deutschland veröffentlichten Texte, auf die Brüche in der Biografie der Autoren, ihre Nähe und Distanz zum Nationalsozialismus. Sie waren, wie Ernst Jünger und Gottfried Benn, seine intellektuellen Helfer, die später mit ihm brachen, sich zurückzogen oder sich, wie Ernst Wiechert, Reinhold Schneider, Fritz Reck-Mallesczewen, dem Widerstand anschlossen. Distanz, Rückzug und Verfolgung schlossen große Publikumserfolge nicht aus: Die Romane Wiecherts und Ernst Jüngers erzielten noch in den 40er Jahren hohe Auflagen.

Dieser "Zweideutigkeit" versuchen die Autoren in ihren Analysen auf die Spur zu kommen. Sie gehen dabei aus von dem zeitgenössischen Begriff der "verdeckten Schreibweise" und entwickeln ein text- und rezeptionsästhetisches Interpretationsmodell, mit dessen Hilfe sie das oppositionelle Potential der literarischen Kommunikation zu entschlüsseln versuchen. An die Stelle ideologiekritischer Dekonstruktion tritt die Rekonstruktion der Texte innerhalb des zeitgeschichtlichen Erfahrungshorizonts. Die Autoren verfahren dabei methodisch so, dass der Leser in die Interpretation einbezogen ist. Jeder Autor ist mit einem exemplarischen Text vertreten, auf den ein historisch-kritischer Kommentar folgt: Dieser Kommentar enthält Selbstaussagen des Autors zum Text (Tagebücher, Briefwechsel mit Zeitgenossen) sowie eine extensive Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Rezeption in Zeitschriften und Presseorganen, der Reaktionen parteiamtlicher Kontrollorgane, in einigen Fällen auch Berichte von Gestapoagenten. Der kommunikationssoziologische Kommentar flankiert die rhetorische Textanalyse: er bestätigt sie, verweist aber auch auf Widersprüche und Zweideutigkeiten. Die ausgewählten Dokumente umfassen poetische wie essayistische Texte, Reiseliteratur, biografische Skizzen, Kurzprosa, Roman, Drama, Witz und Satire. Neben den exemplarischen Analysen (Rudolf Pechels Aufsatz "Sibirien" [1937], Herbert Küsels "Dietrich Eckart"-Artikel in der "Frankfurter Zeitung" [1943]) sind die vorzüglichen rezeptionsgeschichtlichen Kommentare zu Ernst Jüngers "Marmorklippen", zu Reinhold Schneiders Novelle "Las Casas vor Karl V.", Gerhard Nebels Essay "Auf dem Fliegerhorst" (1941) zu nennen. Ein für die Rhetorik der "verdeckten Schreibweise" zentraler Text, Dolf Sternbergers "Figuren der Fabel" (1941), wird dem Leser zugänglich gemacht. Erstaunliche Entdeckungen sind zu machen: so Carl Linferts Essay über Max Beckmann (1935), Hans Gerths verdeckte Hommage an Sigmund Freud (1936), Werner Fincks Satire "Das Fragment vom Schneider" (1935) - und nicht zu vergessen: der Auszug aus dem von Werner Krauss im Gefängnis geschriebenen großen satirischen Roman "PLN. Die Passionen der halkyonischen Seele".

Es ist ein sehr gelehrtes und zugleich leserfreundliches Buch, mit dem die Autoren eine Bilanz langjähriger Forschungen und Studien vorlegen. Auch wenn man ihnen nicht in allen Einzelheiten des Kommentars wird folgen können (so erscheint das Vertrauen in die nach 1945 erschienenen autobiografischen Kommentare Beteiligter bisweilen allzu ungebrochen), so ist der methodische Neuansatz überzeugend. Mit ihrem bedeutenden Buch haben die Autoren für die Literaturwissenschaft nachvollzogen, was die Historiografie zur politischen Widerstandsforschung bereits geleistet hat: den Nachweis von Zwischenreichen und Gegenwelten, die gleich weit entfernt sind vom Antifaschismus des Exils und vom innerdeutschen Faschismus.

Titelbild

Erwin Rotermund / Heidrun Rotermund-Ehrke: Zwischenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur "Verdeckten Schreibweise" im Dritten Reich.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
626 Seiten, 75,70 EUR.
ISBN-10: 3770533879

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