Der vermaledeite Grabbe

Jörg Aufenanger über einen extremen Charakter sowie eine Anthologie zum 200. Geburtstag des Dichters

Von Christian HeuerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Heuer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor zweihundert Jahren, am 11. Dezember 1801, wurde Christian Dietrich Grabbe als Sohn des Zuchthausmeisters Adolf Henrich Grabbe und seiner Frau Dorothea in Detmold geboren. Am 12. September 1836 stirbt er daselbst; zwischen Geburts- und Sterbeort liegen, wie sein Biograph Jörg Aufenanger vermerkt, 186 Schritte: wenig Raumgewinn für einen Menschen, der nach eigenem Bekunden das Theater revolutionieren wollte, zweimal dafür in die Welt auszog, nach Leipzig, Berlin Frankfurt und Düsseldorf, der zweimal zurückkehrte, sich als Militärrichter bürgerlich etablieren wollte, eine Frau heiratete, bei der Hochzeit angeblich ausrief: "So, da haben wir nun das Unglück!", unglücklich über sich selbst und seine Mitmenschen, alkoholkrank. Alle Menschen, die ihn unterstützen wollten, seine Eltern, Ludwig Tieck, den Verleger Kettembeil, den Theaterdirektor und Dichter Karl Immermann, umwarb er erst mit Versprechungen, Lügen und tiefer Selbsterniedrigung, um sie dann vor den Kopf zu stoßen. Zwischenzeitlich wurden seine Dramen von der literarischen Öffentlichkeit sehr zwiespältig zur Kenntnis genommen, nur ein Stück, "Don Juan und Faust", wird in Detmold aufgeführt. Sein Œuvre polarisierte, in seiner Heimatstadt wurde er am Ende seines Lebens nur noch verhöhnt, wenn er seine künstlerischen Produkte in den Gasthäusern deklamierte. Nach seinem Tod wurden überall positive Nekrologe verfasst und wird die Einzigartigkeit seiner Texte gewürdigt, diese bald aber wieder vergessen und jeweils phasenweise von Naturalismus, Expressionismus und Nationalsozialismus wieder aufgegriffen, wobei diese letzte Renaissance ihn für einige Zeit diskreditierte und kritische Stimmen zu Leben und Werk evozierte. Schließlich wurde durch die großartige Arbeit Alfred Bergmanns der Autor Grabbe in einer Gesamtausgabe zugänglich gemacht, und auch die Germanistik rehabilitierte und kanonisierte ihn durch diverse Symposien und eine Grabbe-Gesellschaft mit eigenem Publikationsorgan. Ein Leben, wie geschaffen für eine Biographie, die alle Höhen und Tiefen einer Künstlerexistenz durchschreiten möchte. Mitten in diesem Leben stehen die Texte. Selbst bei einer oberflächlichen Musterung fällt eine zwiespältige Haltung auf: auf der Haben-Seite stehen der "Napoleon", "Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung", "Hannibal", und da fängt das Rätselhafte seines Schaffens schon an, sind noch "Herzog Theodor von Gothland" und "Heinrich VI." bemerkenswert; der Abhandlung "Über die Shakespearo-Manie" bescheinigt man einige interessante Gedanken; vor anderen Texten wie etwa "Nanette und Maria", "Friedrich Barbarossa" und "Aschenbrödel" sowie seinen literaturkritischen Texten steht man ratlos. In "Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung" tritt er selber zum Schluss auf, und der Schulmeister schlägt ihm die Tür vor der Nase zu mit den Worten: "Das ist der vermaledeite Grabbe, oder wie man ihn eigentlich nennen sollte, die zwergigte Krabbe, der Verfasser dieses Stücks! Er ist so dumm wie`n Kuhfuß, schimpft auf alle Schriftsteller und taugt selber nichts, hat verrenkte Beine, schielende Augen und ein fades Affengesicht".

Grabbe spaltet, sich selbst und die Nachwelt. Seine Selbstwahrnehmung schwankte zwischen Größenwahn und unglaublicher Selbsterniedrigung, zwei Charakterzüge, die Jörg Aufenanger in seiner Biographie "Das Lachen der Verzweiflung. Grabbe. Ein Leben" als konstitutiv für diese extreme Person mit ihren extremen Verhaltensweisen ansieht. Bereits im Erstling "Herzog Theodor von Gothland" sieht Aufenanger die Konsequenz dieser Zerrissenheit für seine Ästhetik, jene "Kälte der gottlosen Ferne, Zeit ohne Ziel und Zweck, Grausen vor dem Menschen, Sinnlosigkeit der Geschichte". Und schon der "Gothland" steht außerhalb seiner Zeit, ist die Exposition für ein autonomes Dichtungsverständnis, das in Sujets und formaler Gestaltung auf eine kommende Zeit verweist, ohne selbst sich dieser Zukunftsträchtigkeit bewusst zu sein, worin Aufenanger den Ausgangspunkt seiner Biographie sieht: "Das Phänomen, warum der eine ahnt, was den Menschen und einem selbst bevorsteht, und der andere nicht, wird nie zu erklären sein, so auch bei Grabbe nicht. Diese Unbegreiflichkeit muß man zum Standpunkt machen, wenn man Menschen und ihre Kunst betrachten will - und besonders die Grabbes".

Aufenangers Verständnis davon, wie Grabbe zu sich selbst gekommen ist, strukturiert seine Biographie. In den Passagen zu "Gothland" und "Napoleon" läuft er zur Höchstform auf, würdigt das dramatische Innovationspotential und das geschichtsphilosophische wie existentielle Substrat der Gewalttätigkeit und letztlichen Hoffnungslosigkeit im Handeln der Dramatis Personae, Werke wie der "Barbarossa", die sich einer Idee verpflichtet wissen, die Grabbe eigentlich wesensfremd sei, werden hingegen als gescheiterte Anpassungsversuche beurteilt. Im übrigen bleibt er Chronist, wenn auch mit souveräner Darstellung. Die Anteilnahme am Schicksal Grabbes artikuliert sich in einem "Entweder-einfachen-Hauptsatz-oder-adjektivreiche-Aufzählung-Pathos"; gesucht wird die knappe Charakteristik: Das Holzschnittartige, ja, teilweise fast Schablonenhafte wird besonders deutlich in dem Kontrast zwischen Grabbe und Heine, die in der Berliner Boheme aufeinandertrafen: "Hier ist in gleicher Zeit Ungleichzeitiges entstanden, hier ist der eine in seiner Zeit, der andere seiner Zeit voraus, der eine maßvoll, der andere maßlos, hier hat der eine Erfolg, der andere nicht". Ebenso fungiert der alte, saturierte Dresdner Theaterintendant Ludwig Tieck als Exponent der vergangenen Epoche biedermeierlicher Behaglichkeit, der Grabbe sich verweigert und die bald überholt werden wird.

In diesem Lichte erscheint Grabbe in seinem literarischen Schaffen als Getriebener: "Etwas lebt in Grabbe, das stärker ist als er selbst und als jeder Retter. An seinem Grund lebt die Verzweiflung, eine Krankheit, die ihn zum Tode führt, die nur zeitweise nicht nach außen getreten ist, wenn die Poesie sie überlistet hat". Für Aufenanger steht er mit dieser ,Krankheit zum Tode' in einer Genealogie mit Büchner, natürlich Kierkegaard, Giacomo Leopardi, Nikolaus Lenau, Nerval und Baudelaire. ,Etwas' schreibt in Grabbe - und damit wird hier nicht nur eine Biographie geschrieben, sondern auch die Ikonographie des Künstlers als am Leben Scheiternden betrieben. Es wirkt des Biographen Mitgefühl. Aufenanger führt mit seiner Lebensbeschreibung einen Rezeptionsstrang fort, ohne das Leben Grabbes in seiner Widersprüchlichkeit letztlich plausibel zu machen. Dass Grabbe voll Hass war, wird wohl wahrgenommen, aber nur, wenn der sich gegen vermeintlich richtige Ziele richtete (wie etwa die angebliche künstlerische Stagnation des Biedermeier-Zeitalters), wird er historisch verortet. Der Antisemitismus etwa, der sich z. B. gegen Heine richtete, wird nur gestreift. Die Asozialität Grabbes wird fast monokausal aus dem Zusammenhang von schwieriger Jugend in Detmold und einem daraus resultierenden Solipsismus erklärt, der sich in der Larve künstlerischer Einzigartigkeit verbergen wollte. Hier ist der Autor wohl einer Verschleierung Grabbes aufgesessen, der in seinem ersten Brief an Tieck schrieb, sein Leben sei seit dem 17. Lebensjahr durch alle Tiefen gegangen. Skepsis ist bei allen Selbsteinschätzungen, die Grabbe an andere mitteilte, angebracht, wie Ladislaub Löb in seinem lesenswerten Metzler-Bändchen für Erkundungsreisen in die Biographie Grabbes empfiehlt.

Einen anderen Zugang zum problematischen Dichter wählt der Göttinger Satzwerk Verlag mit einer Anthologie von Selbstzeugnissen, zeitgenössischen Urteilen und Rezeptionszeugnissen. In seinem knappen, aber informativen Nachwort erläutert der Herausgeber Thomas Schafer, warum eben nicht die geschlossene Form der Biographie gewählt wurde: "Bar jeden Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit und Vollständigkeit will das vorliegende Buch zu einer Neu- und Wiederlektüre Grabbes einladen, ein buntes Mosaik, das Klischees und Dokumente, Selbst- und Fremdzeugnisse, seriöse und stilisierende Grabbebilder nebeneinander stellt. Und bewußt auf die Klärung der Frage, wer Grabbe den nun war, verzichtet, dabei so subjektiv vorgehend, wie Grabbe selbst, wie seine Rezipienten; allenfalls einer Richtung folgend - einer grundlegenden Faszination und Sympathie, nicht zuletzt für den geistreichen, komischen Autor". Das kann natürlich abschließend auch nicht befriedigen: die Auswahl lässt, wie jeder Versuch dieser Art, natürlich einiges vermissen, so z. B. Ludwig Tiecks sehr ausgewogene Reaktion auf "Herzog Theodor von Gothland", und sie steuert wenig Neues bei, was nicht schon von Alfred Bergmann oder Beiträgern des Grabbe-Jahrbuchs publiziert wurde, wie beispielsweise die Aufnahme Grabbes durch den Expressionismus (Hanns Johst, Brecht), durch die Nationalsozialisten und die DDR-Rezeption, für die Namen wie Volker Braun und Wulf Kirsten stehen. Die wenig bekannten Texte von Ludwig Fels ("Grabbes Erzählung") und Jörg Fauser ("Cafe Grabbe") allerdings werfen einige bezeichnende Schlaglichter auf die Bedeutung Grabbes für noch virulente Identifikationsmuster in der (west-)deutschen Literatur der achtziger und neunziger Jahre. Und auch der Originalbeitrag von Jürgen Roth ("Die zwergigte Riesenkrabbe", wie er in Anlehnung an die Formulierung in "Scherz, Satire, Ironie..." übertitelt ist) schreibt die Wirkungsgeschichte fort, indem er den schmalen Grat zwischen Scheitern und großer Dichtung im Werk Grabbes akzentuiert: "Vieles an Grabbe ist krumm, grotesk formlos, wuchernd, wabernd und ächzend. Punktuell aber glitzert es, glimmt es, grollt oder gluckert der Text, entfaltet er prachtvolle Verschrobenheit und zarte Empathie. Grabbe war ein Zeilendichter" und: "Grabbe hat einiges geahnt, ausgesprochen, zuviel dessen, war er artikulierte, verschüttet und vergraben. Er spürte es - in ironischer Wendung, einer Volte, die das reale Drama am ehesten ertragen hilft". Also bei allen Abstrichen im Detail: Die Anthologie kommt Grabbes Camouflage, der bewussten Stilisierung und seiner Lügenhaftigkeit im Umgang mit Menschen ebenso nahe wie dem überaus rätselhaften Phänomen der Verdammung, Vereinnahmung und Identifizierung in der Nachwelt, durch so unterschiedliche Figuren - man scheut sich fast, es zu schreiben - wie Goebbels und Jörg Fauser. Ein schöner gestalterischer Einfall des Herausgebers ist es, den einzelnen Abschnitten der Sammlung die kleinen Kritzeleien Grabbes voranzustellen, die in ihrer grotesken Eigenwilligkeit Zugang bieten zum Charakter dieses "bizarren" Menschen, wie Biographen seines Jahrhunderts ihn oft nannten.

Da vor einigen Monaten endlich auch die "Humorkritik" der Satirezeitschrift "Titanic" das komische Potential des Dichters aus Detmold wahrnahm und auf seine Ausfälle gegen schlechtes Theater, andere Nationen und Randgruppen aufmerksam machte, wird vielleicht auch der Polemiker Grabbe in seiner Ambivalenz von sehr witziger Treffsicherheit und erbärmlichem Hass neu betrachtet werden. Schaefers Anthologie serviert mit einigen Splittern aus den Theaterkritiken und Invektiven gegen Goethe und Co. Einen "Appetizer", für alles weitere sei der Blick in Bergmanns Gesamtausgabe empfohlen; dort kann jeder für sich selbst ersehen, wie nahe Glanz und Elend des Dichters Christian Dietrich Grabbe beisammen liegen.

Für Heutige und die Ewiggestrigen liegt bei allen ästhetischen Revitalisierungs- und Ehrenrettungsversuchen in der Existenz Grabbes eine Pikanterie: Grabbe war ein Unsympath und ein Provokateur, dem jene Eleganz und Geschmeidigkeit und jener Durchschnittshumor abging, der heutzutage junge Autoren sogar in der "Harald Schmidt Show" stranden lässßt. Und so trifft für ihn wohl jenes Diktum zu, dass Thomas Kling für einen leider vergessenen, jung verstorbenen Dichter der ,Wendezeit', Matthias Baader Holst, fand: "Machen wir uns nichts vor, er hätte auch heute keine Chance gehabt". Grabbe wohl auch nicht, und er hätte als subjektiver, unfairer und beleidigungswütiger Kritiker des Kulturbetriebs andere Worte für eine solche vermeintliche Ungerechtigkeit gefunden. Seinen Platz in der Literaturgeschichte hat er, gerade genug Inszenierungen aus Pietät auch, aber einem Dramatiker, der aus einer unbedingten inneren Radikalität heraus schrieb, kann schwerlich etwas Schlimmeres widerfahren.

Titelbild

Christian Dietrich Grabbe: Das Grabbe Lesebuch.
Herausgegeben von Thomas Schaefer.
Satzwerk Verlag, Göttingen 2001.
200 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3930333384

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Titelbild

Jörg Aufenanger: Das Lachen der Verzweiflung. Grabbe. Ein Leben.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
288 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3100001206

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